Die
Geschichte der Schülerin Ulla im Rahmen der ▪
Kurzgeschichte ▪ »An diesem Dienstag«
von ▪ Wolfgang Borchert
rahmt das übrige Geschehen der Geschichte ein. Zwei einzelne
Episoden aus dem Leben von Ulla bilden die Gesamteinheit der
Ulla-Episode.

Für
größere Ansicht bitte anklicken!
Ohne dass der
Text darüber klar Auskunft gibt, was aber wohl zum vorausgesetzten
allgemeinen Weltwissen gehört, beginnt das, was an diesem Dienstag,
an einem x-beliebigen Dienstag während des sogenannten
"Russlandfeldzuges" der deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg
passiert, morgens in einer Schule irgendwo im Deutschen Reich.
Schreibunterricht
ist angesagt: Es soll das Schreiben von Großbuchstaben von 42
Mädchen in einer Schulklasse "der Lehrerin" geübt werden, die aus
der Wahrnehmungsperspektive Ullas, einer der Schülerinnen, nur von
ihrer dicken Brille charakterisiert wird. Ulla, der einzigen
Schülerin, die namentlich erwähnt und in der ganzen Geschichte
einen, und nur einen Vornamen hat, kommen die Augen, die
hinter den dicken Gläsern wohl nur verschwommen zu sehen sind,
grotesker Weise "leise" vor, erweisen sich aber schnell als
Argusaugen1, die den Fehler, den Ulla beim Abschreiben
von Übungsätzen von der Tafel macht, sofort ausmachen und dafür
sorgen, dass Ullas Fehler im "Notenbuch" festgehalten werden und Ulla eine Strafarbeit aufgebrummt werden kann. Kein Wunder: Ist
ihr doch wahrscheinlich nicht entgangen, dass Ulla nicht
konzentriert bei der Sache ist und lieber Faxen macht, indem sie mit
der Zunge an ihrer Nasenspitze "spielt". "Die Lehrerin" geht dagegen
nicht gerade zimperlich vor: Sie stößt die Schülerin und rügt sie
mit barschen Worten vor der ganzen Klasse. Sie duldet keinen
Widerspruch, als sie Ulla als Strafarbeit für den nächsten Tag
aufgibt, den Satz "IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT." zehnmal
aufzuschreiben. Auch Ulla wagt nicht, etwas dagegen vorzubringen.
Doch als sie sich abends, wahrscheinlich zu Hause, daran macht, die
Sätze aufzuschreiben, schreibt sie den Ausgangssatz aber wieder
nicht korrekt, oder wie die Lehrerin es verlangt hat, "schön sauber"
ab. Es ist zwar nur der gezierte, geradezu überkorrekte,
wahrscheinlich auch längst veraltete Dativ mit dem E am Ende, den
sie beim ansonsten ordnungsgemäßen Schreiben weglässt, doch kann man
darin, einen Ausdruck für ihr schon beim Spiel mit der Zunge
gezeigtes nonkonformistisches Verhalten sehen: Sie akzeptiert damit die
uneingeschränkte Autorität von "der mit der dicken Brille", wie sie
die Lehrerin in einem kurzen inneren Monolog abwertet, nicht und
fordert sie auf ihre Weise erneut heraus. Nicht zu
erwarten, dass das der mit ihrer Brille geradezu bewehrten Lehrerin
in der nächsten Stunde nicht auffallen wird.
Was als stupide
Schreibübung daherzukommen scheint, hat es indessen in sich. Drei in
Lettern an die Tafel geschriebene kurze Hauptsätze, die auf den
ersten Blick willkürlich nebeneinander geworfen zu sein und ohne
inneren Zusammenhang dazustehen scheinen. Bei genauerem Hinsehen jedoch dient
diese Schreibübung der Indoktrination der Schülerinnen mit der
nationalsozialistischen Ideologie.
-
Mit dem angeblich bedürfnislosen preußischen "Soldatenkönig", »Friedrich
II. (1712-1786), dem Großen, der in seiner Zeit
als Herrscher 23 Jahre lang Krieg geführt hat und statt aus
einem feinem Glas aus einem Blechbecher trinkt, wird ein für die
Nazis zum völkisch-rassistischen Vorbild erkorener und wegen
seiner vermeintlichen Tugend, Tapferkeit und Vaterlandsliebe
gerühmter König in dem Beispielsatz herangezogen, dessen Zitate
als "Wochensprüche der NSDAP" in den Klassenzimmern hingen ("Es
gibt keine Lorbeeren für die Faulen"). In verschiedenen
Lehrbüchern tauchte er als "überragender nordischer Führer"
tauchte auf, als "Erhalter der Wehrmacht" bejubelte ihn das
Lesebuch "Volk und Führer" für die vierte Klasse und nach der
Schule klebte man Zigarettenbildchen ins Album und das so
genannte Winterhilfswerk verteilte eiserne Abzeichen mit dem
Konterfei des Königs. (vgl.
Der Alte Fritz und die Nazis, Main Post, 19. Januar 2012)
"Und dann Friedrich als Krieger! »Er stand immer an vorderster
Front«, sagt Eduard Stenger, »drei Pferde wurden ihm unter dem
Leib weggeschossen.« Das Image des furchtlosen deutschen
Frontkämpfers kam der Nazipropaganda entgegen. »Friedrich war
ein Hasardeur«, erklärt Stenger, »und er hatte immer wieder
unwahrscheinliches Glück.« Im Bunker, in dem der »Führer« seine
letzten Tage verbrachte, hing ein Porträt von Friedrich II.
Hitler selbst zog – angesichts der Niederlage – bis zuletzt
Hoffnung aus der Lebensgeschichte des Preußenkönigs." (ebd.)
-
Der Nimbus der »dicken
Berta, einer besonders starken Kanone mit hoher
Durchschlagskraft, die im Ersten Weltkrieg, allerdings nicht vor
Paris, zum Einsatz kam, wurde von den Nazis ebenso als
militärtechnologische Wunderwaffe ihrer Zeit und damit deutscher
militärischer Fähigkeiten gefeiert. Und ist sie, wie im
Beispielsatz gar auf die Hauptstadt des benachbarten
"Erzfeindes" ausgerichtet, um so besser. Das Gesicht des Krieges
wird dabei hinter dem geradezu humorvoll bezeichneten
Kriegsgerät dabei nicht sichtbar.
-
Geradezu perfide nach heutigem Ermessen ist die "Gehirnwäsche",
der die abschreibenden Schulkinder mit dem dritten Satz
"IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT." unterzogen werden. Sie werden geradezu
gegen Väter in Stellung gebracht , die aus irgendeinem Grund nicht Soldaten sind und
zugleich darauf eingeschworen, dass ihre Abwesenheit nicht nur
nötig, sondern vollkommen normal ist. Dabei macht der Verstoß
des Satzes gegen die Regeln der grammatischen Kongruenz im
Numerus bei der prädikativen Nominalphrase (Korrekterweise
müsste es am Ende SOLDATEN heißen) durchaus Sinn. Hinter
dem Singular, der sonst als eine Art Nicht-Kongruenz nur bei
Bezeichnungen von Körperteilen oder Gegenständen zulässig ist,
weil das genannte Element pro Bezugperson nur einmal vorhanden
ist (vgl.
DUDEN. Die Grammatik, 7. völlig neu erarb. u. erw. Aufl.2005,
S.1004) (z. B. Alle Anwesenden hoben den Kopf. Viele haben bei
den Kämpfen ihr Leben verloren.), verbirgt sich nichts anderes
als die suggestive Reduzierung der entpersönlichten
Individualität des Einzelnen auf das abstrakte Prinzip des
Soldatseins.
Die Sätze, die
an der schwarzen Tafel einer reinen Mädchenklasse mit ihrer
weiblichen Lehrperson prangen, stellen eine männliche militarisierte
Welt aus, in der Krieg zwar selbstverständlich, die Realität des
Krieges aber ebenso wenig ihren Platz hat wie Frauen, die in den
Sätzen nicht vorkommen. Unter diesem Blickwinkel scheint es gar
nicht so ungewöhnlich, dass die Indoktrination im Falle Ullas
offenbar nicht vollständig zu gelingen scheint. Ob man Ulla als die
Tochter von Hauptmann Hesse verstehen kann, wie dies in etlichen
Interpretationen zum Ausdruck gebracht wird, kann zwar eine gewisse
kompositionsbedingte Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, die
erzählte Geschichte allerdings benötigt eine solche
Zuschreibung nicht, auch wenn sie dadurch verschiedene Handlungen an
der Front und in der Heimat miteinander verknüpft. Ulla, das
Schulmädchen, das sich, vielleicht nur emotional und intuitiv dem
Totalitätsanspruch einer Ideologie und ihres willfährigen
Instruments der Lehrerin wenigstens ein Stück weit entzieht, ist die
einzige Figur, aus deren Handeln etwas Subversives schimmert. Mehr
kann und will es nicht sein, ist das Mädchen doch noch immer nur ein
Kind in einer der ersten Klassen der "Volksschule". Dieses Kind hat
einen Namen und hebt sich daher aus der Masse heraus. Aus ihrer
figuralen Perspektive ist "ihre" ganze Episode gestaltet, die
einzige im Übrigen, die überwiegend der Wahrnehmungsperspektive, der
Wertungsperspektive und der sprachlichen Perspektive einer Figur
zugeordnet werden kann. Dies verdeutlicht die deiktische Verwendung
des Personalpronomens "sie" in dem Satz "übten sie in der
Schule" oder das deiktische "die" in "die hatten keinen Rand" oder
"die mit ihrer Brille". Und auch der Blick durch das Fenster auf den
Schulhof erweist sich als eine Reaktion Ullas auf den Tadel ihrer
Lehrerin. Was der Erzähler in den knapp 20, von wenigen Ausnahmen
bei den ohne Wiedergabeindices wie Anführungszeichen präsentierten
Äußerungen abgesehen, in kurzen Hauptsätzen parataktisch
aneinanderreiht, ist auf den Wahrnehmungshorizont Ullas bezogen, die
offenbar größeres Interesse daran hat, ihre Lehrerin mit der dicken
Brille zu mustern und Faxen zu machen, als im Vollzug der
Schreibübung zu gehorchen.
Dass ihr bei
der Strafarbeit die "Eselsbrücke", die ihr die Lehrerin genannt
hatte ("Krieg wird mit g geschrieben. G wie Grube.") im Sinn bleibt
und die Ellipse "G wie Grube" den Schlusssatz der Geschichte
darstellt, macht dabei deutlich, dass die Ulla-Episode in einem
konstrastierenden Verhältnis zu dem Geschehen steht, das in den
anderen Episoden "An diesem Dienstag" erzählt wird. Sie steht
natürlich, wie alle anderen ineinander verschachtelten Episoden
auch, nicht für sich allein, was schon durch ihre Zweiteiligkeit und
rahmende Funktion sichtbar wird.
Das Bild der
Grube, einem irgendwo ausgegrabenen Loch im Boden, das im Kontext
des Geschehens an der Kriegsfront mit dem Verscharren von
Kriegstoten konnotiert wird, nimmt das Motiv des Umgangs mit dem
Sterben, dem Tod und den
Toten auf, das in der Episode, in der Hauptmann Hesse im
Seuchenlazarett unter unwürdigen Bedingungen stirbt und sein
Leichnam ("Nummer 4") pietätlos vor seiner Beseitigung in einer
Grube einfach irgendwo von der Bahre auf den Boden gekippt wird,
besonders eindrücklich gestaltet ist.
1
Argusaugen: Wer etwas mit Argusaugen beobachtet, der lässt nichts
unbeobachtet und von daher nichts aus den Augen; geht auf eine
Redensart aus der »griechischen
Mythologie zurück: Die Göttin »Hera
ließ nämlich »Io,
die in eine Kuh verwandelte Geliebte ihres Göttergatten »Zeus,
von dem Riesen »Argos
bewachen, um damit zu verhindern, dass sich Zeus und Io noch weiter
nahekommen konnten. Argos (lat. Argus) war dafür mit hundert Augen
ausgestattet, von denen jeweils ein Teil schlief, während der Rest
wachte. Daher konnte er Io zu jeder Zeit im Auge behalten.