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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
▪
So verstehen wir, was wir lesen
▪
arbeitstechnik lesen
▪
Verstehen von Texten
▪
Lesen und Behalten: Die Bedeutung der
Textoberflächenstruktur ▪
Hermeneutischer Zirkel
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Das Lesen erzählender Texte:
Inferenzbildung und Situationsmodelle beim
sinnkonstruierenden Lesen
Von der Textbasis zum Situationsmodell des Textes: Sinnkonstruktion
in Borcherts Kurzgeschichte »An diesem Dienstag«
Wer die ▪
Kurzgeschichte ▪ »An diesem Dienstag«
von ▪ Wolfgang Borchert
liest und sich einen Reim darauf machen will, was er da liest, muss
wohl sehr ▪
aktiv lesen. Der Text kann einen Leser oder eine Leserin
beim Lesen und nach dem Lesen durchaus in eine gewisse Ratlosigkeit
versetzen, wenn es nicht gelingt, die zahlreichen ▪
Leerstellen,
▪ Textlöcher und
▪ Kohärenzlücken, mit einem selbst
▪
konstruierten
Sinnverständnis zu schließen.
Wer noch nie mit einer Kurzgeschichte von Borchert zu tun hatte, tut
sich dabei gewiss schwerer als jemand der über entsprechende
Leseerfahrungen verfügt. Auf der anderen Seite hat natürlich das in
gewisser Weise "unvoreingenommene" Lesen einer solchen Geschichte
auch ihren ganz besonderen Reiz.
Was geschieht eigentlich, wenn wir versuchen die Geschichte von Borchert
zu verstehen?
Vorweg: Wir sind alles unterschiedliche Menschen, mit
unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten, Erfahrungen und
verschiedenen Motivationen und das wirkt sich natürlich auch auf das
Lesen bzw. Verstehen von Texten wie z. B. die vorliegende
Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert aus.
Wenn die vorangestellte Frage also suggeriert, man könnte eine für
jeden einzelnen genau zutreffende Antwort darauf geben, dann ist
dies natürlich nicht gemeint. Hier geht es also stets nur um
allgemeine Antworten, die stets auf den einzelnen Fall mit seinen
Besonderheiten, wie man so sagt, "heruntergebrochen werden" müssen.
Aber ein paar grundsätzliche Überlegungen geben einem dabei
Orientierung, auch und gerade im Hinblick auf das Lesen und
Verstehen von Borcherts Kurzgeschichten, insbesondere sein Werk "An
diesem Dienstag".
Wer die Kurzgeschichte liest, geht mehr oder weniger automatisch mit
dem Anspruch heran, zu verstehen, was einem als Leser oder Leserin
da dargeboten wird. Dabei müssen wird ja nicht nur die einzelnen
Aussagen verstehen, sondern uns auch in der dargestellten Welt
zurechtfinden und dazu noch mit bestimmten sprachlichen
Besonderheiten umgehen, die unter Umständen mit der Sprache, die
sich von der Art und Weise, wie wir uns ansonsten ausdrücken, nicht
unbedingt viel gemein hat.
Wenn wir uns einen Reim die Geschichte "An diesem Dienstag" machen
wollen, müssen wir nicht nur erfassen, was direkt im Text steht,
sondern müssen darüber hinaus unser eigenes Vorwissen (z. B.
Weltwissen, aktives Wissen,
Erfahrungswissen,
Fachwissen,
Sprachwissen,
Textmusterwissen,
thematisches Wissen)
einbringen, um das, was im Text steht, damit so "anzureichern", dass
am Ende so etwas wie ein Sinnzusammenhang herauskommt. Und zwar:
unser, jeweils selbst konstruierter Sinnzusammenhang, den wir selbst
für plausibel halten. Ob er diese Plausibilität bewahrt, wenn wir
uns mit anderen darüber austauschen, die ihr Verständnis des Textes
damit vergleichen oder das andere auf seine Plausibilität hin prüfen
und bewerten, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Zunächst aber
steht ein Situationsmodell des Textes, wie man diese durch eigenes
Zutun entstandene Sinnkonstruktion eines Textes nennt, in einem
prinzipiell gleichberechtigten Verhältnis zu "konkurrierenden"
anderen Situationsmodellen.
Der Grund, weshalb es unterschiedliche Situationsmodelle
insbesondere bei literarischen Texten gibt, hat mit ihrer
Vieldeutigkeit zu tun. Um diese grundsätzlich zu verstehen, muss man
sich nur einmal vor Augen halten, was ein literarischer Text, der
seine eigene Welt gestaltet, kann und was nicht.
Einfach gesagt, kann ein literarischer Text nie eine Welt in ihrer
ganzen Totalität gestalten. Er kann einfach nicht alles, sprachlich
darstellen, was sich in der fiktionalen Welt nacheinander oder
gleichzeitig ereignet, er kann nicht alle unterschiedlichen
Perspektiven, die es auf diese Welt gibt gleichzeitig oder
nacheinander darstellen, sondern muss sich immer auf eine Auswahl
einlassen, kann stets nur einen Ausschnitt aus der fiktionalen
Totalität darstellen.
Was das bedeutet, lässt sich leicht am Beispiel von Borcherts
Kurzgeschichte zeigen:
-
Episode 1, in der erzählt wird, wie Ulla wegen ihrer Faxen
und daraus resultierenden Fehler beim Abschreiben eine
Strafarbeit von ihrer Lehrerin aufgebrummt bekommt, wird ja
schließlich nicht alles erzählt, was in der Klasse der 42
Schülerinnen passiert. Man weiß nicht einmal, in welchem Ort das
passiert, wie die Schule heißt, wie viel Uhr es ist, wie die
Lehrerin aussieht und und und und ...Von einer Darstellung einer
Totalität allen Geschehens ist das Erzählte also weit entfernt.
-
Und wer sich dazu einmal noch
Episode 7 vornimmt,
die gerade mal aus zwei Sätzen besteht, merkt sofort, dass hier
so ziemlich alles fehlt, was wie ein Ganzes der dargestellten
Welt aufgefasst werden könnte.
Beim Verstehen müssen wir daher versuchen, bestimmte Aussagen oder
auch Motive der Geschichte aufeinander zu beziehen, um alles
überhaupt ihren (möglichen) Bedeutungszusammenhang herstellen zu
können. Diesen Vorgang bezeichnet man Konstruktion von Inferenzen.
Das geschieht auf der Textebene, wenn wir z. B. im Fall von Episode
7 einen Zusammenhang herstellen müssen mit der vorangegangenen
Episode 5, die insgesamt ausführlicher ausfällt und darstellt,
wie Frau Hesse mit der Beförderung ihres Mannes zum Hauptmann prahlt
und sich, ganz so wie die Briefanschrift (An Frau Hauptmann Hesse)
es signalisiert, ihren neu gewonnenen gesellschaftlichen Status nach
außen zeigen will. Auf diesem Bedeutungshintergrund wird erst
verständlich, welchen persönlichen Stellenwert ihr abendlicher
Besuch der Oper als gesellschaftliches Ereignis besitzt und weshalb
sie sich mit den rotgeschminkten Lippen ganz offensichtlich "schön"
und attraktiv machen und damit ggf. Aufmerksamkeit gewinnen will. So
weit, könnte man sagen, ergibt sich der Bedeutungszusammenhang auf
der Textebene.
Allerdings zeigt sich selbst darin schon, dass man als Leser einiges
hinzufügen muss, um das, was da ohne expliziten Hinweis auf ihren
Bedeutungszusammenhang in den zwei asyndetisch gereihten Hauptsätzen
formuliert ist, in einen Bedeutungszusammenhang zu bringen. Nur der
Text selbst leistet dies eben nicht. Was man dabei tut, nennt man
auch Konstruktion eines ▪
Situationsmodells des Textes, das mit dem Wissen des
Lesers angereichert ist und auf Inferenzen beruht, die über den Text
hinausgehen.
Und dieses Situationsmodell umfasst, wenn man genauer hinsieht, noch
einiges mehr.
-
Wenn es heißt, "an diesem Dienstag spielten sie die Zauberflöte"
wird man keinen expliziten Texthinweis dafür finden, wer "sie"
sind, was "spielen" bedeutet und was "Zauberflöte" eigentlich
ist. Nur wenn man weiß, dass die Zauberflöte eine Oper ist, kann
man das "Sie" und das "Spielen" in einen Bedeutungszusammenhang
bringen. Wenn man weiß, dass ein Opernbesuch stets auch ein
gesellschaftliches Ereignis darstellt (Sehen und Gesehen
werden), kann man das Verhalten von Frau Hesse, die ihre Lippen
auffallend rot schminkt, in einen Bedeutungszusammenhang zu
bringen. Dabei wird in diesem Situationsmodell aber auch
angenommen, dass die beiden Sätze überhaupt unter einem
bestimmten ▪
Ereigniskonzept (Handlungsschema Oper) in Verbindung
gebracht werden können.
Wer literarische Texte verstehen will, und das gilt auch für
Borcherts Kurzgeschichte, muss in der Regel eine besonders
hohe Eigenaktivität beim
Lesen entwickeln und intensive Inferenzarbeit betreiben.
Im Zuge dieser "Arbeit" lässt sich gewissermaßen "an der
Signalstruktur der einzelnen Textabschnitte [...], die mit der
Variation und
Amplifikation bestimmter Kernwendungen und -bilder ein
Verweisungsnetz" erkennen, "in dem der ideologische Sud der
Wirklichkeit sich verfängt." (Durzak
1980, S.121)
Was aber, wenn man aus dem Gedächtnis kein umfangreiches oder
zureichendes Vorwissen abrufen kann?
Natürlich
passiert es gerade bei literarischen Texten mit ihrer großen
Vieldeutigkeit, dass man nicht jeden Bedeutungszusammenhang mit
einer eigenen plausiblen Sinnkonstruktion versehen kann.
Natürlich kann, wenn man das Problem einmal auf dem Gebiet der
Bildenden Kunst veranschaulicht, ein ausgesprochener
Kunstexperte anderes in ein Gemälde hinein- und aus ihm
herauslesen, als jemand der einem Gemälde erstmals begegnet.
Nur: Das, was ein Kunstexperte zu sagen hat, ist vom Standpunkt
der Rezeption her gesehen, deshalb nicht prinzipiell mehr wert
oder höherwertiger als das unmittelbare Erleben. Der Zugang zum
Werk ist eben ein anderer.
Für das Lesen und
Interpretieren literarischer Texte wie der Kurzgeschichte von
Borchert in der Schule bedeutet dies aber auch nicht, dass alles,
was über einen Text gesagt wird, gleichrangig ist.
Wer also z. B. mit
der Episode 7 in Borcherts Kurzgeschichte zunächst einmal nichts
anzufangen weiß, sollte nicht einfach nur darüber hinweglesen oder
zu irgendeinem Deutungsmuster greifen, das dem Ganzen irgendwie
übergestülpt werden kann. So könnte man ja auf die Idee kommen, dass
irgendwelche Geister ihre Zauberflöte zücken und Frau Hesse ihre
Lippen rot schminkt, weil sie, da ihr Mann an der Front ist, einen
möglichen Liebhaber sucht. Wer wollte behaupten, dass in den beiden
einfachen Sätzen selbst, etwas anderes steckt!
Ob und wie viele
Inferenzen beim Lesen der Kurzgeschichte Borcherts gebildet werden, hängt,
das ist die grundsätzlich wichtige Erkenntnis,von vielen ▪
textseitigen Faktoren
ab und in ganz besonderem Maße vom Vorwissen des Lesers,
das mit ▪
elaborativen Inferenzen den auf der lokalen Textebene konstruierten
Textsinn explizit mit den abrufbaren Gedächtnisinhalten verbindet und
dabei
Erklärungen, Verallgemeinerungen,
Hypothesen, Erwartungen und Assoziationen für das
Erzählte liefert, die
eindeutig über das im Text Enthaltene hinausgehen.
Es kommt auch auf das
Lesetempo und die Leseweisen an
Ob man man eher
wenige oder eher mehr Inferenzen beim Lesen bilden kann, hängt dabei
auch davon ab, wie schnell ein Text gelesen wird. Schnelles Lesen
ist jedenfalls nicht gerade inferenzfördernd!
Während wir einen
erzählenden Text lesen, können wir uns schon viele Dinge "merken", zueinander
in Beziehung setzen und damit die Textinformationen fortlaufend
aufnehmen und zu einem Situationsmodell verarbeiten. Wie gut uns das
gelingt, hängt, wie schon erwähnt von ▪
textseitigen
und
▪
leserseitigen Faktoren ab.
Wenn es aber aus
verschiedenen Gründen nicht gelingt, die beim Lesen fortwährend
aufgenommen Informationen mehr oder weniger problemlos in das aufgebaute
bzw. sich dynamisch aufbauende Situationsmodell zu ▪
integrieren, können solche Inkonsistenzen nur dann aufgelöst und
damit überwunden werden, wenn man sich z. B. mit einer Reduzierung des
Lesetempos auf den höheren kognitiven Verarbeitungsaufwand einlässt, der
durch solche Probleme entsteht.
Geschieht dies nicht, kann das Scheitern
beim Aufbau eines konsistenten Situationsmodell schnell zur
Frustrationen führen und damit die die
motivationale
und volitionale
Bereitschaft, beim Lesen weiter daran zu "arbeiten", erheblich
verringern.
Um dann beim Verstehen eines Textes weiter voranzukommen, muss man,
wenn es die Situation zulässt, entsprechende Recherchen. ggf. im
Internet, durchzuführen, um das entsprechende Wissen aufzubauen, das
die Inferenzbildung anregen kann.
Das fängt in Borcherts Kurzgeschichte "An diesem Dienstag" an mit
Informationen über Wolfgang Borchert und sein Werk im Allgemeinen,
fährt fort mit Fragen wie, wer ist der alte Fritz, wer oder was die
dicke Berta. Es geht um Informationen über den Krieg (2. Weltkrieg),
militärische Ränge, Krieg in Russland, Smolensk, Fleckfieber und
schließlich die Zauberflöte ...
Dabei sind keine Detailkenntnisse notwendig, aber ein Wissen, das
ausreicht, um immer mehr Bedeutungszusammenhänge in seinem eigenen
Situationsmodell zu konstruieren und plausibel mit dem Text in
Verbindung zu bringen.
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Lesen und Textverstehen
(CI-Modell)
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So verstehen wir, was wir lesen
▪ arbeitstechnik lesen
▪
Verstehen von Texten
▪
Lesen und Behalten: Die Bedeutung der
Textoberflächenstruktur ▪
Hermeneutischer Zirkel
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Das Lesen erzählender Texte:
Inferenzbildung und Situationsmodelle beim
sinnkonstruierenden Lesen
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.09.2020
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