Sinnabschnitte - was sind das?
Der Begriff ▪
Sinnabschnitte
ist - zumindest in der Schule - weit verbreitet. Dennoch: Was
darunter genau zu verstehen ist, lässt sich nicht einfach
definieren. Schließlich sind alle Sinnzuschreibungen aktive mentale
Konstruktionsakte des jeweiligen Rezipienten. Was einem Leser oder
einer Leserin also "Sinn" macht, weil er/sie den Text unter einem
bestimmten Aspekt verstehen kann, ist also keine objektive
Texteigenschaft, die quasi in die Buchstaben eines Textes
eingeschrieben ist.
Hier
verwenden wir den Begriff als Konzept für eine ▪ Organisationsstrategie
zur Herstellung eines vertieften Textverständnisses und
nehmen dabei begriffliche Unschärfen des Begriffs aus pragmatischen
und didaktischen Gründen in Kauf.
Zur Bildung von Sinnabschnitten greift man diesem Verständnis
nach auf ▪
Oberflächenstrukturen eines Textes zurück, die auf einem
Bedeutungszusammenhang ihrer Textelemente (▪
Kohärenz) beruhen. Dabei wird davon ausgegangen,
dass ein Leser/eine Leserin in einem bestimmten Segment bzw.
Abschnitt eines Textes eine plausible und nachvollziehbare
Sinnkontinuität zwischen den Textelementen herstellen kann.
Was Sinnabschnitte ausmacht, hängt dabei natürlich auch von der
Textsorte ab. Wie sie zu einem
Sachtext (auch:
pragmatischer Text,
Gebrauchstext,
expositorischer Text,
nichtfiktionaler Text)
gebildet werden, unterscheidet sich von der Art und Weise, wie dies
bei einem
literarischen Text (auch:
fiktionaler Text) der Fall ist. Dabei ist es nicht das
prinzipielle Verfahren, eine nachvollziehbare Sinnkontinuität von
Textelementen in bestimmten Textsegmenten darzustellen, was den
Unterschied ausmacht, sondern die Kriterien, die einem helfen
können, bestimmte Sinnabschnitte zu bilden.
- In
fiktionalen Texten ( z. B. in
erzählenden oder
dramatischen Texten) können Ortswechsel und Zeitsprünge, die
Einführung neuer Figuren, der Wechsel von
Figurenkonstellationen, Innen- oder Außenperspektive,
Vorgeschichte oder das Einsetzen einer neuen Handlung usw. unter
Umständen als Kriterien für die Bildung von Sinnabschnitten
herangezogen werden. Diese lassen sich ggf. als Textgliederung
darstellen.
Ein Beispiel dafür ist die Gliederung nach Sinnabschnitten,
die wir für die ▪
Kurzgeschichte ▪ "Nachts
schlafen die Ratten doch" von ▪
Wolfgang
Borchert wie folgt vorgenommen haben.

So kann man bei der Annotation vorgehen
Um Sinnabschnitte zu bilden, kennzeichnet man in einem
speziellen Lektüredurchgang zunächst einmal jene einander folgenden
Abschnitte, nicht unbedingt einzelne Absätze (!), die der eigenen
Auffassung nach inhaltlich und
thematisch zusammengehören.
Dies kann auf unterschiedliche Art und Weise
geschehen. Man kann z. B.
-
den Beginn und
das Ende eines Sinnabschnittes im Text selbst mit eckigen
Klammern markieren, z. B. [ ... ]
-
am Seitenrand eine Markierung, z. B. jeweils einen Querstrich
vornehmen
Diese vorläufige Einteilung in Sinnabschnitte sollte nicht zu kleinschrittig
vorgenommen werden. In der Regel handelt es sich um größere Texteinheiten.
In einem nächsten Schritt kann dann, z. B. mit Fragen an den Text,
überprüft werden, ob diese vorläufigen Eindrücke zur Bildung von
Sinnabschnitten genügen oder nicht.
Fragen an den Text stellen
Ein gängiges Hilfsmittel ist dabei das Stellen von Fragen an den
Text (▪
Fragenmethode,
▪
W-Fragen-Methode.
Dazu werden geeignete Fragen an den Text gestellt und geklärt, ob
der Text als Ganzes oder in bestimmten seiner Passagen darauf
antwortet. Wenn ja, könnte dies ein Hinweis dafür sein, die zur
Beantwortung der Frage gehörigen Textelemente als einen
Sinnabschnitt aufzufassen.
Aber Vorsicht!
Nicht jeder Text "glänzt" mit seinen klaren inhaltlichen
Strukturen. Und, wenn es schon in einem Text munter drunter und drüber
geht, ist es auch schwer, Sinnabschnitte zu erkennen und diese in
gegliederter Form darzustellen. Manchmal muss man eben auch über den ganzen
Text hinweg sammeln, um das unter einem Sinnabschnitt zusammenzubringen,
was eigentlich inhaltlich zusammengehört.
Sinnabschnitte können mit den im Text vorhandenen Absätzen
übereinstimmen oder nicht
Da es sich bei der Bildung von Sinnabschnitten um einen
konstruktiven Akt des Lesers/der Leserin eine Textes handelt, müssen
die gebildeten Sinnabschnitte nicht zwangsläufig mit der
Absatzgliederung des Primärtextes übereinstimmen. Allerdings sind
dies - wie natürlich auch Zwischentitel oder Zwischenüberschriften -
Textstrukturen, an denen man sich orientierten kann. Der Absatzgestaltung in einem Text kann
natürlich ein inhaltlicher Ordnungsgedanke zugrunde liegen, aber nicht
selten spielen dabei auch einfach Textgestaltungselemente
(Layout-Gesichtspunkte) eine Rolle. In jedem Fall sollte man prüfen, ob
sich die
in einem Text vorgenommene Absatzgliederung für die Gliederung des Textes in
Sinnabschnitte eignet.
Aspekte der Schreibaufgabe
Die Bildung von ▪
Sinnabschnitten stellt eine komplexe Schreibaufgabe
dar, die auf kognitiven
Transformationsprozessen im Umgang mit dem Primärtext beruhen.
Sie basiert dabei auf der ▪ Annotation
des Textes mit Markierungen, Hervorhebungen und/oder
Unterstreichungen, die meistens auf selbst generierten oder
durch Vorgaben festgelegten ▪
Relevanzentscheidungen beruhen. (▪
Reduktionstechnik)
Man folgt dabei
einer ▪ Organisations- bzw.
Strukturierungsstrategie, die einem im Idealfall (bei
Beachtung entsprechender ▪
affektiver und volitionaler Stützstrategien) helfen kann, den ▪
Inhalt eines Textes
und/oder den Gedankengang eines Textes weiter zu erfassen
erfassen und dadurch ein weiter vertieftes
Textverständnis
zu erlangen.
Als eigenständige Schreibaufgabe gehört die Bildung von
Sinnabschnitten
zu den ▪
Formen diskontinuierlicher Sekundärtextgestaltungen bei
der ▪
Textwiedergabe.
Ist ein Text inhaltlich klar strukturiert, kann man
die
Sinnabschnitte auch in Form einer ▪
hierarchischen Textgliederung
darstellen.
Sinnabschnitte beziehen sich stets hauptsächlich auf den Inhalt
eines Textes. Es geht also dabei im Allgemeinen nicht darum
aufzuzeigen, wie sich die Aussagen eines Textes zu einer
Argumentation fügen.
Sprachliche Gestaltung
Auch wenn es für die Bildung und Formulierung von Sinnabschnitten
keine verbindlichen Textmuster gibt, denen man folgen sollte,
empfiehlt es sich, die Sinnabschnitte in sprachlich eigenständiger
Weise zu formulieren. Neben der Entscheidung, welche Sinnabschnitte
gemacht werden sollen, kommt also die Aufgabe hinzu, sich vom
Primärtext zu lösen und die Sinnabschnitte "in eigenen Worten" zu
formulieren.
Dies unterscheidet die Arbeit mit Sinnabschnitten von anderen
Organisations- und Elaborationsstrategien beim Verstehen von Texten
wie z. B. ▪ Stichwortlisten und ▪
Aussagenlisten, die näher an den
Formulierungen des Primärtextes dran sind.
Im Unterschied zur
▪ Aussagenliste, die die in einem Text gemachten Aussagen, einfach
untereinander auflistet, muss man bei der Einteilung in Sinnabschnitte die
Aussagen eines Textes zu übergeordneten Einheiten zusammenfassen und sie
damit übergeordneten Gesichtspunkten, am besten Oberbegriffen, zuordnen.
Ob man dies in Satzform tut oder Oberbegriffe für die
Sinnabschnitte findet oder, sogar beides miteinander mischt, ist
dabei vergleichsweise unerheblich. Allerdings ist die Mischung
beider Möglichkeiten aus Gründen der
Textverständlichkeit nicht zu empfehlen.
Allgemeiner Arbeitsauftrag
Gert
Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.12.2022
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