Seit der
»PISA-Studie hat der Kompetenzbegriff im Anschluss an den in der
Studie zugrunde gelegten Begriff der »Lesekompetenz auch in der
Literaturdidaktik an Bedeutung gewonnen.
Der Ruf nach Erfassung von
Basiskompetenzen, "die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende
Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine
aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind" (Baumert
u. a. 2001, S. 78), hat dazu geführt, dass auch der Begriff der
literarischen Kompetenz geschärft worden ist.
Hier wird im Bereich der ▪
literarischen bzw. literarästhetischen Kompetenz zwischen der ▪
literarästhetische
Produktionskompetenz und der ▪
literarästhetischen
Rezeptionskompetenz unterschieden.
Lesekompetenz und
literarische Kompetenz
In der Literaturdidaktik hat man sich zunächst
einmal gegen eine Überbetonung der ▪
Lesekompetenz im Handlungsfeld Literatur
verwehrt, wie sie im Zusammenhang mit den von PISA beförderten Anstrengungen
zur Hebung der allgemeinen Sprachkompetenz, insbesondere der Lesekompetenz,
zum Ausdruck gekommen ist.
Und noch immer stehen die Befürchtungen im Raum,
"dass dies zu Lasten der literarischen Bildung gehen wird." (Abraham/Kepser
22006, S.51) Dabei gehe die ▪
literarische Kompetenz, so betonen z. B.
Abraham/Kepser
(22006, S. 47) schon allein deshalb nicht in
der Lesekompetenz auf, weil man heutzutage Literatur per Hörbuch (oder als Podcast) rezipieren könne.
-
Literarische Kompetenz umfasst also nicht nur deshalb mehr als die
Fähigkeit, "geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu
reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial
weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen"
(OECD-Definition der Lesekompetenz, zit. n.
ebd,,
S. 47)
-
Dazu kommen "neben
allgemeinem Weltwissen, ein bereichsspezifisches Wissen für literarische
Textsorten (Gattungen, Genres) und ihre historische Entwicklung, für
Prototypen, für Standardplots und Figurenkonstellationen (story grammar,
story scripts), für Erzähl- und Dramatisierungstechniken, für
literarische Fachbegriffe sowie die Fähigkeit, sich affektiv auf ein
literarisches Gebot einlassen zu können." (ebd,
S.48)
Als literarisches Lernen
gefasst, ein Begriff, der eine Art Sammelbegriff
für alles darstellt, was ▪
literarisches Lesen zur Persönlichkeitsbildung
beitragen
kann (vgl. Büker 2002,
S.130), kann man literarisches Lernen auch als "schulische Lehr- und
Lernprozesse zum Erwerb von Einstellungen, Fähigkeiten, Kenntnissen und
Fertigkeiten" auffassen, "die nötig sind, um literarisch-ästhetische Texte
in ihren verschiedenen Ausdrucksformen zu erschließen, zu genießen und mit
Hilfe eines produktiven und kommunikativen Auseinandersetzungsprozesses zu
verstehen." (ebd.,
S.121) Dies dürfte die literarische Kompetenz allgemein beschreiben. Sie lässt sich aber durchaus auch noch viel umfassender, ohne Orientierung
an traditionellen Mustern, beschreiben als "Fähigkeit, im Medium des
Literarischen Erfahrungen zu machen". (Rosebrock
2001, S.4) Deren Besonderheit liegt darin, dass sie über die ästhetische
Wahrnehmung und deren kognitiver und emotionaler Verarbeitung vermittelt
werden und dem Leser bzw. der Leserin im Handlungsfeld Literatur Einsichten
in unterschiedliche Bereiche menschlichen Daseins, in Möglichkeiten und
Grenzen menschlichen Handels ermöglichen.
Dabei meint literarische Kompetenz, wie sie
Rosebrock (1999,
S.58) definiert, "die Fähigkeit, Literatur gewissermaßen traditionsbewusst
zu rezipieren, also einen ästhetisch konstituierten Text in welcher medialen
Gestalt auch immer zu hören, zu sehen oder zu lesen und in seinem
kulturellen Kontext zu verstehen. Das heißt: der ästhetische Text muss im
Rezeptionsprozess eingerückt werden in Formen des Verstehens und Deutens,
wie sie kulturell überliefert und von den kanonpflegenden Instanzen wie
Schule und Hochschule als Wissensbestand gepflegt werden."
Das Handlungsfeld
Literatur
Das
Handlungsfeld Literatur umfasst drei Bereiche, in denen Literatur für die in diesem Handlungsfeld
Agierenden als individuell, sozial und kulturell bedeutsam erfahren werden
kann. Es stellt damit den Rahmen dar, in dem sich der literarische Kompetenzerwerb
vollzieht und sich das Niveau der literarischen Kompetenz an der
Vielfältigkeit und Qualität der Teilhabe an diesem Handlungsfeld messen
lassen muss.
Individuelle
Bedeutsamkeit ermöglicht Literatur dadurch, dass die "anthropologische Grunderfahrungen (mit-)teilbar (macht)" (Abraham/Kepser
(42016, S.36). Sie kann z. B. Jugendliche bei ihrer
Entwicklung und Identitätsbildung unterstützen, indem sie ihm
alternative Lebensentwürfe vorstellt, zu denen sie sich in Beziehung
setzen können. Sie kann durch Identifikation mit fiktiven Figuren
Fremdverstehen (Alteritätserfahrungen) und
Empathie fördern, lässt
einen Raum für "Probehandeln" der imaginierten Welt . Darüber hinaus
kann sie auch deklaratives Faktenwissen vermitteln. Und schließlich kann sie auch
ästhetischen Genuss bereiten und Gefühle auslösen. (vgl.
ebd., S.21).
Ihre
soziale
Bedeutsamkeit kann Literatur über all dort entfalten, wo Leserinnen und
Leser über Gelesenes miteinander kommunizieren oder auch Medien
kollektiv rezipieren, wie z. B. im Kino, bei Lesungen etc.) Über den
Austausch gemeinsamer Rezeptionserfahrungen, insbesondere auch im Umfeld
von Serien, können auch Gruppenidentitäten geschaffen werden.
Kulturelle Bedeutsamkeit
erlangt Literatur dadurch, dass sie einer kulturellen Gemeinschaft die
Möglichkeit gibt, sich ihrer Vergangenheit zu vergewissern, in der
Gegenwart zu handeln und Zukunftsperspektiven zu entwickeln, weil
Literatur ein Teil des kulturellen Gedächtnisses darstellt, das eine
Gesellschaft braucht, um trotz aller Veränderungen und strukturellen
Wandlungsprozessen ihre kulturelle Identität zu bewahren. Literatur ist
dabei ein Handlungsfeld, "in dem bestimmt wird, was erinnert werden
soll." (ebd.,
S.24).
Alle diese genannten
Aspekte zeigen, dass Literatur und die Kommunikation darüber einen wichtigen
Anteil an der Vergesellschaftung, der Tatsache, dass Menschen miteinander
zusammenleben können, hat.
Abraham/Kepser
(42016, S.26f.) haben hierfür das folgende
Grundmodell entwickelt, das auch berücksichtigt, dass "Individuation, Sozialisation und Enkulturation durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen können."
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Ästhetische
Kompetenz und ihre Bedeutung für Individuation, Sozialisation und
Enkulturation
Folgt man dem Kompetenzbegriff, wie er von Jürgen Habermas (1975) entwickelt
worden ist, dann ist auch die ästhetische
Kompetenz, von grundlegender Bedeutung für den Menschen. Habermas
versteht unter Kompetenzen "anthropologische Grundfähigkeiten", die Menschen
im Zuge ihrer Ich-Entwicklung erwerben. Außer den ästhetischen Kompetenzen
gehören dazu auch kognitive, interaktive und sprachliche Kompetenzen.
Im Anschluss an Habermas und dessen Konzept modifizierend
versteht man unter ästhetischer Kompetenz die
Fähigkeit, sich mit den Mitteln der Musik, Kunst
und Literatur selbst auszudrücken und zu sich und seiner Umwelt in Beziehung
zu setzen. Damit zählt die ästhetische Kompetenz auch zu den anthropologischen Grundfähigkeiten, über die Menschen
verfügen.
Diese geben ihnen Möglichkeiten sich zu entwickeln. Fehlt
oder verkümmert die ästhetische Kompetenz, dann drohen
Defizite bei der
Individuation, der Sozialisation und der Enkulturation. Tritt so etwas
ein, dann kann der Mensch
sich eben nicht mehr in gleicher Weise mit sich selbst, seinen
Mitmenschen und seiner Umwelt auseinander setzen. Aus diesen Überlegungen
leitet sich auch die Forderung ab, dass der
ästhetischen Bildung prinzipiell die
gleiche Bedeutung eingeräumt werden muss, wie der Bildung, die in Natur-,
Gesellschafts- und Sozialwissenschaften u. ä. m. vermittelt wird. (vgl.
ebd,
S.50)
Literarische Kompetenz
und Motivation
Dass der Erwerb
literarischer Kompetenz vor allem im institutionellen
Bildungsprozessen, also vor allem in der Schule stattfindet, darf
allerdings nicht übersehen, dass auch die Privatlektüre im
Zusammenspiel von Kompetenz und Motivation zum Erwerb literarischer
Kompetenzen, und das schon, sofern gelesen wird, im Kindesalter.
Dabei zeigt sich, dass Motivation zum Lesen führt und Lesen eben
auch zur Entwicklung entsprechender Kompetenzen, ohne die "glückende Leseerfahrungen" (Rosebrock
2001, S.4f.) kaum vorstellbar sind.
"Wer zum Beispiel
in seiner späten Kindheit motiviert genug ist, um 20 Bände Karl May
zu lesen, der greift dabei auf eine Menge Kompetenzen zurück,
entwickelt aber im Gegenzug auch solche Kompetenzen. Das sind
zunächst natürlich auch Dechiffrier-Kompetenzen im engeren Sinn,
z.B. die Erweiterung der Augenspanne und die Automatisierung der
Wortwahrnehmung, darüber hinaus das Begriffslernen und der Gebrauch
situationsabstrakter Sprache, im Blick auf ästhetische Kompetenzen
aber auch das Realisieren von Wort-und Sprachbildern, die Übernahmen
von fremden Perspektiven, die Imagination komplexer, miteinander
logisch, zeitlich oder mimetisch verbundener Ereignisse,
Landschaften und Horizonte, und schließlich diverse poetische Regeln
etwa im Bereich des uneigentlichen Sprachgebrauchs. Außer diesen
Rezeptionskompetenzen, die 20 Bände Karl May einerseits
voraussetzen, andererseits auszubilden helfen, hat er oder sie schon
einige Kompetenzen bei der Beschaffung dieses ganzen Stoffs
bewiesen, etwa als Kundigkeit im Umgang mit Büchereien. Schließlich
ist noch davor so etwas wie eine Orientierungskompetenz anzusiedeln,
das Wissen nämlich, welcher Typ Bücher die Lesebedürfnisse
befriedigen kann, eine Vorstellung davon, welche Bedürfnisse
überhaupt bestehen." (Rosebrock
2001, S.4f.) Trotzdem besteht zwischen Viellesen und dem Erwerb von Kompetenzen,
um anspruchsvolle literarisch-ästhetisch gestaltete Texte zu
verstehen, kein zwingender Zusammenhang. Gerade bei Kindern, die im
Alter zwischen 10 und 14 Jahren mehr lesen als jemals später oder
vorher findet unter diesem Blickwinkel kein nennenswerter
Kompetenzzuwachs, vor allem wenn sie sich als Mediennutzerinnen und
-nutzer in ihren Serienwelten aufhalten und ihren
Wunschidentikationsprozessen folgen. (vgl.
ebd.)
Die
▪
Textinterpretation
im ▪ Literaturunterricht der Schule findet vorwiegend mit
▪ hermeneutisch ausgerichteten
▪
Interpretationsmethoden (z.B.
▪
werkimmanente Interpretation) statt.
Andere, vor allem neuere Literaturtheorien,
haben es infolge ihrer mitunter kaum erreichbaren "Verwertbarkeit" im
Literaturunterricht schwer, neue Akzente zu setzen. Sie tragen nämlich, wie
Clemens Kammler
(2005, S.188) im Anschluss an
Spinner (1987,
S.18) betont, "ihre Deutungen oft 'monologisch-autoritativ' vor" und können
in der Regel nur von der "wissenschaftlichen Interpretationsgemeinschaft"
entsprechend eingeordnet werden. Zudem "bewegen sie sich zunehmend auf einem
gedanklichen und begrifflichen Abstraktionsniveau, das jeglicher
unterrichtlichen Vermittlung, auch der universitären, abträglich sind."
In ähnliche Richtung geht auch, was
Köppe/Winko (2008, S.3) in Bezug auf die "Vermittelbarkeit" neuerer
Literaturtheorien in ihrem Lehrbuch darlegen:
"Es wird versucht, die
Theorien möglichst verständlich und voraussetzungsarm darzustellen, ohne den
Sprechgestus der referierten Texte wiederzugeben. Mit dieser Konzentration
auf das »Was« des Gesagten zu Ungunsten des »Wie« und dem weitgehenden
Verzicht auf die Formeln, die sich in den Theorien selbst finden,
widerspricht unsere Darstellung in einigen Fällen dem Anspruch der
behandelten Theoretiker bzw. bleibt hinter der Komplexität und
Bedeutungsvielfalt des Gesagten zurück."
Was auf der wissenschaftlichen Ebene universitärer Lehrwerke als Problem bei
der Reformulierung von Literaturtheorien gilt, ist in der
literaturdidaktischen Praxis längst Alltag geworden.
Hier geht es um
Strategien und Unterrichtsziele, die mit entsprechenden Inhalten und
Methoden erreicht werden sollen. Und nicht allein diese Perspektive
rechtfertigt wohl auch den von
Kammler
(2005, S.188, 198, Hervorh. d. Verf.) für sich reklamierten "begründeten
Ekklektizismus im didaktischen Umgang mit Interpretationen" und
einen "pragmatischen. instrumentalisierenden Umgang mit Theorien", die weder
bei einem "subjektiven Erlebnisausdruck" stehen bleibt, noch in
"postmoderner Beliebigkeit" aufgeht.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
27.07.2024
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