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Innerlich kaputt und nie mehr wie immer
von Gert Egle (2019)
Jeder hat heutzutage bei uns Bilder vom Krieg und von Menschen im
Krieg im Kopf. Die ganz Alten hierzulande und viele hundert deutsche
Soldaten, die im Ausland ihren Dienst in sogenannten "Friedensmissionen"
in Afghanistan, Mali oder sonstwo leisten, haben ihn unmittelbar erlebt,
viele Millionen andere glauben, ihn zu kennen durch die Bilder, die
ihnen durch die Medien vermittelt werden.
Wer Wolfgang Borcherts
Kurzgeschichte »Die
Küchenuhr« liest, die wird je nachdem, wie stark diese inneren Bilder
sind und welche Dynamik sie entfalten, sie schon nach den ersten Zeilen
mitnehmen, wenn er sich in die weitere Geschichte vertieft.
So kann es sein, dass man sich versetzt glaubt nach »Dresden
in die unmittelbare »Zeit
nach dem Feuersturm vom 14. Februar 1945, nach »Homs
in das vom jahrelangen Bürgerkrieg geschundene
Syrien oder in
das »jeminitische »Sa’da,
das die von »Saudi-Arabien
angeführte Militärallianz 2015 als Ganzes zu einem "militärischen" Ziel
erklärt und im Bombenkrieg verwüstet hat. Und unter und zwischen oder
auch ohne solche realitätsbezogenen Bilder können sich noch
"Kriegseindrücke" aus einschlägigen Hollywood-Blockbustern oder
virtuellen War-Games mengen.
Wolfgang Borchert hat seine Geschichte knapp zwei Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1947 verfasst und im selben Jahr wurde
sie in der Hamburger Allgemeinen Zeitung erstmals veröffentlicht.
Borchert, der wie kaum ein anderer als Autor die so genannte "Stunde
Null" repräsentiert, deren Menschen im ausgebombten und kriegszerstörten
Deutschland er in etlichen Kurzgeschichten und vor allem seinem
Heimkehrer-Drama "Draußen vor der Tür“ eine Stimme gab, starb noch im
gleichen Jahr im Alter von 26 Jahren an den Folgen seiner
Kriegsverletzungen, die er sich während mehrerer Einsätze an der Front
zugezogen hatte, wohin er, wenn er während des Krieges nicht wegen des
Verdachts auf Selbstverstümmelung und wegen Briefen, die angeblich
"heimtückisch“ gegen den NS-Staat und die Partei Hitlers gerichtet
waren, im Gefängnis saß, solange zur "Frontbewährung" abkommandiert
wurde, bis man ihm wegen Erfrierungen an beiden Füßen, Anfällen von
Gelbsucht und Fleckfiebers "Frontdienstuntauglichkeit" attestierte und
ihn wieder wegen "Wehrkraftzersetzung“ für neun Monate in
Untersuchungshaft steckte. Danach: Noch einmal "Strafaufschub zwecks
Feindbewährung", französische Kriegsgefangenschaft und Flucht daraus
nach Hamburg, wo er, ohne auf seinen gesundheitlichen Zustand Rücksicht
zu nehmen, auf dem Krankenlager unablässig schreibt und mit seinen
Werken einen regelrechten "Borchert-Rummel" auslöst. Kaum ein Autor hat
den Nerv seiner Zeit so getroffen, wie Wolfgang Borchert. Allerdings
bleiben im gerade mal zwei Jahre zum Schreiben seiner Werke, die oft
ohne ihren Gehalt auch nur annähernd zu erfassen oft einfach als
"Trümmerliteratur" bezeichnet werden.
Das Bild, das Borcherts Geschichte an ihrem Anfang erzeugt, ist, ein
Blick in bzw. auf ein "ganz altes Gesicht" (Z. 1f., 2, 61, Hervorh. d.
Verf.) eines jungen Mannes (Antithese),
der gerade mal zwanzig Jahre alt ist. Das Gesicht, das nicht zu einem
jungen Mann passt, der sich ansonsten noch so bewegt, wie das junge
Leute dieses Alters tun, fällt auch den Menschen sofort auf, als er auf
sie zukommt und sich zu ihnen auf die Bank setzt. Dem jungen Mann
scheint regelrecht ins Gesicht geschrieben zu sein, was er erlebt hat
und so erwähnt es auch der Erzähler erneut, als er berichtet, der junge
Mann "setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank." (Z.
2f.) Sein um Jahre gealtertes Gesicht spricht Bände und dennoch kommen
die Erlebnisse, die es bewirkt haben, zwischen den Banknachbarn, erwähnt
werden eine Frau mit einem Kinderwagen (Z. 14f.) und ein Mann (Z. 14,
25), nicht zur Sprache.
Der junge Mann beginnt zu reden, ohne angesprochen worden zu sein oder
ohne dass sonstige positiven Signale zur Aufnahme einer Kommunikation
von den anderen gesendet worden sind. Was er sagt, bewegt ihn offenbar
so, dass er es einfach aussprechen muss. Nachdem er die anderen auf die
Küchenuhr in seiner Hand aufmerksam gemacht hat (Z. 3), beginnt er daher
einfach von deren "Schicksal" zu erzählen. Bei der runden tellerweißen
Uhr handle es sich um ihre ehemalige Küchenuhr, die er "noch gefunden"
habe. Auch wenn sie "weiter keinen Wert" mehr habe, ohnehin nie
"besonders schön" gewesen, ihre Zeiger "natürlich nur aus Blech" gemacht
und stehengeblieben seien und nicht mehr funktionierten, sehe sie doch
"noch aus wie immer", wobei die blauen Zahlen, die die Uhrzeit auf dem
Zifferblatt markierten, "doch ganz hübsch" aussähen. (Z. 7-10)
Nicht nur die Art, wie er von der Uhr spricht, sondern auch die Art, wie
er sie behandelt, steht dabei in einem klaren Gegensatz zu seiner
geäußerten Einsicht, dass sie keinen weiteren Wert besitze. Wie er sie
ansieht, während er sie vor sich hält, sein fast liebevoll wirkendes
Abtupfen der blauen Zahlen auf dem Zifferblatt und die Vorsichtigkeit,
mit der er den Rand der Telleruhr mit der Fingerspitze umkreist,
beweisen, wie wichtig, ja wie wertvoll die Küchenuhr, "auch wenn sie
nicht mehr geht" (Z. 10f.) für ihn in seiner jetzigen Situation geworden
ist. Sie ist, das gibt der junge Mann kund, ohne dass er gefragt wird,
"innerlich ... kaputt" (Z. 10) "und doch noch ganz wie immer" (Z. 20).
Fast, so meint man, spricht er dabei auch von sich selbst.
Der unvermittelte Beginn der Geschichte gibt zunächst über die erzählte
Zeit, die Gegenwart, in der sich die Geschichte abspielt, hinaus nur
wenige Verweise auf Vergangenes außer dem im Perfekt und dem zweimaligen
"noch" angedeuteten, aber nicht explizit ausgeführten Ereignis, bei dem
der junge Mann die "übrig" gebliebene Uhr gefunden hat. (Z. 5, 11)
Auf diese Vergangenheit aber richtet sich damit das Interesse des
Lesers, der wissen will, wer oder was das nicht Erwähnte ist und was mit
dem anderen geschehen ist, von dem nur noch ein "Rest", die Küchenuhr"
und der junge Mann selbst "übrig geblieben" sind.
Die Personen auf der Bank kennen sich offensichtlich nicht. Kein Wort
der Begrüßung, kein Name fällt, nicht die Spur eines Smalltalks, wie
Menschen es oft tun, wenn sie nebeneinander auf einer Bank in der Sonne
sitzen. Sie sind ganz zufällig zusammengetroffen und der Leser erfährt
zunächst nicht mehr über den Ort und den Raum, wo die Begegnung
stattfindet. Eine Bank irgendwo, das reicht.
Obwohl er keinen seiner Banknachbarn kennt, richtet sich der junge Mann
direkt an sie und blickt sie, als er zu reden beginnt, "alle der Reihe
nach an" (Z. 4) Mag sein, dass dieser Versuch der Kontaktaufnahme zu
direkt ist und die anderen, warum auch immer, überfordert. Aber der
junge Mann will sich mitteilen sucht daher den Blickkontakt zu den
anderen. Diese aber weichen seinem Blick nicht einfach nur aus, sehen
weg, sondern sind allein mit sich selbst beschäftigt. Der Mann stiert
unablässig auf seine Schuhe (Z. 14) und der Blick der Frau ist auf ihren
auf ihren Kinderwagen fixiert. Sie sind zwar da, zeigen sich aber
irgendwie unnahbar und unerreichbar. "Lass uns in Ruhe" ist die
Botschaft, die sie beide an den jungen Mann mit ihrem Verhalten senden,
ganz im Sinne des "Axioms" von Paul Watzlawick "Man kann nicht nicht
kommunizieren".
Trotzdem scheint ihnen die seltsame Erscheinung und das seltsame
Verhalten ihres neuen Banknachbarn aufgefallen zu sein und auch die
merkwürdige Geschichte, die er ihnen erzählt hat, ist nicht auf gänzlich
taube Ohren gestoßen. Es vergeht aber eine Weile, ehe "jemand" (Z. 15),
selbst der Erzähler scheint überrascht, seine Vermutung in eine Frage
kleidet und dem jungen Mann damit mitteilt, dass er verstehe, was es mit
der Küchenuhr auf sich hat ("Sie haben wohl alles verloren?", Z. 16)
Es ist, also habe der junge Mann nur darauf gewartet, dass irgendjemand
auf ihn eingeht, denn offensichtlich erregt und dazu noch "freudig"
bestätigt er, dass er alles, "aber auch alles" (Z. 17) in der
Vergangenheit verloren habe. Vielleicht ist es nur die Freude darüber,
dass endlich jemand mit ihm spricht, aber irgendwie hat man als Leser
das Gefühl, dass ihm der innere seelische Kompass verlorengegangen ist,
um die zurückliegenden Ereignisse einzuordnen. Darüber sprechen will er
jedenfalls nicht und wertet die Frage, die an ihn gestellt worden ist,
nicht als ein Angebot, genau darüber zu reden, wen und was er und unter
welchen Umständen verloren hat. Dass es eine persönliche Katastrophe
gewesen sein muss, drängt sich dem Leser indessen auf.
Statt also darüber zu reden, zeigt er den anderen noch einmal die
Küchenuhr und lässt den Einwand der Frau, die seine Freude nicht
verstehen kann ("Aber sie geht doch nicht mehr", Z. 19), nicht gelten.
Er nimmt die Äußerung nur zum Anlass - das Ganze wirkt fast wie
eine Zwangshandlung - seine Uhr einmal mehr zu präsentieren, und
"aufgeregt" (Z. 21f.) mehr über die Geschichte der Küchenuhr zu
erzählen. Vielleicht will er damit dem Eindruck entgegenwirken, er sei
nicht ganz bei Verstand, wenn er eine kaputte Küchenuhr mit sich
herumtrage. "Das Schönste", so sagt er, habe er nämlich noch gar nicht
erwähnt, dass die Uhr "ausgerechnet um halb drei" (Z. 23) stehen
geblieben sei. Was die umgangssprachliche Ironie signalisiert, ähnlich
verhält es sich auch bei dem später von dem jungen Mann verwendeten Wort
"Witz" (Z. 30), wird hingegen erst im weiteren Verlauf der von ihm
erzählten Geschichte klar: Das „Schönste“ ist nämlich das Schlimmste,
was dem jungen Mann je widerfahren ist.
Es scheint nicht nur die wichtigtuerische Art, mit der sich jetzt der
Mann ins Gespräch einmischt, die den jungen Mann mit der Küchenuhr
offenbar in eine gewisse Rage bringt und wohl auch laut werden lässt.
Als der Mann nämlich einwirft, dass Uhren bei Bombenangriffen wegen der
dabei auftretenden Druckwelle stehenblieben und es im Falle der
Küchenuhr eben halb drei gewesen sei, geht seine sachlich-nüchterne und
rationale Erklärung, so richtig sie wohl auch ist, an der psychischen
Realität des jungen Mannes nicht nur vorbei, sondern trifft ihn auch an
seinem wunden Punkt: seinen Erlebnissen während einer Bombennacht, bei
der nur noch die Küchenuhr übriggeblieben ist. Ein
traumatisches Erlebnis, das sich eigentlich nicht "schön" reden
lässt.
So lässt sich der junge Mann nicht belehren und wehrt jede Erinnerung an
die Bombennacht ab ("Sie müssen nicht immer von Bomben reden.", Z. 29).
Stattdessen will er aus einer überlegenen Position heraus, den Mann nun
selbst belehren und ihm den "Witz" (Z. 30) an der ganzen Sache
mitteilen, dass er nämlich (sonst) "fast immer um halb drei" (Z. 32)
nach Hause gekommen sei.
Es hat den Anschein, als hätten seine Zuhörer verstanden, was sich an
dieser Stelle auch dem Leser enthüllt: In der Nacht, an dem die Bomben
ganz offensichtlich sein Zuhause getroffen haben, muss er später dran
gewesen sein, sonst wäre auch er wohl nicht mehr "übrig" bzw. am Leben.
Aber auch sie wollen nicht mehr darüber erfahren und bedrängen den
jungen Mann auch nicht, mehr davon zu berichten. Sie schauen ihn nicht
mehr an, was auch von dem jungen Mann bemerkt wird. Für das, was er dann
erzählt, findet er offenbar keinen Adressaten mehr außer seiner Uhr, der
er erzählt, was sich ereignet hat, wenn er gewöhnlich nachts um halb
drei von was auch immer nach Hause gekommen ist.
Es hört sich an wie eine Liebeserklärung an die eigene Mutter, was der
junge Mann in überwiegend
parataktischem
Stil erzählt. Stets sei seine Mutter nachts um halb drei
aufgestanden, sei barfuss in die Küche gekommen, habe ihm das späte
Abendessen mitten in der Nacht zubereitet, ihm beim Essen Gesellschaft
geleistet und dann, als er selbst sich schon zum Schlafen hingelegt
habe, noch das Geschirr gesäubert und weggeräumt. (Z. 35-48) Sie tat
dies offenkundig, ohne jemals wirklich darüber zu murren, dass es wieder
so spät war, auch wenn sie wohl immer wieder fürsorglich eine
entsprechende Bemerkung gemacht hat ("So spät wieder", Z 42, 48). Was
die Mutter ihm zuliebe jede Nacht getan habe, sei ihm "so
selbstverständlich" (Z. 49) erschienen, dass er niemals daran gedacht
habe, daran könne sich je etwas ändern. An dieser Stelle schimmert etwas
wie Schuld hindurch, die sich der junge Mann dafür gibt.
Für einen Moment hält er inne, versucht nach seiner leise artikulierten,
wohl eher rhetorischen Frage "Und jetzt?" erneut ohne Erfolg
Blickkontakt mit den anderen aufzunehmen. In diesem Und-Jetzt, das die
Vergangenheit und Gegenwart von der ungewissen Zukunft trennt, schimmert
die Hoffnungslosigkeit durch, mit der der junge Mann in die Zukunft
schaut. Weil er in den Menschen, die mit ihm auf der Bank sitzen, keine
wirklich verständnisvolle Zuhörer finden kann, vermenschlicht sich die
Küchenuhr für ihn so sehr, dass er ihr leise "ins weißblaue runde
Gesicht" (Z. 52) sagt (Personifikation),
er wisse, dass sein Leben früher, vor der Zeit also als die Uhr
stehengeblieben ist, das "Paradies" gewesen sei. Wie um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen, was damit gemeint sein könnte,
fügt er noch einmal an: "Das richtige Paradies." (Z. 53)
So unterstreicht er, dass in seinem Denken und Fühlen kein Platz (mehr)
für religiöse Vorstellungen vom biblischen Paradies ist, der Glaube an
Gott sich mit dem, was er erlebt hat, verflüchtigt hat. Das
verlorengegangene Paradies, von dem er spricht, ist irdisch, ganz
profan, ganz klein und eben doch das einzige, das Menschen jemals
erleben können. Trost auf ewiges Leben im Paradies? Fehlanzeige. Und:
"Auf der Bank war es ganz still." (Z. 51, 55)
Völlig unvermittelt meldet sich am Ende die Frau ein zweites Mal mit
einer kurzen Frage nach dem Schicksal seiner Familie zu Wort und bringt
den jungen Mann mit der Küchenuhr damit in Verlegenheit. (Z. 55)
Im Stakkato seiner knappen elliptischen Sätze, die er nach der
Vergewisserungsfrage, ob sie wissen wolle, was mit seinen Eltern
geschehen sei, äußert ("Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles,
stellen Sie sich vor. Alles weg.", Z.55f.) scheint für einen Moment
aufzublitzen, welche Kraft es ihn kostet, die Vorstellungen vom Tod der
Eltern in der Bombennacht, in der er nur durch Zufall überlebt hat, zu
verdrängen.
Und die anderen auf der Bank spüren wohl auch, dass nicht nur, um den
jungen Mann selbst zu schonen, sondern wohl auch um nicht eigenen
traumatischen Erfahrungen Raum zu geben, weitere Fragen nicht am Platz
sind.
So bleibt auch der letzte Versuch des Mannes lächelnd Blickkontakt mit
ihnen aufzunehmen und das zufällige Treffen zu einer echten Begegnung zu
machen, erfolglos. (vgl. Z.57) Ein traumatisiertes Kollektiv kann seinen
Mitgliedern eben nicht helfen.
Daher bleibt der junge Mann auch am Ende mit seinem Schicksal allein. Es
ist das vom Erzähler zweimal erwähnte Lachen, das ihn aus seiner
kurzfristigen Beklemmung befreit und ihn wieder an den Anfang seiner
Erzählung von der Küchenuhr zurückbringt, woran "(ja) das Schönste ist,
dass sie ausgerechnet um halb drei stehen geblieben ist." (Z. 59) Ohne
es je so auszusprechen, weiß er, dass er nur einem Zufall sein eigenes
Überleben verdankt: "Ausgerechnet" an dem Tag, an dem die Bomben seine
Eltern getötet haben, ist er nicht wie "sonst fast immer" (Z. 32),
sondern später als sonst nach Hause gekommen.
Am Ende ist alles gesagt, wenn auch nicht ausgesprochen, und der junge
Mann schweigt (Z. 61), so wie auch die anderen auf der Bank tun.
Zugleich ist aber klar, dass sich kriegstraumatisierte Menschen in sich
zurückgezogen und auf sich allein gestellt keine Hilfe sein können. Der
junge Mann hat weiterhin "ein ganz altes Gesicht" und bleibt von ihm
gezeichnet. Der Mann neben ihm stiert weiter auf seine Schuhe, die er
nicht einmal sieht, und denkt "immerzu an das Wort Paradies" (Z. 62f.).
Welchen Sinn er ihm gibt, geht im offenen Schluss der Geschichte unter.
Das Bild, das Wolfgang Borchert mit seiner Geschichte vom Krieg und den
Zivilisten, die darunter zu leiden haben, vermittelt, wirkt gemessen an
realen Kriegserfahrungen, aber vor allem an den medialen Bildern aller
Art, die den Krieg in unsere Köpfe tragen, geradezu harmlos. Die
Sprache, mit der erzählt wird, tut das ihre dazu, dem erzählten
Geschehen einen Anstrich von Alltäglichkeit und Normalität zu geben:
Sachlich, nüchtern, in der direkten Rede umgangssprachlich kommt daher,
was über das Geschehen erzählt wird. Der Verzicht auf die korrekte
Zeichensetzung bei der direkten Rede lässt Erzählerbericht und wörtliche
Rede oft ineinander übergehen, ohne dass ihr jeweiliges Ende immer
markiert ist.
Der
neutrale Er-Erzähler gibt keine eigenen Bewertungen des Geschehens
ab, d. h. er greift weder als erkennbare
auktoriale Erzählerpersönlichkeit ins Geschehen ein, noch wählt er
die individuelle Optik bzw. Wahrnehmungsperspektive einer anderen
Figuren.
In der neutralen Variante der
personalen Erzählperspektive zieht sich der Erzähler hier also ganz
aus der Figurenwelt zurück, selbst wenn sein Standort sich mitten in der
Welt des Geschehens befindet. Nur einmal und zwar ganz am Ende, wird das
sonst durchgehende Showing
durchbrochen, welches das Geschehen sonst wie vor einer Kamera ablaufen
lässt, als der Erzähler kurz die Perspektive des Mannes wählt, um in
einer Innensicht ausdrücken zu können, dieser denke "immerzu an das Wort
Paradies." (Z 45) Diese Erzähltechnik, die auch ganz und gar darauf
verzichtet, Näheres über die vorkommenden Figuren zu vermitteln, soll
insgesamt erreichen, dass die überwiegend als
szenische
Darstellung dargebotene Geschichte eine weitgehend unmittelbare
Wirkung auf den Leser entfalten kann.
Was der Krieg ist und was er für die Figuren der Geschichte bedeutet,
ist in einer unvermittelt beginnenden Kurzgeschichte mit offenem Schluss
gestaltet, die wie eine alltägliche Geschichte daherkommt. Zugleich
lässt sie mit der vordergründig banalen Küchenuhr-Geschichte tief in die
Seele der Figuren blicken, die, emotional abgestumpft, unfähig sind,
über ihre Erlebnisse und Gefühle zu sprechen, verdrängen, was geht,
frühere Überzeugungen verloren haben und denen das Grundvertrauen in die
Mitmenschen und die Welt abhanden gekommen ist. Innerlich kaputt und nie
mehr wie immer. Wie die Küchenuhr eben, die irreparabel ist. Ein Symbol
für das verlorengegangene "richtige" Paradies, das nie mehr zurückkehrt,
irreversibel.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023