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(Borchert-Text)
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Bausteine
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Eine angemaßte Zumutung
Gert Egle (2020)
Es
verläuft fast wie ein gründlich schief gehendes Blind date, was der Erzähler von ▪
Wolfgang Borcherts
Kurzgeschichte
▪ »Die
traurigen Geranien« über die Verabredung eines Mannes und
einer Frau erzählt.
Der Mann und die Frau, die in der ganzen Geschichte nie namentlich
bezeichnet werden, haben sich kennengelernt, als es "dunkel" gewesen
ist.
So knapp und letztlich unvermittelt fällt der Erzähleingang aus,
wie es für eine Kurzgeschichte typisch ist. Dabei werden keine
Informationen darüber gegeben, wo das geschehen ist und was dieses
Kennenlernen im Einzelnen ausgemacht hat. Für das Verständnis dessen,
was geschieht, als der Mann der Einladung folgt, die Frau in ihrer
Wohnung zu besuchen, reicht der Hinweis auf die Dunkelheit aus. Sie
haben sich jedenfalls bis zu seinem Besuch noch nicht bei Tageslicht zu
sehen bekommen. Mit fatalen Konsequenzen.
Und doch scheint ein Interesse aneinander entstanden zu sein,
auch wenn von Zuneigung oder gar Verliebtheit nirgendwo im Text die Rede
ist. Es hat aber immerhin bewirkt, dass die Frau den Mann zu sich nach Hause einlädt. Ihre
Motive dafür bleiben zunächst unausgesprochen und können erst im Zuge
der weiteren Lektüre aus ihren Handlungen und sprachlichen Äußerungen
auf der Textebene konstruiert und unter Heranziehung des eigenen
Vorwissens in einem Sinnzusammenhang konstruiert werden.
Der Mann, über dessen Alter und äußere Erscheinung ebenso wenig Angaben
gemacht werden, wie über seine soziale Stellung etc., ist "nun" einfach
da. Was ihn bewegt, der Einladung zu folgen, bleibt unerwähnt, und man
gewinnt schnell den Eindruck, dass er einfach mal auf sich zukommen
lassen will, was passiert. Der Erzähler jedenfalls, der ansonsten das
Geschehen auch immer wieder aus der Innensicht des Mannes in zitierter
Gedankenrede darbietet, lässt aus, dem Leser auf diese oder andere Weise
Einblick in Erwartungen des Mannes zu gewähren.
Nachdem er ihre Wohnung betreten hat - auch das ist noch ein
Rückgriff, der mit dem Plusquamperfekt der finiten Verbformen
als Vorzeitigkeit markiert ist -, führt sie ihn durch die Wohnung und zeigt
ihm "die Tischtücher und die Bettbezüge und auch die Teller und Gabeln,
die sie hatte." Dabei wird keine Unterhaltung der beiden erzählt.
Was auf den ersten Blick als etwas seltsam daherkommt, dass die Frau
nämlich verschiedene Haushaltsgegenstände zeigt, ist hingegen ein
Hinweis auf
ihre Hoffnungen und Absichten, die sie an diese Bekanntschaft knüpft.
Es
sind Gegenstände, die in der Zeit, zu der die Geschichte handelt, zur
herkömmlichen Aussteuer oder Mitgift gehören, die einer Frau entweder
von ihren Eltern geschenkt oder aber von der Frau selbständig in
eine Ehe eingebracht werden, um den neuen Hausstand mit dem Nötigsten zu
versorgen und das eigene Vermögen zu einer angemessenen Haushaltsführung
darzustellen. Für die Frau ist die Mitgift ein zentrales Element ihrer
Selbstdarstellung und steht für ihren "materiellen" Wert in einem
Geschlechterverhältnis, das für die romantische Liebe keinen Raum lässt.
Was einem Leser, der weiß, dass Borchert die Geschichte nach dem Zweiten
Weltkrieg schreibt oder der das semantische Feld mit den darin
auftauchenden Begriffen kennt, vielleicht an dieser Stelle schon bei der
ersten Lektüre auffällt, kann ein anderer erst rückwirkend in diesen
Bedeutungszusammenhang stellen, wenn die Heiratsvorstellungen der Frau
im Text konkretere Gestalt annehmen.
Die Erzählgegenwart setzt mit dem Tempuswechsel zum Präteritum im
letzten Satz des einleitenden Absatzes ein. Der Mann und die Frau haben
sich irgendwo in der Wohnung, über deren Größe und Mobiliar sonst,
abgesehen von dem später erwähnten Geranienfenster, nichts erwähnt wird,
hingesetzt und sitzen sich zum ersten Mal "bei hellem Tageslicht"
gegenüber.
Damit nimmt die eigentliche Geschichte ihren Lauf. Der Mann sieht in das
Gesicht der Frau und bemerkt, dass ihre Nase und insbesondere ihre
Nasenlöcher nicht so aussehen, wie er dies gewohnt ist. Während er wie
gebannt die Nase fixiert ist, gehen ihm, als zitierte Gedankenrede bzw.
innerer Monolog gestaltet, allerlei Dinge durch den Kopf, die zeigen,
dass er regelrecht schockiert darüber ist, was er da im Gesicht seiner
Bekanntschaft zu sehen bekommt: Eine auf ihn geradezu unangenehm
wirkende,
missgestaltete Nase, die "wie eine Gartenfrucht" aussieht, eine
auffällige Hautfarbe hat und dazu zwei Nasenlöcher hat, die "vollkommen
unsymmetrisch angeordnet", keine "Harmonie" ausstrahlen, unterschiedlich
groß sind, eines davon, so kommt es ihm vor, "gähnt ... wie ein
Abgrund". Alles zusammen wirkt so "dunkel und rund und unergründlich"
auf ihn, dass es ihm den Schweiß auf die Stirn treibt, so unerträglich
scheint ihm zu sein, dass die Nase aussieht, "als ob sie angenäht ist."
Für einen Moment bringt ihn das Problem, das er mit der vermeintlich
fehlenden Harmonie der Nasenlöcher hat, auf eine Idee, die er mit dem Begriff
der Harmonie assoziiert. Er denkt an die neuartigen Harmonien, die der
Maler und Bildhauer »Pablo Picasso (1881-1973) in seinen Werken ohne Berücksichtigung
gängiger Vorstellungen von Symmetrien gestaltet hat. Dabei könnten ihm,
nach all dem, was er über das Gesicht der Frau denkt, vor allem die »kubistischen
»Frauenporträts
des Künstlers vor Augen stehen.
Dass er im Anschluss mit seiner völlig unvermittelt geäußerten Frage zu
Picasso ins Leere läuft, weil die Frau offensichtlich mit dem Namen gar
nichts anfangen kann, scheint ihm auch diesen Weg, mit seinen Eindrücken
zurechtzukommen, zu verbauen. So bleibt ihm wohl nichts anderes übrig,
als mehr oder weniger direkt anzusprechen, was ihn umtreibt. Seine
Frage, ob die Frau einmal einen Unfall gehabt habe, überrascht diese
zwar kurz, doch kann sie sich, auch wenn er die Frage inhaltlich nicht
begründet, schnell einen Reim darauf machen.
Sie scheint nicht sonderlich überrascht und geht "geduldig" auf die
Frage ein, indem sie ihm erklärt, dass ihre Nase schon immer so aussehe.
Der Mann kann seine Emotionen kaum unter Kontrolle halten, vermeidet
aber seinem inneren Erstaunen
("Donnerwetter!") darüber, dass sie offenbar schon ihr ganzes Leben lang
mit diesem Aussehen zurechtkommt, freien Lauf zu lassen. Stattdessen
kanalisiert er seine innere Erregung in eine rhetorische Frage, die mit
der Interjektion "ach" eingeleitet und dem Adverb "wirklich" scheinbar
nur bekräftigt haben will, was sie gerade gesagt hat.
Die Frau sieht sich daraufhin gezwungen, ein anderes Bild als bloß das
Äußere von sich zu erzeugen. Nachdem ihre Selbstdarstellung mit ihren
Besitztümern (Aussteuer) offenbar nicht den gewünschten Eindruck
hinterlassen hat, beginnt sie sich nun selbst explizit zu
charakterisieren. Sie knüpft dabei, vom Erzähler als
Amplifikation
gestaltet, ohne darüber Bescheid zu wissen, an das an, was sich der Mann
über die fehlende Harmonie ihrer Gesichtszüge gedacht hat. Ihr
adversatives "Und-dabei-bin-Ich" gibt einen eindeutigen Hinweis darauf,
dass sie, vielleicht aus früheren Erfahrungen, weiß, was in dem Mann
vorgeht. Ihr Ton bleibt weich, signalisiert immer noch die Geduld, die
sie schon vorher gezeigt hat, als sie "flüstert", dass sie "ein
ausgesprochen harmonischer Mensch" sei. Und auch die Symmetrie, die ihr,
das scheint sie auch zu sehen, nicht gerade ins Gesicht geschrieben ist,
sei etwas, was sie geradezu liebe. Als Beleg dafür zeigt sie auf zwei
Geranienpflanzen am Fenster, die rechts und links, symmetrisch
angeordnet, das Fenster rahmen.
Sie weiß, dass sie ihren äußerlich wenig anziehenden Eindruck wettmachen
muss, ihre Attraktivität auf anderes stützen muss, als ein liebliches
Gesicht. Aus diesem Grund gipfelt ihre Selbstcharakterisierung auch in
einem eindringlich vorgebrachten Appell an den Mann, ihr einfach zu
glauben, dass sie "innerlich (...) ganz anders" sei. Sie sieht in der relativ
kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft und während des Besuchs keine
Chance, ihre inneren Werte handelnd zu zeigen, und so bleibt ihr nur,
mit den
beiden Begriffen Harmonie und Symmetrie im Kontrast zu ihren
Gesichtszügen auf diese sprachlich zu verweisen. Dabei spürt sie wohl,
dass der Nachweis ihrer Tüchtigkeit (Aussteuer), den Mann nicht so
beeindruckt hat, wie sie sich das gewünscht hat. Über anderes zu
sprechen, was die beiden verbinden könnte, scheint angesichts der
Entwicklung, die schon auf der Kippe zu stehen scheint, für beide kaum
mehr möglich.
Stattdessen macht die Frau dem Mann schöne Augen und versucht, ihm körperlich
näher zu kommen, indem sie ihm die Hand aufs Knie legt. Der Mann fühlt
sich durch "ihre entsetzlich innigen Augen", die "bis an den Hinterkopf
glühen" und durch die an sich harmlose Geste der Frau bedrängt, lässt
sie aber offensichtlich gewähren.
Die Frau scheint dies jedoch nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern setzt
alles auf eine Karte. Mit ihrer "etwas verschämt" vorgebrachten
Bemerkung, sie sei "doch auch durchaus für die Ehe, für das
Zusammenleben", artikuliert sie mehr oder weniger klar, welche
Hoffnungen und Erwartungen sie an den Mann bzw. die weitere Entwicklung
ihrer Beziehung zueinander hat. Indem sie sich auf diese Weise anbietet,
bekommt ihre zu Beginn präsentierte Aussteuer, ihre
Selbstcharakterisierung und ihre körperliche Annäherung einen Sinn. Den
Mann allerdings schreckt dies alles umso mehr ab.
Seine wie ein Vorwurf vorgebrachte Frage, ob sie eine Ehe vor allem
deshalb anstrebe, damit auch in ihrem Leben Symmetrie herrsche, macht
deutlich, dass ihm das alles viel zu schnell und viel zu nüchtern über
die Bühne geht und er sich den zweckrationalen Beziehungsvorstellungen der
Frau unter den für ihn sich geänderten Bedingungen offenbar in keiner Weise anschließen kann und will. So läuft auch
die "gütig" vorgebrachte Verbesserung der Frau, es gehe ihr dabei nicht
um Symmetrie, sondern um Harmonie ins Leere, denn der Mann hat sich
schon entschieden zu gehen.
Sie reagiert überrascht darauf und fragt eher zaghaft nach den Gründen,
als der Mann aber nicht darauf eingeht, bringt sie ihn zur Türe. Ein
letztes Mal betont sie, da sie wohl annimmt, dass der Grund für den
Abbruch des Besuchs ihr Aussehen ist, dass sie innerlich eben doch sehr
viel anders sei, als dies ihr Äußeres vermuten lasse.
Der Mann jedoch bleibt abweisend. In seinen Gedanken verschafft er sich
Luft - der Erzähler wechselt dabei in der kurzen zitierten Gedankenrede
zu einem wie von oben herab gesprochenen Du und kehrt zur Betrachtung
und Kommentierung ihrer Nase zurück, die er, dabei das Bild vom Anfang
der Begegnung steigernd, als eine "angenähte Zumutung" bezeichnet. Die
letzte Bemerkung, die er ihr gegenüber macht, artikuliert weder
inhaltlich noch emotional, was in ihm vorgeht, bleibt aber deshalb nicht
weniger ein Versuch, sich über die Frau und ihre Absichten geradezu
lustig zu machen, indem er ihren Hinweis auf ihre innerliche
Andersartigkeit als Farce abtut und mit dem nur äußerlich symmetrischen
Arrangement der Geranien am Fenster vergleicht.
Für die beiden scheint damit alles Nötige gesprochen, um den Besuch und
die Bekanntschaft als solche endgültig zu beenden. Ohne ein weiteres
Wort zwischen den beiden und ohne sich noch einmal umzusehen, geht der
Mann die Treppe hinunter. Als der unten aus der Haustüre tritt, hier
wechselt der Erzähler mehrmals kurz hintereinander
Wahrnehmungsperspektive, sieht die Frau, denen die Tränen in den Augen
stehen, wie der Mann, den sie mit so hohen Erwartungen gerade noch in
ihrer Wohnung empfangen hat, sich mit dem Taschentuch zweimal den
Schweiß von der Stirn wischt. Und im Wechsel zu einer narratorialen
Perspektive wird erzählt, was sie wegen ihren verweinten Augen nicht
sehen kann: Der Mann grinst erleichtert. Und mit der figuralen
Perspektive endet die Geschichte: Eine Personifikation versinnbildlicht,
dass auch die Geranien so traurig wie die Frau sind und einen traurigen
Geruch verströmen.
Der Aufbau einer Beziehung zwischen dem Mann und der Frau ist
gescheitert und die Suche nach den Gründen dafür, macht den Mann, der
über den äußeren Makel der Frau nicht hinwegsehen kann und will, schnell als den
eigentlich Verantwortlichen für die Entwicklung aus.
Aus seiner figuralen
Wahrnehmungsperspektive wird die Geschichte fast überwiegend erzählt, so
dass der Leser, dem auch Gedanken des Mannes als Introspektion
dargeboten werden, von Anfang nachvollziehen kann, was den Mann vom
ersten Augenblick, als er seine Bekannte im Hellen zu Gesicht bekommt,
nicht mehr loslässt.
Was er überhaupt von dem Besuch bei seiner erst
jüngst gemachten Bekanntschaft erwartet, kommt allerdings nicht zur
Sprache. Über ihn, seine äußere Erscheinung, seine Herkunft, sein Alter
oder seinen sozialen Status erhält man, wie schon erwähnt, keine Informationen. Was ihn im
Text als Figur charakterisiert, ist allein seine ablehnende Reaktion auf
das Gesicht der Frau und seine Kommunikation mit der Frau in einem
zeitlich nicht genau umrissenen, aber doch äußerst kurzen Rahmen während
seines Besuches.
Die Unterhaltung der beiden Figuren ist zum Teil in
szenischer Darstellung erzählt und eigentlich nur am Beginn der
Geschichte und am Ende wird die erzählte Zeit gerafft. In dem Gespräch
selbst bleibt der Mann, auch wenn es durchaus symmetrisch verläuft, eher
passiv, gibt von sich selbst nichts preis, zwingt aber die Frau durch
seine Frage, ob sie einen Unfall gehabt habe, sich zu erklären. An
keiner Stelle seiner in direkter Rede oder zitierter Gedankenrede
dargebotenen Äußerungen schimmert eine Spur von Sympathie, geschweige
denn Zuneigung, hindurch. Im Gegenteil: Seine "Entdeckung" schockiert
ihn in einer Weise, dass es ihm den Schweiß auf die Stirn setzt. Von
Anfang an hat man als Leser den Eindruck, ihm geht es nur noch darum,
aus der Situation wieder herauszukommen. Im Gespräch selbst jedenfalls
muss er diese Einstellung nicht mehr ändern, sondern nur noch weiter
bestätigen und eine ihm passend erscheinende Gelegenheit finden, die
Wohnung der Frau wieder zu verlassen und das Ganze für immer zu beenden.
Dass er unfähig ist, anderes an der Frau wertzuschätzen, und allein
auf das Äußere fixiert ist, lässt ihn indessen nicht nur selbstbezogen
und überheblich wirken, sondern zeigt auch seine Unfähigkeit zur
Empathie auf, die der aufkeimenden Beziehung unter Umständen eine
Perspektive hätte eröffnen können. Seine Entscheidung gegen die Frau ist
emotional und zugleich rational in seinem Frauenbild begründet, auch
wenn gerade dieses nur rudimentär und wiederum nur am Beispiel seiner
Reaktion auf den körperlichen Makel der Frau sichtbar wird. Wie er auf
das Vorführen der Gegenstände aus der Aussteuer der Frau reagiert,
bleibt dem Leser vorenthalten, spielt aber offenbar angesichts seiner
späteren Entdeckung für ihn keine Rolle mehr. Was ihm vorzuhalten ist,
resultiert aus einer kritischen Betrachtung seines Handelns während des
Gesprächs, bei dem er die Frau nur aus dem Grund in einer fast
entwürdigenden Art und Weise auflaufen lässt, ohne eine Sprache für
seine Irritation und spontan entstandene Antipathie zu finden, die nur
in einer empathischen und offenen Kommunikation darüber, was zwei
Menschen aneinander bindet, hätte überwunden werden können. Dazu kann er
sich nicht durchringen und nimmt damit in Kauf, dass die Frau, womöglich
zum wiederholten Mal, eine tiefe Enttäuschung erlebt.
Aber auch die Frau ist nicht nur Opfer. Sie verfolgt ihr Ziel, diesen
Mann für sich zu gewinnen von Anfang an zielstrebig, soweit dies aus
ihren äußeren Handlungen zu entnehmen ist. Über ihre Gedanken und
Gefühle dem Mann gegenüber äußert sie sich nicht und in der Geschichte
als Ganzes, die überwiegend aus der figuralen Perspektive des Mannes
erzählt ist, gibt es keine Stelle, die Aufschluss darüber geben kann,
was sie innerlich bewegt. Als sie erkennt, dass der Mann offensichtlich
mit ihrem Aussehen Probleme hat, findet sie keinen Weg, dieses Thema
offen anzusprechen, sondern verweist stattdessen, was ihr allerdings
kaum vorgehalten werden kann, auf ihre inneren Werte. Dabei bleiben
diese in ihrer Darstellung aber mehr als vage und dringen nicht zu jener
Konkretheit vor, die in einem solchen Fall eher angezeigt ist. Mit ihrem
körperlichen Annäherungsversuch, der an sich keineswegs "übergriffig"
oder zudringlich ist, verkennt sie allerdings, dass sich der Mann
während des ganzen kurzen Dialogs nicht an einer einzigen Stelle über
etwas anderes geäußert hat als ihre Nase. Woraus sie schließt, dass der
Mann "mehr" will oder gar das Gleiche wie sie, ist dem Text jedenfalls
nicht zu entnehmen. In jedem Fall glaubt sie wohl, dadurch dass sie sich
dem Mann mit ihrer Wohnung und Aussteuer, ihrem eingerichteten Zuhause
und ihren Vorstellungen von häuslicher Harmonie als Heirats-)Objekt
anbietet, den Mann für sich gewinnen zu können. Doch was sie auch an
inneren und äußeren Werten anbringt, es hat keine Chance, sich in einem
längeren Gespräch und einem längeren Kennenlernen praktisch zu erweisen.
Es kommt auf einen kurzen Augenblick an, der alles entscheidet und die
Frau scheint zu wissen, dass sie nicht viel Zeit hat, sich als Frau
attraktiv zu machen. So gewinnt ihr Bemühen um den Mann etwas
Schicksalhaftes, das sie, dafür stehen ihre Tränen am Ende der
Geschichte, selbst nicht in der Hand zu haben glaubt.
Eine Zumutung jedenfalls ist ihr Äußeres, wofür sie nichts kann, nicht.
Es überhaupt als solches zu bezeichnen, wie es der Mann am Ende in
Gedanken tut, ist eine selbstherrliche Anmaßung des Mannes, der sich
damit sogar noch selbst zum Opfer einer Zumutung stilisiert.
Ein weiterer Sinnzusammenhang kann über das Heranziehen des
historisch-sozialen Kontexts konstruiert werden, in den die Geschichte
gestellt werden kann. Dabei muss aber betont werden, dass der Text
selbst so gut wie keine Hinweise auf der Textebene gibt. Wenn dennoch
Inferenzen zur unmittelbaren Nachkriegszeit gezogen werden, dann
geschieht dies auf der Basis des Vorwissens über den Autor und vor allem
die in seinen Kurzgeschichten immer wieder auftretenden Themen und
Motiven.
Menschen, die jedes Gefühl füreinander verloren zu haben scheinen und
sich mit dem, was sie im Krieg erlebt haben in der schwierigen Zeit
danach zurechtfinden müssen und immer wieder daran scheitern, zeigen
sich in vielen Kurzgeschichten des Autors. Sie suchen oft verzweifelt
nach dem Strohhalm, der sie wieder zuversichtlich in die Zukunft blicken
lassen könnte, hoffen auf ein Leben in geordneten Verhältnissen. Die
Schrecknisse der Vergangenheit vergessen, lautete die Devise vieler
Überlebender, die fest darauf vertrauten, dass ein Leben in einer aus
dem öffentlichen Leben zurückgezogenen häuslichen Harmonie der beste Weg
in eine bessere Zukunft darstellen würde.
Eine Zeit für romantische Liebe jedenfalls war dies kaum. Millionen von
Frauen hatten ihre Männer im Krieg verloren, standen alleine, aber
durchaus selbstbewusst da, und waren oft froh, wenn sie einen der
übriggebliebenen Männer "ergattern" konnten, um nicht als "Fräulein" den
Rest ihres Lebens allein zuzubringen. Und was hätte einem Mann,
vielleicht sogar als unverheiratetem Kriegsheimkehrer, schwer
traumatisiert und unfähig zu tieferen Gefühlen und ohne jede Befähigung
zur Empathie, wohl besser passieren können, als sich, wie man
redensartlich sagt, in das gemachte Nest zu setzen, das ihm eine Frau,
die über die materiellen Voraussetzungen dafür verfügte, bereitete. In
jedem Falle
war es für Männer und Frauen eine Selbstverständlichkeit ihrer
persönlichen Lebensplanung, irgendwann zu heiraten, für Frauen wurde
eine Verehelichung sogar als wichtigstes Lebensziel ausgegeben. Zwar
konnten Frauen in der Nachkriegszeit, sofern sie einen selbstständigen
Beruf ergreifen konnten oder durften, auch ehelos leben, doch als
"Fräulein" seine Tage zu fristen, galt noch immer als Schicksal der
"alten Jungfern", die keinen Ehemann abbekommen hatten. Die Vorstellung,
man könne als Single ohne diese gesellschaftliche Stigmatisierung ein
erfülltes Leben führen, war zu dieser Zeit noch in weite Ferne gerückt.
(vgl. Glaser
o. J., Die 50er Jahre, S.81)
Ein Risiko, ob das gut gehen konnte, gewiss, aber nach dem Krieg eine
vielgeübte gesellschaftliche Praxis. Ein Grund sich darüber zu erheben,
und insbesondere die Frauen, die so handelten, zu kritisieren, ist dies
indessen nicht. Das zu erkennen ist etwas, was Borchert dem Leser am
Beispiel des "blinden" Mannes zumutet.