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(Borchert-Text)
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(Interpretation)
Ein Fremder im Haus
Gert Egle (2020)
Es ist, als ob man den Nachhall
des Klirrens nebenan selbst hören könnte, so abrupt und unmittelbar
wird man als Leser mitten in das Geschehen gestellt, das sofort von
einer zunächst nicht näher bezeichneten männlichen Person ("er")
kommentiert wird. Noch ehe man als Leser sich in der Geschichte
orientieren kann, sieht man die erzählte Welt aus der personalen Wahrnehmungsperspektive des,
wie sich schnell herausstellt, kranken Jungen, was durch das Ortsadverb "nebenan" und das Temporaladverb "jetzt" (Z 1), die
eindeutig seiner Perspektive zuzuordnen sind, unterstrichen wird.
Die Empörung des Jungen über
das von ihm vermutete Geschehen wird nach einem kurzen Gedankenzitat
("Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind, dachte er.")
vom Erzähler in einem kürzeren inneren Monolog in vier kurzen
parataktisch gereihten Hauptsätzen dargestellt, der zum
Ausdruck bringt, worauf der Junge das klirrende Geräusch "nebenan"
zurückführt.
Eine männliche Person, zunächst
nur mit dem Personalpronomen "er" eingeführt, bald aber als "Vater"
bezeichnet, hat, so stellt sich der Junge das Ganze vor, beim Essen
der eingemachten Kirschen, die eigentlich für ihn zur Linderung des
Fiebers vorgesehen waren, das
Glas mit eingemachten Kirschen "hingeschmissen". Er weiß, dass ihm seine
Mutter, die als handelnde Figur im Text nicht vorkommt und, wenn von
ihr die Rede ist, nur mit dem Personalpronomen ("sie")
bezeichnet wird, das Glas mit Kirschen vor dem Fenster kaltgestellt
hat, und das nur für ihn, der unter Fieber leidet und krank ist.
Auch wenn er daran nicht den
geringsten Zweifel hat, steht er von seinem Krankenbett auf, um sich
ein eigenes Bild von dem Ganzen zu machen. Zwar werden seine Motive
dafür nicht explizit ausgeführt, doch gewinnt man schnell den
Eindruck, dass er seinen Vater irgendwie zur Rede stellen bzw.
seinen Protest gegen dessen vermeintlich eigensüchtiges Verhalten
kundtun will, das ihm angesichts seiner Krankheit, so könnte man meinen, fast wie eine existenzielle Bedrohung vorkommt.
Mit dieser Deutungshypothese,
die aufgrund der personalen Perspektive auch die des Lesers wird,
steht der kranke Junge also bald im Türrahmen zum Nachbarzimmer. Und: Der Leser sieht
das Geschehen nun dort durch die Optik des kranken Jungen, über dessen
Krankheit, abgesehen vom Fieber, das mit ihr einhergeht, er nichts
erfährt, da sie vom personalen Erzähler nicht weiter thematisiert
oder in dem nachfolgenden Dialog von Vater und Sohn zur Sprache
kommt.
Was der kranke Junge und mit ihm
der Leser, "nebenan" zu sehen bekommt, scheint die Vermutung des
kranken Jungen zu bestätigen. Dort sitzt nämlich sein Vater auf dem
Boden und seine Hand ist rot von dem Kirschsaft, der ihm beim
"Hinschmeißen" des Glases über und in die hohle Hand geflossen sein
muss. ("Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft." Z 5) Für den
Kranken ist dies eine eindeutige Tatsache, die seine Wahrnehmung der
ganzen Situation steuert und die sich in stereotypen Wiederholungen
einer stets nüchtern wirkenden Sprache, die so festgefahren wie die
Situation selbst wirkt, niederschlägt.
Noch einmal gibt der Erzähler
den Blick in die Gedankenwelt des Jungen (Innensicht bleibt dabei aus
Gründen der schon erwähnten Perspektive auf ihn beschränkt) frei.
Wieder ist es ein kurzes Gedankenzitat, das zeigt, was er und nur er
sieht, weil er es so sehen will: "Alles voll Kirschen, dachte der
Kranke, alles voll Kirschen." (Z 6) Diese scheinbar objektive
visuelle Wahrnehmung, von der geradezu formelhaft mindestens vier
Mal die Rede ist, lässt den Jungen nicht los, auch wenn sie, wie ja
am Ende herauskommt, mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Für ihn
ist das, was er sich einbildet, Realität. Mehr noch: Sie erlaubt
ihm, seine Deutung der Situation zu erhärten. Was er schon eingangs
einmal betont hat ("Jetzt isst er die Kirschen auf" (Z 1), wird
jetzt zur stummen Anklage ("Und er isst mir die ganzen Kirschen auf.
Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll." Z
8f.), mit der in kurzen, teils elliptisch verkürzten Parataxen mit
zahlreichen Wortwiederholungen (z. B. "Ich hab doch das Fieber.",
"Und ich hab das Fieber."; "Für das Fieber." (Z 6. 9, 11) die tiefe
Enttäuschung und Wut über das so offenkundig rücksichtslose
Verhalten des Vaters ausgedrückt wird. Von einem Urvertrauen, das
ein Kind in seine Eltern, und natürlich auch in seinen Vater,
ausgebildet hat, ist nichts zu spüren. Während dieses Vertrauen in
die Mutter offenbar nicht erschüttert ist, die ja für den kranken
Jungen die Kirschen extra kaltgestellt hat, ist der Vater offenbar
gewillt, den Sohn "kalt" zu stellen, eine fast ödipale Vorstellung,
die den kranken Sohn, zumindest in seinem Fieber ergreift.
Als der Vater seinen Sohn im
Türrahmen bemerkt, ahnt er offenbar nicht, was in dem Jungen
vorgeht. Man hat den Eindruck, dass er glaubt, der Junge sei allein
wegen des Geräusches gekommen, um zu sehen, was passiert ist.
Dementsprechend spricht er seinen Jungen direkt an und ermuntert
ihn, gleich wieder ins Bett zu gehen, weil er sich offenkundig um
seinen Sohn sorgt. ("Junge, du musst doch zu Bett. ...", Z13)
Doch der Junge kann diese
Äußerung des Vaters nicht als Selbstoffenbarung des Vaters lesen,
der sich um seinen Sohn sorgt, sondern hält weiter an seinem
Vorurteil fest. Wie gebannt starrt er, auf die scheinbar
verräterische Hand des Vaters, traut sich aber gegenüber seinem
Vater nicht, das auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf
gegangen ist. Seinen Protest bringt er nur flüsternd und indirekt
vor, als er zunächst nur "alles voll Kirschen" zweimal wiederholt,
ohne die Äußerung in den nötigen Kontext zu stellen.
Kein Wunder, dass der Vater in
der misslichen Situation, in der er sich nach seinem Sturz auf den
Boden selbst befindet, nicht versteht, was sein Sohn sagen will und
noch einmal wiederholt, dass der Junge wieder sofort ins Bett müsse.
(vg. Z. 15) Zugleich macht er einen ersten Versuch aufzustehen, kann
aber offenbar gegen die Schmerzen nicht an, die er dabei empfindet.
Dass er sein Gesicht "verzieht"
(Z 15), entgeht dem Jungen zwar nicht, aber sein Blick wird immer
noch von der Hand des Vaters angezogen, von der es herabtropft.
So bleibt der Junge bei seiner
Sicht der Dinge, greift aber, da er sich offenkundig nicht
verstanden fühlt, die Sache noch einmal auf. Die Äußerung "Alles
Kirschen" und vor allem das Alles-meine-Kirschen (Z 17)
bringt zwar seinen Anspruch darauf explizit vor, der Vorwurf gegenüber dem Vater, der dabei mitschwingt, ist aber nur zaghaft
artikuliert. Wer ihn verstehen will, muss sich die
Deutungsperspektive des Jungen selbst zu eigen machen. Aus Angst vor
der väterlichen Reaktion kaschiert der Junge also seinen Vorwurf und
bringt ihn zunächst wieder nur flüsternd hervor. Dann aber hebt er
die Stimme und fragt laut: "Waren sie kalt?" Sein nur scheinbar sich
vergewisserndes "Ja?" und die nur noch rhetorisch wirkende, mit dem
"Wie" am Ende den Vorwurf kaum noch kaschierende Frage "Sie waren
doch sicher schön kalt, wie?" (Z 17f.) sind und bleiben, auch wenn
der Junge den Faden dabei etwas später, aber schon wieder flüsternd
(Z 24) noch einmal aufnimmt, die deutlichsten Äußerungen des Jungen,
mit denen er auf seine Weise versucht, seinen Protest und seine
Enttäuschung zu artikulieren und sie ggf. zum Thema der
Kommunikation zu machen.
Der Vater reagiert aber nicht so
darauf, wie es der Junge wohl erwartet. Der Junge wendet seinen
Blick von der Hand ab und bemerkt, dass ihn sein Vater "hilflos von
unten" (Z 20) ansieht und dabei "etwas lächelt". Wie es
auf ihn wirkt, wird vom Erzähler nicht mehr in Innensicht
thematisiert.
Stattdessen wird nun in
personaler Außensicht und in zitierter Figurenrede des Vaters, die noch zwei Mal von einer Äußerung des Jungen
unterbrochen ist, erzählt, was wirklich vorgefallen ist. Und auch jetzt
erfährt der Leser im Zuge dieses Perspektivenwechsels erst, dass
auch er der Deutungshypothese des kranken Jungen zu Unrecht vertraut
hat.
Der Vater berichtet, dass er
hingefallen ist. Weil er entweder als Mann das Ganze eher abtun oder
aber seinen Jungen nicht weiter beunruhigen will, lächelt er dabei
und spielt den Vorfall und seine Folgen herunter. ("Ich komme nicht
wieder hoch. [...] Das ist doch zu dumm.", Z 20f.) Was er nicht
formuliert: "Bitte, hilf mir auf!" Da der personale Erzähler über
keine Fähigkeit zur Introspektion in die Gedanken- und Gefühlswelt
des Vaters hat, bleibt dabei im Unklaren, ob er das doch irgendwie
erwartet. Hält man sich aber an das, was gesagt wird, ist klar, dass
er alleine wieder hochkommen und nur will, dass sein kranker Sohn
wieder ins Bett zurückgeht.
Vielleicht deutet sich in der
Tatsache, dass der Sohn daraufhin seinen zuvor noch mit lauter
Stimme vorgebrachten kaschierten Vorwurf nur noch einmal flüsternd
vorbringt ("Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja?", Z 24),
an, dass er sich wieder etwas zurücknimmt und erstmals auch beginnt
wahrzunehmen, welche Folgen der Sturz für seinen Vater hat, eine Änderung seiner Gesamtdeutung des Geschehens ist dies
indessen nicht.
Aber auch der Vater geht
weiterhin nicht auf die Botschaft ein, sondern deutet das Verhalten
seines kranken Sohnes offensichtlich falsch, von dem er wohl weiter
annimmt, dass ihn sein Sturz und die Schnittverletzung, die er sich
dabei zugezogen hat, beunruhigt. So spielt er das Ganze weiter
herunter, schiebt seine Unfähigkeit aufzustehen auf den Schreck, den
er beim Sturz bekommen habe und betont, dass es ihm gleich wieder
besser gehe. Dann werde er seinen Sohn ins Bett zurückbringen. (Z
25f.) Denn darauf komme es jetzt an: Der Junge müsse schleunigst
wieder ins Bett.
Als er bemerkt, dass der Blick
seines Sohnes wieder auf seine Hand gerichtet ist (der Erzähler
bleibt hinsichtlich dessen, was in dem kranken Jungen vorgeht,
weiterhin stumm), vermutet er, dass sein Sohn wegen des Bluts, das
aus seiner Schnittwunde in der Hand fließt, beunruhigt sein könnte.
Als er dem Jungen bedeutet, es handle sich nur um einen kleinen
Schnitt (Z 29) wird zum ersten Mal klar, dass es wohl nicht
Kirschsaft ist, was die Hand des Vaters rot gefärbt hat, sondern das
Blut. Damit wird ein Perspektivenwechsel vollzogen, der auch den
Leser dazu zwingt, eine distanzierte Position zu der personalen
Wahrnehmungsperspektive des kranken Jungen einzunehmen,die
Geschichte ohne dessen Optik rückwirkend neu zu "lesen" und mit dem
Zuwachs an Wissen das nachfolgend Erzählte einzuordnen.
Der Vater spielt auch die
Folgen des Schnitts herunter, auch wenn es ihm sichtlich wehtut
("verzog das Gesicht" (Z 30). Bei seinem Sturz, so erklärt er seinem
Sohn, sei eine der Lieblingstassen der Mutter zu Bruch gegangen. Und
das sei eigentlich viel schlimmer als die Tatsache, dass er sich an
ihren Scherben geschnitten habe, zumal er befürchte, von ihr dafür
"geschimpft" zu werden. Seine weiteren Ausführungen bringen das, was
mit den Kirschen geschehen ist, ans Licht.
Er habe die Tasse ausspülen
wollen, in die er die Kirschen seines Sohnes ("deine Kirschen", Z
33) habe hineintun wollen und sei dabei ausgerutscht. So einfach
erklärt sich, das, was geschehen ist, aus Sicht des Vaters, der
immer noch nicht ahnt, was ihm der Junge bis dahin immer noch
unterstellt, nämlich dass er die Kirschen aufgegessen hat. Ihm liegt
aus diesem Grunde mehr daran, dem kranken Jungen zu begründen, warum
er überhaupt mit der Tasse hantiert hat. "Aus dem Glas trinkt es
sich so schlecht im Bett", sagt er und fügt hinzu, dass er dies noch
gut wisse. ("Das weiß ich noch. Daraus trinkt es sich sehr schlecht
im Bett." Z 34). Mit dieser Äußerung verweist er auf eigene
Erfahrungen, über deren Herkunft der Text selbst aber keine weiteren
Auskünfte erteilt.
Von dem, was der Vater erzählt,
dringt eine Formulierung zu dem Jungen vor, die sein Vorurteil und
seine bisher gezeigten Einstellungen gegenüber seinem Vater in Frage
stellen und ins Wanken bringen. Und wie um das Ganze noch einmal auf
den Prüfstand zu stellen, fixiert er erneut die Hand des Vaters, als
er offensichtlich kleinlaut und flüsternd fragt "meine
Kirschen?" Ohne dass die Frage beantwortet werden muss, ist damit
sein Vorurteil in sich zusammengebrochen.
Was der Vater bei seinem erneut
vergeblichen Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, dazu äußert,
ist fast nur noch Formsache: Die Kirschen sind noch immer
kaltgestellt vor dem Fenster und der Vater verspricht, sie seinem
Sohn gleich zu bringen. (Z 36f.)
Der Junge geht daraufhin wieder
in sein Bett. Einige Zeit später, es bleibt ausgespart, wie lange es
dauert, bis der Vater wieder hochkommt, bringt er ihm die Kirschen.
Als er das Zimmer betritt, hat sich der Junge unter seine Bettdecke
verkrochen (Z 40) Die Scham darüber, so lässt sich nach alldem, was
passiert ist und was er seinem Vater unterstellt hat, vermuten, hält ihn so
gefangen, dass er ihm nicht ins Gesicht blicken kann.
Die Kurzgeschichte, die Wolfgang
Borchert verfasst hat, erzählt die Geschichte eines Vorurteils,
einer tiefen Entfremdung eines Kindes gegenüber seinem Vater und der
Unfähigkeit der Beteiligten einander zu verstehen und miteinander zu
kommunizieren. Der Junge, sei es dem Fieberwahn geschuldet oder
nicht, zeigt kein (Ur-)Vertrauen in den Vater, sondern sieht in ihm
eine Instanz, die ihn aus eigensüchtigen Motiven existenziell
bedrohen kann. Der Vater erscheint als strafende Autorität, während
die Mutter, die nicht als handelnde Figur auftritt, für Liebe und
Sorge steht.
Bezieht man den biografischen,
thematischen
und zeitgeschichtlichen Kontext der Geschichte mit ein, können sich
weitere Gesichtspunkte ergeben, die zu einer anderen Leseart, manche
sprechen dabei auch von einem vertieften, weil kontextualisierten
Textverständnis führen können. Insbesondere das thematische
Vorwissen, dass es sich im literarischen Werk Wolfgang Borcherts
immer wieder um die Problematik von Menschen dreht, die den Krieg
und seine Folgen individuell und sozial zu verarbeiten haben und
daran scheitern, öffnet dabei den Blick auf einen außertextlichen
Kontext, der eine bestimmte Leseart der Geschichte nahelegen kann.
Hier sollen nur einige Aspekte
herangezogen werden, die der Frage nachgehen sollen, inwiefern sich
in der in der Geschichte dargestellten Vater-Sohn-Beziehung
zeitbedingte Strukturen der Nachkriegsgesellschaft widerspiegeln,
die die tiefe Entfremdung des Sohnes gegenüber seinem Vater erklären
können. Die These: Die Männer, die aus Krieg und Gefangenschaft in
ihre Familien zurückkehrten, waren oftmals "Fremde".
Vater und Sohn in Wolfgang Borcherts
Geschichte »Die
Kirschen« wirken, wie so viele Figuren in Borcherts Werk, traumatisiert (engl.
trauma; gr.
τράυμα (trauma) Verletzung).
Liest man die 1947 erschienene Geschichte im Kontext der
Nachkriegsgeschichte kann man die Geschichte als
Heimkehrerdrama aus der Sicht eines Jungen verstehen.
Das erzählte Verhalten von Vater und Sohn deutet darauf hin, dass beide infolge der Ereignisse, die sie
im Krieg erlebt haben, seelische Verletzungen davongetragen haben, die sie
nicht bewältigt haben und auch nicht thematisieren können. Ja, bei dem
fieberkranken Sohn, über dessen Alter man nichts erfährt, der aber, wenn man
seinen in Gedanken und Worten ausgedrückten Äußerungen berücksichtigt, wohl
zwischen zehn und zwölf Jahren alt sein dürfte, hat sich offenbar, verstärkt
durch das Fieber, die Vorstellung vom Überlebenskampf als solchem so sehr in seine Seele eingebrannt, dass er das erzählte
Geschehen um sich herum im mit einem Handlungsschema deutet, in dem es darum
geht, Wahrnehmungsschema, das eigene "nackte" Leben zu
retten. Doch damit zieht er seine falschen Schlüsse.
Statt anzunehmen,
dass sein Vater als Vater alles dafür tun würde, seinem fieberkranken Sohn
zu helfen, sieht er in ihm einen Konkurrenten im Kampf um das Überleben,
missgünstig, egoistisch und nur am eigenen Überleben interessiert. Die tiefe
Entfremdung gegenüber dem eigenen Vater und der Verlust jeden
"Urvertrauens" in ihn, ist, sieht man dieses Phänomen auf der Folie
der Kriegsheimkehrerproblematik nach 1945, indessen nichts
Außergewöhnliches.
Als die Männer nach Kriegsende 1945 und zum Teil erst sehr viel
später nach langjähriger Kriegsgefangenschaft nach Hause, zu ihren
Ehefrauen und Kindern zurückkehrten, waren viele nicht mehr die, die
Jahre zuvor ihre Familien verlassen hatten. Was sie im Krieg und der
Kriegsgefangenschaft erlebt hatten, hatte bei vielen tiefe Spuren
hinterlassen. Sie kamen als Kriegsverlierer, viele von ihnen als
Krüppel an Leib und Seele geradezu aus der Hölle. Hunderttausende
von ihnen schwerst traumatisiert, auch wenn das im
Nachkriegsdeutschland kaum einer wahrhaben wollte.
Aber auch ihre
Familien, ihre Ehefrauen und Kinder hatten sich verändert.
Manche Kriegsheimkehrer bekamen ihre eigenen Kinder erstmals zu
Gesicht und viele von ihnen waren inzwischen groß bzw. sehr viel
größer geworden.
Die Männer, die
aus dem Krieg kamen, hatten wohl oft die Hoffnung hatten, mit
Ehefrau oder im Kreis der Familie irgendwie über die
Vergangenheit hinwegzukommen. Sie wollten an traditionelle
Vorstellungen über die Familie und die Rollenverteilung zwischen
Mann und Frau anknüpfen und konnten mit der neu gewonnenen
Selbständigkeit der Frauen, die im Krieg sowohl ihre Familien
allein durchbringen und wegen des Arbeitskräftemangels dazu noch
zur Dienstpflicht außer Haus gezwungen worden waren, oft nichts
anfangen.
Die Männer
wollten ihren Platz in einer patriarchalisch strukturierten
Gesellschaft und Familie wieder einnehmen und taten, soweit sie
dazu in der Lage waren, alles dafür, wieder Alleinversorger der
Familie zu werden.
Und nicht nur
das: Ihre Kinder, die bisher gewohnt waren, nur von der ihrer
Mutter umsorgt zu werden, hatten es oft mit unbekannten Vätern
zu tun, denen sie Respekt, Aufmerksamkeit und Liebe
entgegenzubringen hatten. Gab es Konflikte, dann setzte es
Prügel und insgesamt herrschte offenbar in vielen
Heimkehrerfamilien "nun meist ein weit strengerer Ton als vor
der Heimkehr der Väter [...] die meisten Familien mieden heikle
Themen. Wie es zum Krieg gekommen war, erfuhren die wenigsten
Kinder. Lediglich von ihren Fronterlebnissen erzählten die
Väter, darum bemüht, ruhmreich zu wirken." (Theresia
Fleischaus, So litten Kinder unter ihren heimgekehrten Vätern,
in: Die Welt, 12.02.17)
Der Vater, so wie er in Borcherts Geschichte präsentiert wird,
entspricht diesem prototypischen Bild des schwerst traumatisierten,
aus Krieg und oder Gefangenschaft heimgekehrten Vaters nur in
wenigen Zügen. Das, was man als Leser über ihn aus seinem eigenen
Mund erfährt, zeugt von einem liebevollen und fürsorgenden Vater,
der sich um seinen kranken Sohn sorgt und sogar darum, dass er die
Lieblingstasse seiner Frau kaputt gemacht hat. Dass er vom Krieg und
Lazarettaufenthalten - hier zeigen sich die biografischen
Parallelitäten zum Schicksal Wolfgang Borcherts - vor allem physisch
gezeichnet ist, ist im Text nur angedeutet. So verschweigt er wohl
die Ursache seines Sturzes und baut auf die Wirkung der Notlüge, er
sei einfach ausgerutscht. Die Schwierigkeiten, die er beim Aufstehen
hat, deuten allerdings in eine andere Richtung. So erscheint
plausibel, dass er auf eine schwerwiegendere Erkrankung oder
Verwundung mit anschließendem Lazarettaufenthalt, hinweist, als er
berichtet, er könne sich noch gut daran erinnern, wie schwer es sei,
im Bett zu trinken.
Dass er selbst aber offenbar
darüber nicht reden kann, vielleicht wenig nachfühlen kann, was den
Sohn umtreibt, zeigt, dass auch er an einer ▪
posttraumatischen Belastungsstörung leidet, wie sie unzählige
andere, deren psychische Leiden nach dem Krieg gesellschaftlich
heruntergespielt wurden, durchmachen mussten.
Allein die Tatsache, wie sein Sohn ihn sieht, wirft einen
Schatten auf sein ansonsten fürsorgliches Denken und Handeln für
seinen Sohn, denn dieser traut sich offenbar nicht, seinem Vater ins
Gesicht zu sagen, was er denkt. Mag sein, dass dies von einem durch
Fieber geschwächten Kind nicht erwartet werden darf. Vielleicht
schon gar nicht, wenn dieser Mann vielleicht eben erst nach langen
Jahren der Abwesenheit wieder als Fremder in eine Familie
zurückgekehrt ist, die sich selbst längst verändert hatte.
Urvertrauen in einen Fremden wiederherzustellen gelingt nicht,
auch wenn der offene Schluss Hoffnung lässt, dass sich das auf lange
Sicht ändern kann.
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