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Draußen, außen und innen tot
Gert Egle (2020
Einspruch! Diese Welt, die einem da dargeboten wird, lacht nicht, auch
wenn der (auktoriale) Erzähler dies am Ende seiner Beschreibung der
Schneelandschaft weismachen will. Und selbst wenn sie es könnte: In
dieser toten Schneelandschaft draußen vor der Bunkeranlage, in der sich
ein paar Soldaten im Krieg verschanzt haben, gibt es nichts zu lachen.
Und zu einem "stimmungsvollen Kriegsgemälde", mit in einander fließenden
"Aquarellfarben" wird es auch nicht, so sehr er sich bemüht, seine
Elemente "nuancenreich" in einem Gesamtbild zu einer konsistenten
Komposition zu fügen. Draußen vor der Bunkeranlage wartet der Tod und
hat zugeschlagen. Winteridylle sieht anders aus!
Dabei betont der Erzähler gleich zu Beginn der Geschichte die
Einzigartigkeit der Welt draußen: "noch nie" sei "etwas so weiß" gewesen
"wie dieser Schnee." Aber schon dieser Vergleich verrutscht. Eigentlich,
so fährt er fort, sei er nämlich gar nicht weiß, sondern "blaugrün". Ein
abgetöntes blaugrünes Weiß und damit kaltes Weiß, das zu der Kälte, die
draußen herrscht, passt. So kann auch die etwas später als "niegesehenes Schneeweiß"
bezeichnete Farbe der
Welt draußen kein Leben einhauchen. Es glitzert nichts, nirgends tanzen
Lichtpunkte über der Schneefläche, nur "kalter kalter Schnee", wie es
etwas später heißt, der "neu und sauber (war) wie ein Tierauge" bestimmt
die Wahrnehmung. Auch dieser Vergleich mit dem Tierauge wirkt schief und
kann die Komposition nicht retten, die eigentlich wie eine Schneewüste
wirkt, tot und ohne Leben.
Nichts ragt aus dem fürchterlich weißen, d. h. zu
weißen bzw. übertriebenen Weiß der Schneefläche heraus, was einen
Schatten werden könnte. "Nur hinten" am Horizont ist die Schneefläche
begrenzt von einem
"dunkelblauen Wald", der die surreale Farbe der kalten Blautöne annimmt, mit
denen es die Sonne mit ihrem warmen Gelb gar nicht aufzunehmen wagt. Die
wärmende Gelb ihrer Strahlen erreicht die Welt nicht, sondern wird vom
blaugrünen Schnee absorbiert. Die Farbe Weiß, die symbolisch immer
wieder mit Reinheit und Sauberkeit, aber auch mit Unschuld in Verbindung
gebracht wird, ist verkümmert. Das Weiß hat, wie man im zweiten
Abschnitt der Geschichte erfährt, seine Unschuld verloren.
Es ist ein Sonntagmorgen, an dem der Krieg, der in der Nacht auch hier
getobt hat, für einen Moment zum Stillstand gekommen scheint. Aber auch
auch die Beschreibung des Sonntags misslingt. Statt das Adjektiv sauber
auf den weißen Schnee zu beziehen, wie er es später auch tut, verwendet
der Erzähler es als Attribut für den Sonntagmorgen, zu dem es eigentlich
nicht passt. Diese Vertauschung (Enallagé) verfremdet die Atmosphäre und
lässt zusammen mit der sprachlich-stilistischen Eintönigkeit der
Beschreibung mit ihren zahlreichen wörtlichen Wiederholungen,
grammatischen
Parallelismen, den kaum anschaulichen und/oder schrägen Vergleichen
(Tierauge) sowie der
parataktischen, das Ganze nicht zu einer einheitlichen sinnlichen
Wahrnehmung fügenden
Reihung kein Bild einer Winteridylle, sondern das einer abweisen
Landschaft entstehen, die keine Spur von Leben zeigt.
Ein
niemals vorher so sauberer Sonntagmorgen (hier an der Front), wie der
Erzähler meint. Doch die Sonntagsruhe trügt. Es ist eine Totenstille,
kein Luftzug, kein Geräusch weit und breit. Und: Es gibt nichts zu
lachen in dieser "schneeigen Sonntagswelt", in der die Sonne
es nicht einmal wagt (Personifikation),
gelbe Strahlen zur Erde zu schicken, es sei denn die Welt lachte (Personifikation) nur
über sich selbst, weil eben nichts stimmig ist und wirklich zueinander
passt.
Dass das Bild vom sauberen Sonntagmorgen im "niegesehenen Schneeweiß"
wie eine herbeifantasierte Fata Morgana wirkt, die ein Zerr- und
Wunschbild der Welt draußen darstellt, signalisiert das adversative
"Aber", mit dem der zweite Abschnitt beginnt.
Der über die Schneeeinöde wandernde Blick des auktorialen Erzählers
bleibt an einem "Fleck" im Schnee hängen, der sich bei genauerem
Hinsehen als ein toter Soldat entpuppt. Ein kurzer Blick auf den mit dem
Gesicht in einer verkrümmten Haltung vornüber im Schnee liegenden toten
Soldaten dessen Schicksal der auktoriale Erzähler dem Leser aber noch
vorenthält, genügt, um zu sehen, dass der Mann tot ist.
Zunächst, so scheint es, lässt der Erzähler den eigentlichen furchtbaren
Anblick aber nicht an sich heran, sondern tastet mit den Augen Details
ab,
die eine seltsam distanzierte Sicht auf den Toten signalisieren. Er
nimmt ihn als ein "Bündel von Lumpen" wahr, steigert diese Wahrnehmung
sogar mit einer Umwertung zu einem "lumpigen Bündel", ob bloß erbärmlich
oder schmutzig im Gegensatz zum sauberen Schnee bzw. "sauberen
Sonntagmorgen" gemeint ist, bleibt offen. Feststeht nur, dass die
verniedlichenden Formen (Diminutiva) wie "Häutchen und Knöchelchen" in
der polysyndetisch mit und verbundenen Aufzählung sich nicht zu
einem einheitlichen Bild fügen. Und auch die anderen Details, an denen
der Blick des Betrachters hängenbleibt, lassen sich nicht wirklich zu
jener konsistenten Komposition eines Kriegsgemäldes miteinander
verbinden, mit denen der Erzähler seinen visuellen Wahrnehmungen Sinn zu
geben versucht. Und doch scheint der Farbkontrast des sich im Schnee
abzeichnenden roten Blutes den Erzähler auf diesen Gedanken zu bringen.
Das beschönigend wirkende Bild des mit schwarzrotem
angetrockneten Blut "überrieselten" Leichnams passt in diese
Rahmung des Geschehens noch am besten hinein, doch die unsinnig
paradoxe Steigerung mit der Formulierung "sehr tote Haare" sprengt den
Rahmen des vermeintlichen Kriegsgemäldes, in dem die Elemente "Blut und
Schnee und Sonne" (Polysyndeton) angeblich wie Aquarellfarben friedlich
ineinanderfließen. Und auch sinnlich transzendieren die Assoziationen,
die den Erzähler in ihrem Kontrast beschäftigen ("kalter kalter Schnee
mit warmen dampfenden Blut drin"), die auf das Visuelle begrenzte Bild
des Kriegsgemäldes.
Mit der Bemerkung "und über allem die liebe Sonne", die den Versuch
dieser Sinngebung und Rahmung des Wahrgenommen abrundet, nimmt die
Denkbewegung des auktorialen Erzählers eine andere Richtung. Statt
visueller Eindrücke, die mit dem kognitiven Deutungskonstrukt des
Kriegsgemäldes verbunden worden waren, geht es fortan um die emotionale
Verarbeitung des Anblicks, die dem Erzählten eine ganz andere Dynamik
verleiht.
Mit der Bemerkung "unsere liebe Sonne", die als Apostrophé an
den Leser gerichtet ist, beginnt ein eindringlich gestalteter und von
hohem emotionalen Involvement geprägter Teil des Erzählerberichts, der
mit mehreren, im grammatischen Parallelismus gestalteten, zweimal mit
der Interjektion "oh" als Ausdruck verzweifelten Schmerzes
unterbrochenen, rhetorischen Fragen, den seelischen Schmerz des
Erzählers stellvertretend für alle Überlebenden des Krieges
thematisiert. Der Erzähler ist, das wird damit ebenso deutlich, ist nah
dran am Geschehen (Nahperspektive) und erzählt nicht aus einer spürbar
räumlich und zeitlichen Distanz, und doch ist die narratoriale
(auktoriale Perspektive) immer deutlich. Das ändert sich auch nicht
dadurch, dass das Folgende das Innenleben des Erzählers selbst zum Thema
macht.
Die "liebe, liebe Sonne" ist eine kindliche Vorstellung von Welt, die
zwar, das zeigen die Assoziationen des Erzählers, leicht zu evozieren
ist, aber mit dem tatsächlichen Sein und Verhalten der Sonne überhaupt
nichts gemein hat. Alles was die Sonne tun kann, ist scheinen, und so
scheint sie auch einfach im Krieg, bescheint wie auch hier im Schnee den
Toten.
Die animistische Vorstellung von der lieben, wärmenden, dem Menschen und
dem Leben zugewandte Sonne greift daneben. Sie ist teilnahmslos und hält
aus, was eigentlich kein Überlebender des Krieges, der dessen Grauen
erfahren hat, aushalten kann: "den unterhörten Schrei aller
Marionetten", "den stummen fürchterlichen stummen Schrei" (Wortspiel:
fürchterlich als eigenständiges Adjektiv, im Unterschied zu seiner
Verwendung als Gradpartikel in der Formulierung "fürchterlich weiß").
Erstmals taucht das an die Endzeitstimmung im Barock erinnernde Motiv
der Welt als "Bühne" auf, das schon mit dem Hinweis auf die
perückenhaften Haare angedeutet worden ist. Damit beginnt ein anderer
Versuch des Erzählers, das dargestellte Geschehen zu rahmen.
Was auf dieser Bühne im Winterkrieg zur Darstellung gebracht wird, ist
das Spiel von Marionetten. Wer sie an ihren "Drähten" bewegt, wird nicht
genannt. So folgen sie, solange sie nicht "von den Drähten", die ihnen
allein, wenn auch nur scheinbar Leben einhauchen können, "abgerissen"
sind, ihrem ihnen eingeschriebenen Programm (des Krieges), in dem man,
egal was passiert und was von einem verlangt wird, wie später ausgeführt
wird "Einfach: Jawohl" sagt, Befehlen widerspruchslos folgt, ohne sie zu
hinterfragen.
Der Erzähler hört die "unerhörten Schrei aller toten Marionetten", die
noch im Tod Anklage erheben, aber weder im Hier und Jetzt noch von Gott
erhört werden. Und mit seinen rhetorischen Fragen an die Überlebenden,
die teilnahmslosen Zuschauer und Leser, gibt er diese Anklage mit seinen
beiden rhetorischen Fragen direkt an den Leser weiter, schließt sich
selbst als Betrachter und Darbieter des erzählten Geschehens aber mit
ein.
In seiner Verzweiflung fordert er sogar den "bleichen Bruder",
stellvertretend für alle geopferten Marionetten, die "von den Drähten
abgerissen so blöde verrenkt auf der Bühne rumliegen", auf, selbst
aufzustehen und seine stummen Schreie tatsächlich in die Welt
hinauszuschreien, auch wenn er weiß, dass das nicht geht. Und doch ist
sein Appell an den Toten, der im Text damit erstmals wie im Titel der
Geschichte, aber ohne das dort verwendete Personalpronomen, als Person
und sogar als Bruder, im Tode erbleicht, bezeichnet wird, auch ein
Appell an den Leser, die Toten dieses Krieges als seine Brüder
anzunehmen. Erst später in der Geschichte bekommt die Bezeichnung eine
andere Wertung.
Mit seinen
eindringlichen Fragen mahnt er, dass niemand, der die stummen Schreie
der Toten, "in den Schnee geschrien, gebellt oder gebetet vielleicht"
hört, damit in Ruhe mehr leben kann, es sei denn man vereist innerlich
wie der Schnee oder versteckt sich hinter einer verlogenen, gänzlich
teilnahmslosen Fassade wie die Sonne, die als einzige selbst die stummen
Schreie der Toten aushalten können.
Der nachfolgende kurze Erzählerbericht führt einen Perspektivenwechsel
herbei. Dieser lässt den Erzähler, der bei seiner Hinführung noch im
Bild des grotesken Marionettentheaters bleibt, gänzlich hinter der
personalen Perspektive des Soldaten verschwinden. Die von diesem in
einer "fürchterlich stummen Rede", in einem inneren Monolog geäußerten
Gedanken, bringen auch alles zum Verstummen, was der Erzähler gerade
noch mit seiner eindringlichen Mahnung an die Überlebenden und die Leser
artikuliert hat.
Für das, was der Soldat im Angesicht des vor ihm liegenden Toten äußert,
so scheint, es fehlen auch dem Erzähler die Worte. Es wäre ein Leichtes
für ihn, die Vorgeschichte und die Motive des Sprechers zu erläutern und
trotzdem macht er davon keinen Gebrauch, was natürlich auch dem
Spannungsaufbau der Geschichte dient, die erst am Ende preisgibt, wie es
zu dem Tod des im Schnee krepierten Soldaten gekommen ist. Indem der
auktoriale Erzähler das Wort quasi an den personalen Erzähler übergibt,
überlässt er den Leser, ohne kommentierend in das Folgende einzugreifen,
der personalen Sicht der Figur. Was aus dieser herausschreit, bleibt
aber stumm wie die stummen Schreie der Toten. Und: Die lebende, noch
intakte Marionette, die vor dem Toten steht, hört deren Schreie nicht.
Und das, obwohl, oder besser gerade, weil sie ihn bestens kennt. Was
folgt, ist, vom inneren Zusammenhang des Ganzen her gesehen, eigentlich
eine ganz andere Geschichte, die abgesehen von dem Toten im Schnee mit
verschiedene Motiven (Farbmotiven ebenso wie dem Motiv des "bleichen
Bruders") mit der ersten verknüpft ist, aber einer kohärenten
Sinnkonstruktion für das ganze erzählte Geschehen der Kurzgeschichte
seltsam im Wege steht.
Was die vor dem Toten stehende Person denkend spricht, erträgt nicht nur
wie der Schnee und die Sonne, was sie sieht, sondern sie verhöhnt den
Toten aktiv, dessen Anblick sie in eine Erregung versetzt, die sie kaum
kontrollieren kann. Kein Anflug von Mitleid, keine Andeutung auf das dem
Tod des Soldaten vorangehende Geschehen in der Nacht zuvor, sondern eine
tiefe Genugtuung darüber, dass der zu seinen Kameraden zählende
Gefallene einen grausamen Tod gefunden hat. Nichts kontrastiert mit den
den Appellen des auktorialen Erzähler im vorangegangen zweiten Abschnitt
der Geschichte mehr als das den inneren Monolog einleitende "Ja. Ja. ja.
Ja ja ja." das die innere Erregung des Sprechers ausdrückt. Was ihn
befriedigt, so formuliert er im Anschluss, ist das die ewige zur Schau
getragene guten Laune des Toten, sein Lachen und seine "Weiber"geschichten
auf diese Weise ein Ende gefunden haben. In einer Reihe von rhetorischen
Fragen wendet er sich wie in einem realen Gespräch an den Toten, den er
ironisch immer wieder als "mein Lieber" anspricht. Er steigert sich in
seinen Hohn so hinein, dass er sogar den vom Todeskampf gezeichneten
Kriegskameraden in seiner "blöden Stellung" nach dem Bauchschuss ("Ach
so, hast einen in die Eingeweide gekriegt") weiter verunglimpft. Mit
seinen Äußerungen, er habe sich "mit Blut besudelt", sehe
"unappetitlich" aus und habe sich mit dem Blut "die ganze Uniform
bekleckert" entwürdigt er den Toten weiter.
Erst nach und nach wird deutlich, warum der Soldat, wie sich später
herausstellt, der Leutnant, den Toten mit Spott und Hohn überzieht. Vor
seine Augen treten im inneren Monolog Bilder, die diesen als
Frauenhelden charakterisieren, der stets auf sein Äußeres bedacht
gewesen ist. Zum ersten Mal klingt durch, dass der Tote, seine Art und
sein Verhalten von dem personalen Erzähler schon seit geraumer Zeit als
unangenehm erlebt worden ist. Hinter der Genugtuung darüber, dass es
jetzt (endlich) mit der ewig guten Laune, die so gar nicht zu den
Kriegsereignissen passen will, aus ist, zeigt sich eine Antipathie, die
sich aber selbst nach dem Tod des andern nur in stummer Rede Bahn
brechen kann. Dazu kommt die unverhohlene Schadenfreude darüber, dass es
die Weiber des Toten jetzt mit anderen treiben. Und wie wenn es darauf
ankäme, macht der Soldat sich noch darüber lustig, dass der Tote jetzt
nicht einmal mehr auf drei zählen könne. Dass der Mann im Schnee tot
ist, das bestätigt er sich schließlich noch einmal selbst, "ist gut so,
sehr gut so."
Erst aus dem Folgenden wird klar, weshalb der Leutnant keinerlei
Mitgefühl zeigt. Er selbst ist nämlich eine zutiefst gekränkte, tief
verletzte Person, die schon seit ihrer Kindheit wegen eines "kleinen
Defekts", wie er sagt, einem hängenden Augenlid und einer weißen,
"käsig" wirkenden Gesichtsfarbe mit Worten gedemütigt worden ist. Das
ist der Grund, weshalb er, der selbst Opfer anderer war, kein Mitgefühl
mit diesem Gefallenen hat, der ihn immer wieder, zu seiner eigenen
Erheiterung und unter dem Beifall der Zuhörer "Mein bleicher Bruder
Hängendes Lid" genannt hat. Jedes Mal, wenn diese Bemerkung gefallen
ist, hat sie Öl in die offenen Wunden gegossen, die sich seit der Zeit,
als er in der Schule schon wegen des vermeintlichen körperlichen Makels
systematisch gemobbt worden ist, nie mehr geschlossen haben. Ob der Tote
darüber Bescheid wusste oder nicht, ob er sich einfach darüber darüber
hinwegsetzte oder nicht, lässt der Text offen. Seine spöttische
Bemerkung, die mit der Namensgebung an kindliche Indianerspiele
erinnert, hat aber die Kraft, die leidvollen Erfahrungen des kindlichen
und erwachsenen Leutnants so miteinander zu verbinden, dass im Leutnant
eine seelische Dynamik befeuert wird, der er sich wie als kindliches und
jugendliches Mobbingopfer auch jetzt völlig hilflos ausgesetzt sieht.
Dabei hätte er, wie erst später klar wird, als Vorgesetzter des
gefallenen Unteroffiziers, durchaus Mittel in der Hand gehabt, sich der
Respektlosigkeit des Untergegebenen zu erwehren. Die herabsetzende
Bemerkung "Mein bleicher Bruder Hängendes Lid" knüpft dabei in gewisser
Weise an Namensgebungen der amerikanischen Ureinwohner (Indianer) an,
die, wenn man jemand namhaft gemacht hatte, Namen verwendeten, die an
persönlichen Stärken ansetzten. Der vermeintliche körperliche Makel des
heranhängenden Lids dreht dies aber in sein Gegenteil um. Und auch die
Verwendung des Adjektivs "bleich" ist nicht "indianischen" Ursprungs.
Die Indianer sprachen stets von den Weißen und erst in der Romanwelt z.
B. in »James
Fennimore Coopers (1789-1851)
"Lederstrumpf"-Zyklus (Original: The Leatherstocking Tales) wird von
"Bleichgesichtern" (pale face) gesprochen. Ob der Unteroffizier, der mit
seiner spöttischen Bemerkung möglicherweise auch auf die auffällig weiße
Gesichtshaut des Leutnants anspielt, und auch damit mitten hinein in die
seelischen Wunden des Leutnants trifft, sich der Tragweite seiner
frötzelnden Bemerkung bewusst ist, bleibt offen. Die darin zum Ausdruck
kommende Respektlosigkeit, eine Grenzverletzung auf die die Umstehenden
stets mit beifälligem Lachen reagieren, führt jedenfalls nicht dazu,
dass er den ranghöheren Leutnant als Kommandeur des Gefechtsstandes in
Frage stellt. Als dieser ihm nämlich den Befehl erteilt, sich auf den
Weg zum Kommandostand des Bataillons zu machen, führt er auch diesen
Befehl ohne Murren aus.
Für den Leutnant ist die Bemerkung "Mein bleicher Bruder Hängendes Lid",
die er immer wieder ertragen hat, und die in ihm die verächtlichen Worte
von Mädchen in seiner Jugend genauso immer wieder in Erinnerung rufen,
wie die Demütigungen in der Schule, in der die Mobber ihn "gequält" und
auf ihm "wie die Läuse herumgesessen" haben, eine so tiefe Verletzung,
dass die Tatsache, dass er den Unteroffizier quasi in den Tod geschickt
hat, wie eine persönliche Rache erscheint. Wird das Opfer damit zum
Täter?
Nach einer kleinen zeitlichen Aussparung wird die äußere Handlung der
Geschichte aus der personalen Sicht des Leutnants weitererzählt, dessen
militärischer Rang dabei ebenso zum ersten Mal erwähnt wird wie der
Raum, nämlich ein militärischer Bunker, in dem sich das Folgende
abspielt. In einem kurzen, in direkter Rede dargebotenen Dialog mit
einem Feldwebel, der ohne Sprechermarkierung oder Anführungszeichen in
den personalen Erzählerbericht eingebettet ist, gibt der offenbar den
Gefechtsstand kommandierende Leutnant den Befehl den offenbar schon
vermissten Toten zu bergen. Es sind ein Dutzend Gestalten mit grauen
Gesichtern, denen die Farbe des Lebens abhanden gekommen ist, schon als
Lebende fast so bleich wie die Toten, die sich daranmachen, den
Gefallenen, der, wie der Leutnant sagt, "geholt werden muss", draußen
vor der Bunkeranlage zu bergen. Für einen Moment scheint es, das
signalisiert die Frage des Feldwebels an den Leutnant, ob sie den Toten
überhaupt bergen sollen, als sei dies unter den gegebenen Umständen
nicht unbedingt zu erwarten.
Währenddessen bleibt der Leutnant zurück und beginnt sich zu lausen. Ein
Bild, dass mit den von ihm in seiner inneren Hasstirade evozierten
Erinnerungen, als die anderen auf ihm wie Läuse herumgesessen hatten,
korrespondiert. Allerdings macht er sich jetzt beim Lausen auf die Jagd
nach den lästigen Plagegeistern, will die fangen und töten, die ihm auf
ihre Art das Leben schwer machen. Während er auf die hinausgegangen
Kameraden vor dem Blechofen wartet, ziehen an ihm noch einmal die
Ereignisse vorbei, die am Abend zuvor zu dem Tod des unweit vom Bunker
schon zusammengeschossenen Kriegskameraden geführt haben.
In Form der erlebten
Rede und personalem Erzählerbericht, in den einige Passagen in
direkter Rede, hier aber mit einer
Inquit-Formel
eingeleitet und mit einem Doppelpunkt, aber wiederum ohne
Anführungszeichen markiert, wird aus der Sicht des Leutnants erzählt,
was in der Nacht zuvor passiert ist und den Tod des gefallenen Soldaten
im Schnee zumindest indirekt verursacht hat. Und: der Tote erhält in
diesem Teil der Geschichte einen militärischen Rang (Unteroffizier) und
als einzige der Figuren einen Nachnamen (Heller).
Im Rückblick kommt zur Sprache, dass ein Melder des Bataillons offenbar
den Befehl überbracht hat, dass jemand aus dem Bunker sich zum
Kommandostand des Bataillons zu begeben hat, um dort wohl weitere
Befehle entgegenzunehmen. Dabei, so ist der erlebten Rede zu entnehmen,
wird zwar offenbar gewünscht, dass der Leutnant sich selbst auf den Weg
macht, befohlen wird es ihm als Person aber offenkundig nicht ("Da
sollte einer zum Bataillon kommen", "Und einer musste zum Bataillon.").
So bleibt ihm als Kommandeur der Bunkeranlage Spielraum, darüber zu
entscheiden, wer diesem Befehl nachkommen soll. Eine Weile lang scheint
er unschlüssig und horcht, wohl um die Lage draußen vor dem Bunker und
die Gefährlichkeit, sich zum Bataillon durchzuschlagen, einschätzen zu
können. Dabei stellt er fest, dass "es( ..) noch nie so geschossen
(hatte) wie in dieser Nacht, das Risiko also außerordentlich hoch war,
im Kugelhagel des Feindes umzukommen oder schwer verletzt zu werden. Und
die Nacht erlebt er wie ein Vorzeichen des Todes so schwarz wie zuvor,
als er den Melder wieder im Dunkel dieser Nacht wieder davonziehen
sieht. Während er offenbar noch mit einer Entscheidung ringt, wer den
Befehl des Bataillons ausführen soll, hört er, wie Unteroffizier, wie
immer bester Laune, singt und die Kameraden "in einer Tour" mit seinen
Weibergeschichten unterhält. In der Runde der Bunkerbesatzung, die den
Befehl offenbar mitbekommen hat, zieht Heller den Leutnant wieder einmal
in seiner wie gewohnt auf den Beifall der anderen spekulierend auf,
verwendet dabei aber nicht die Bemerkung "Mein bleicher Bruder Hängendes
Lid", sondern spielt auf den insgesamt wohl schwächlichen körperlichen
Zustand des Leutnants an, auf dessen durchscheinenden Rippen "man ja
Xylophon spielen" könne, als er ihm rät, nicht selbst zum Bataillon zu
gehen, sondern "erst mal doppelte Ration" zu beantragen. Für den
Leutnant ist klar, dass die ganze Bunkerbesatzung, auch wenn er in der
Dunkelheit des Bunkers kein einzelnes Gesicht hatte ausmachen kann, den
gelungenen "Witz" auf seine Kosten mit einem beifälligen Grinsen
quittierte. Seine Reaktion darauf ist weniger Kalkül als aus der Not
geboren: "einer musste zum Bataillon." Ohne längere Worte darüber zu
verlieren, reicht seine harmlos klingende Aufforderung an Heller ("Na
Heller, dann kühlen Sie Ihre gute Laune mal ein bisschen ab.") um zu
signalisieren, wen er zum Bataillon befiehlt, nämlich Heller. Dieser
befolgt den Befehl ohne jede Widerrede, sein "Jawohl", das die einzig
mögliche Antwort in dem System von Befehl und Gehorsam darstellt, um
nicht der Befehlsverweigerung oder der Feigheit bezichtigt werden zu
können, korrespondiert mit dem Bild der Marionetten, die der Erzähler im
ersten Teil kritisch beleuchtet hat. Beide, Leutnant und Unteroffizier
sind Marionetten, die solange funktionieren, bis sie "von den Drähten
abgerissen" irgendwann "blöde verrenkt auf der Bühne rumliegen".
Dementsprechend ist die Tatsache, dass es den Unteroffizier mit
"Bauchschuss" erwischt grausame Kriegsroutine, die alle Überlebenden nur
dadurch "bewältigen" können, dass sie den äußeren Tod nur mit ihrem
eigenen inneren Tod, ihrem Abstumpfen gegenüber der täglichen Begegnung
mit jenem, in Schach halten.
Als die anderen mit dem toten Heller in den Bunker zurückkehren, zeigt
sich der Leutnant weiterhin innerlich tot und ohne jedes Mitgefühl. Wie
zur eigenen Selbstvergewisserung flüstert er sogar, wagt es aber vor den
anderen noch immer nicht laut zu sagen, dass er froh ist, dass der tote
Heller ihn nicht mehr mit dem Spruch "Mein bleicher Bruder Hängendes
Lid" demütigen kann. Während er dies flüstert, knackt er ein Laus die
ihn piesackt, knackt sie mit dem Daumennagel und setzt sich damit einen
"kleinen Butspritzer" auf die Stirn.
Der Blutspritzer ist eine Anspielung auf das Kainsmal der
alttestamentarischen Geschichte der Brüder Kain und Abel, den beiden
ältesten Söhnen Adams und Evas. Kain erschlägt darin seinen Bruder Abel,
weil Gott dessen Opfer vorzog. Damit wurde er, wenn man der biblischen
Geschichte folgt, zum ersten Mörder. Kain wird von Gott zur Rechenschaft
gezogen und für seine Tat von ihm verstoßen. Zugleich setzt er ihm das
so genannte Kainsmal auf die Stirn, damit alle anderen, die ihn wegen
seines Verbrechens nun auch erschlagen wollten, sähen, dass er noch immer
unter dem Schutz Gottes stehe und jeder, der ihn erschlage, noch viel
härter bestraft werde.
In Borcherts Geschichte ist es keine höhere, göttliche Instanz, die dem
Leutnant das Kainsmal auf die Stirn setzt, sondern letztlich er selbst.
Aus seiner Perspektive betrachtet ist und bleibt es "nur" ein "kleiner
Blutspritzer". Als Symbol ist dieser aber ein von Borchert bewusst
gesetztes Signal, mit dem er die Rezeption der Leutnant-Geschichte
steuern will. Es lenkt seine Aufmerksamkeit am Ende auf die Frage der
Schuld, die unbeantwortet bleibt und den Kern des für die Kurzgeschichte
offenen Schlusses in dieser Geschichte darstellt, die eigentlich mit der
Bergung des Toten abgeschlossen ist. Das Kainsmal selbst beantwortet die
Frage nach der Schuld nicht, auch wenn es den Leutnant als Person, wenn
auch nur flüchtig zeichnet. Als Mörder stigmatisiert ihn der "kleine
Blutspritzer" jedenfalls nicht. Seine Entscheidung, Heller in einer
äußerst gefährlichen Lage zum Bataillon zu schicken, ist zwar durchaus
persönlich motiviert, aber entlastet den Leutnant als Marionette, dessen
Entscheidungsfreiheit in dem System der "Jawohl"-sagenden Marionetten
nicht in Frage steht. Es ist aber ein System, das darauf beruht, dass
draußen, außen und innen alles und alle schon tot sind, ehe sie ihr
Leben aushauchen. Es ist ein Zerrbild der Entmenschlichung, die Menschen
im Krieg zu Marionetten werden lässt, die unfähig sind, human zu
handeln. Wer den Leutnant zu einem feigen Mörder stempelt, hat den Sinn
des Kainsmals nicht verstanden.