Die Besonderheiten des
Stils von Wolfgang Borchert
Die Sprache von ▪
Wolfgang Borcherts ▪
Kurzgeschichten ist nicht sofort nach jedermanns Geschmack. Sie
unterscheidet sich von unserer Alltagssprache und zeigt deutlich auf,
dass sie ästhetisch, mit dem Ziel eine bestimmte Wirkung beim Leser zu
erzielen, gestaltet ist.
Besonders ins Auge
fallen Leserinnen und Lesern bei der Lektüre von ▪
Wolfgang Borcherts ▪ Kurzgeschichten
meistens fünf sprachliche Besonderheiten, die neben anderen Borcherts
Schreibstil in besonderer Weise kennzeichnen:
Ganz allgemein "lebt
(Borcherts Prosa) (...) von der Überstilisierung" (Große
1991/82017, S. 90), die von sprachlichen
Extremsituationen, überdrehten Neologismen, Wortbildungen von extremer
Länge ebenso gekennzeichnet ist wie von parataktischen Reihungen.
Ziel des Einsatzes
dieser sprachlich-stilistischen Mittel ist es, "sprachliche
Möglichkeiten gegen das Verstummen bzw. die überall lauernde
unaussprechliche Wirklichkeit" (ebd.,
S. 91) zu mobilisieren.
Die Beutung der
Aufzählungen, Amplifikationen und Wiederholungen sowie der Reihung
Dabei erreicht
Borcherts Sprache besonders durch den Einsatz von Wiederholungsfiguren
seine eindringlichen ▪
Wirkungsakzent,
denn mit diesen auf besonders wichtige
Bedeutungsaspekte
hinzuweisen und die Texte zu rhythmisieren. Die "Wiederholung von
Kernbegriffen oder Kernformulierungen" geschieht dabei in Form von
verkürzten Sätzen (Ellipsen) ebenso wie in Form vollständiger, meist
einfacher Hauptsätze. Indem sie dabei oft in einen anderen Kontext
gestellt werden, sollen sie sie jeweils im Zuge einer
Amplifikation
(Verdeutlichung durch Variation) ihren Bedeutungsgehalt erweitern. (vgl.
ebd.)
Borcherts Sprache
"sammelt, häuft, steigert; sie ersetzt das Unaussprechliche, eigentlich
Gemeinte durch die Addition von Teilaspekten." (Schulmeister
1976, S.188ff.)
-
Seine bewusste
Verwendung von Aufzählungen (oft als
periphrastische
Reihung) fungiert bei ihm "als Ersatz für die fehlende Vokabel". (ebd.)
-
Die Wiederholungen
umschreiben das "Nicht-Genannte, Unbenennbare" (ebd.)
Mit den Verfahren,
Amplifikation, Addition und Wiederholung, spart Borchert damit eine
genauere und konkretere Gestaltung des Hintergrundes und situativen
Kontextes bewusst aus, um dගìUගìUîšìU£šìUH·œìU·œìU@6·œìU dargestellte Geschehen, mitunter bis hin ins Groteske, zu verfremden.
(vgl. ebd.)
Sprache und Stil in
Borcherts "Mein bleicher Bruder"
Der nachfolgende Auszug aus dem Originaltextes annotiert im Text selbst
sprachlichstilistische bzw. rhetorische Mittel, mit denen ▪
Wolfgang Borchert seine Kurzgeschichte ▪ "Mein
bleicher Bruder" gestaltet.
Dabei kommt es nicht auf vollständige
Erfassung sämtlicher Mittel an. Die Auswahl bestimmt sich vor allem
danach, welche Mittel sich besonders gut in den
Funktionszusammenhang von Inhalt, sprachlicher Gestaltung und Aussage
stellen lassen können. Dabei versteht sich von selbst, dass diese
Auswahl, je nach Deutungsansatz, der verfolgt wird, natürlich auch etwas
anders ausfallen kann.
[ Noch
nie (Hyperbel) war etwas so
weiß wie dieser Schnee (Vergleich). Er war beinah blau davon.
Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte (Personifikation) kaum gelb zu sein von
diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber
(Hyperbel, (Enallagé
Vertauschung) (nur Schnee könnte sauber sein) gewesen wie
dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber
(adversative Konjunktion, den Gegensatz zum Vorigen betonend) der Schnee war neu
und sauber (Wiederholung) wie ein Tierauge (Vergleich).
Kein Schnee war jemals so weiß wie dieser
an diesem Sonntagmorgen. (Hyperbel,
Parallelismus) Kein (Anapher) Sonntagmorgen war jemals so sauber
(Hyperbel,
Parallelismus). Die
Welt, diese schneeige Sonntagswelt (Neologismus),
lachte (Personifikation)
(Klimax).
Parataktische Reihung]
[ Aber (adversative Konjunktion, den Gegensatz zum Vorigen
betonend)
irgendwo gab es dann doch einen Fleck. Das war ein Mensch, der im Schnee
lag, verkrümmt, bäuchlings, uniformiert (Trias). Ein Bündel Lumpen
(Ellipse). Ein lumpiges
Bündel (Doppeldeutigkeit) von Häutchen und Knöchelchen
(Verniedlichung, Diminutiva) und Leder und Stoff. (Polysyndeton, Katachrese) Schwarzrot
überrieselt von angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare (Paradoxon,
Pleonasmus), perückenartig
(Vergleich) tot (Ellipse).
Verkrümmt den letzten Schrei in den Schnee geschrien, gebellt oder
gebetet (Alliteration,
Trias) vielleicht (Ellipse): Ein Soldat
(Ellipse). Fleck
(Wiederholung) in dem niegesehenen Schneeweiß der
saubersten aller Sonntagmorgende. (Hyperbel,
Ellipse) Stimmungsvolles Kriegsgemälde,
nuancenreich, verlockender Vorwurf für Aquarellfarben (Ellipse): Blut und Schnee
und Sonne (Ellipse,
Trias). Kalter kalter Schnee (Verdoppelung,
Gemination) mit warmem dampfendem Blut drin.(Ellipse) Und
über allem die liebe Sonne (Ellipse).
Unsere liebe Sonne (Emphase,
Ellipse). Alle Kinder auf der Welt
sagen: die liebe, liebe Sonne. (Verdoppelung,
Gemination Und die bescheint einen Toten, der den
unerhörten (Doppeldeutigkeit) Schrei aller toten Marionetten schreit: Den stummen
fürchterlichen stummen Schrei
(Oxymeron). Wer unter uns
(Apostrophé)
Satzabbruch), steh auf bleicher Bruder, (direkte Adressierung)
oh (Interjektion),
wer unter uns ( (Apostrophé,
Wiederaufnahme) hält die stummen Schreie
(Oxymeron) der Marionetten aus, wenn sie
von den Drähten abgerissen so blöde verrenkt auf der Bühne rumliegen? (rhetorische
Frage) Wer, oh, wer unter uns ( (Apostrophé,
Parallelismus) erträgt die stummen Schreie der Toten? Nur der
Schnee hält das aus, der eisige. Und die Sonne (Ellipse).
Unsere liebe Sonne. (Wiederholung,
Ellipse), vorwiegend
Parataktische Reihung]
Vor
der abgerissenen Marionette stand eine, die noch intakt war. Noch
funktionierte .((Doppeldeutigkeit,
Ellipse) Vor dem toten Soldaten stand ein lebendiger
(Antithese). An diesem
sauberen Sonntagmorgen im niegesehenen weißen Schnee
(Wiederholung) hielt der Stehende
an den Liegenden folgende fürchterlich stumme Rede
(Oxymeron):"
Im weiteren Text
werden die oben annotierten sprachlich-stilistischen und
rhetorischen Mittel immer wieder eingesetzt und variiert.
Besondere
Bedeutung haben aber noch weitere Aspekte, wie z. B.
-
die
Farbsymbolik von weiß, grau und rot
-
die
Verwendung des Adjektivs fürchterlich als zur Steigerung ("den
stummen fürchterlichen stummen Schrei", "fürchterlich stumme
Rede", "fürchterlich grau"
-
den Verzicht
auf die Kennzeichnung der direkten Rede mit
Anführungszeichen
( ▪
Verzicht auf Markierung als Stilmittel)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023
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