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Text 1:
"Das Wesentliche am epischen Theater ist vielleicht, dass es nicht so
sehr an das Gefühl, sondern mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert.
Nicht miterleben soll der Zuschauer, sondern sich auseinandersetzen."
Text 2:
Im Gegensatz zum traditionellen Theater soll der Zuschauer im
epischen Theater Brechts
"nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr
gekidnappt werden; im Gegenteil sollte er in seine reale Welt eingeführt
werden, mit wachen Sinnen."
Text 3:
"Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch
schon gefühlt. ‑ So bin ich. ‑ Das ist nur natürlich. ‑ Das wird immer so
sein. ‑ Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg
für ihn gibt. ‑ Das ist große Kunst: das ist alles selbstverständlich. ‑
Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.
Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. ‑
So darf man es nicht machen. ‑ Das ist höchst auffällig, fast nicht zu
glauben. ‑ Das muss aufhören. ‑ Das Leid dieses Menschen erschüttert mich,
weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. ‑ Das ist große Kunst: da ist
nichts selbstverständlich. ‑ Ich lache über den Weinenden, ich weine über
die Lachenden."
Text 4:
"Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der
Mensch die Variable, seine Umwelt die Konstante ist."
Text 5:
"Den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinander einnehmen,
nennen wir den gestischen Bereich. Körperhaltung, Tonfall und
Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen Gestus bestimmt; die
Figuren beschimpfen komplimentieren, belehren einander usw. Zu den
Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, gehören selbst die
anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichen Schmerzes
in der Krankheit oder die religiösen. Diese gestischen Äußerungen sind
meist recht kompliziert und widerspruchsvoll, so dass sie sich mit einem
einzigen Wort nicht mehr wiedergeben lassen…"
Text 6:
"Wir sprechen ferner von einem Gestus. Darunter verstehen wir einen
ganzen Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art zusammen mit
Äußerungen, welcher einem absonderen Vorgang unter Menschen zugrunde liegt
und die Gesamthaltung aller an diesem Vorgang Beteiligten betrifft
(Verurteilung eines Menschen durch einen anderen Menschen, eine Beratung,
einen Kampf und so weiter) oder einen Komplex von Gesten und Äußerungen,
welcher, bei einem einzelnen Menschen auftretend, gewisse Vorgänge
auslöst… Ein Gestus bezeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander."
Text 7:
"Gestisch ist eine Sprache, wenn sie auf dem Gestus beruht, bestimmte
Haltungen des Menschen anzeigt, die dieser anderen Menschen gegenüber
einnimmt […].
Nicht jeder Gestus ist ein gesellschaftlicher Gestus. Die Abwehrhaltung
gegen eine Fliege ist zunächst kein gesellschaftlicher Gestus, die
Abwehrhaltung gegen einen Hund kann einer sein, wenn zum Beispiel durch
ihn der Kampf, den ein schlecht gekleideter Mensch zu führen hat, zum
Ausdruck kommt. […]
Der gesellschaftliche Gestus ist der für die Gesellschaft relevante
Gestus, der Gestus, der auf die gesellschaftlichen Zustände Schlüsse
zulässt."
Text 8:
"Es ist der Zweck des V-Effekts, den allen Vorgängen unterliegenden
gesellschaftlichen Gestus zu verfremden. Mit sozialem Gestus ist der
mimische und gestische Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen
gemeint, in denen die Menschen einer bestimmten Epoche zueinander stehen."
Text 9:
"Was ist Verfremdung?
Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem
Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte,
Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Bewunderung zu erzeugen."
Text10:
"Vorgänge und Personen des Alltags, der unmittelbaren Umgebung haben
für uns etwas Natürliches, weil Gewohntes. Ihre Verfremdung dient dazu,
sie uns auffällig zu machen."
Text 11:
"Eine verfremdete Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar
erkennen, ihn aber zugleich als fremd erscheinen lässt."
[1]Brecht,
Betrachtung über die Schwierigkeit des epischen Theaters, in, ders.,
Schriften zum Theater, Bd.1, S.184f.
2]Brecht,
Betrachtung über die Schwierigkeit des epischen Theaters, in, ders.,
Schriften zum Theater, Bd.1, S.100
[3]Brecht,
Über eine nichtaristotelische Dramatik, in: ders., Schriften zum Theater
3, Frankfurt/M. 1963,
4]Brecht,
Über eine nichtaristotelische Dramatik, in: ders., Schriften zum Theater
3, Frankfurt/M. 1963, S.99
[5]Brecht,
Kleines Organon für das Theater, 61
6]Gestik,
in: Brecht, Über den Beruf des Schauspielers, Frankfurt/M. 1970, S.92
7]Brecht,
Kleines Organon für das Theater, 61
8]Brecht,
Neue Technik der Schauspielkunst, in: Schriften zum Theater 3, S.163
9]Brecht,
Neue Technik der Schauspielkunst, in: Schriften zum Theater 3, S.101
[10]Brecht,
Neue Technik der Schauspielkunst, in: Schriften zum Theater 3, S.163
[11]Brecht,
Kleines Organon für das Theater, 42
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