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(Text) (zeno.org)
▪ I. Teil, 12. Kapitel (Text)
▪
Ausdruckwerte der literarischen Stilistik
In der Stilbeschreibung poetischer/literarischer Texte durch ▪
Wilhelm Schneider (1885-1979)
sind die sogenannten ▪
Ausdruckswerte
die maßgeblichen
makrostilistischen
Textzeichen auf der zweiten Ebene der Stilbeschreibung. Sie können in
gewisser Weise auch als
Stilzüge
bezeichnet werden.
Für
Schneider
(1931) sind Goethes »"Wahlverwandtschaften"
(1809)
"verhältnismäßig begrifflich"
(Schneider 1931,
S.31). Mit der ▪
Kategorie des begrifflichen Stils als einem Pol des Ausdruckwertes ▪
begrifflich vs. sinnlich, bezeichnet Schneider mit Gradunterschieden
zwischen den beiden Polen (vgl.
ebd.,
S.14) den besonderen Bedeutungsaspekt dieses Stilzuges.
Grundsätzlich kann der
Ausdruckswert
im Werk eines Autors, aber auch in einem einzelnen Text zwischen den
beiden Polen der Kategorie (▪
begrifflich vs. sinnlich) auch wechseln und sich vermischen.
Aber auch im
Zuge der Sprach- und Literaturentwicklung kann der Ausdruckswert
eines bestimmten sprachlichen Phänomens einen verschiedenen
Charakter annehmen, auch wenn ein bestimmter "Grundwert" (Schneider 1931,
S.11) als "Regelwert" (ebd.,
S.12) auf Konvention beruht.
Die sprachlichen
Hauptmerkmale des begrifflichen Stils sind nach
Schneider
(1931, S.36ff.):
-
Die
sprachliche Gestaltung belässt ihren Gegenstand
in seiner wirklichen Gegebenheit und spricht in
abstrakter Weise von ihm (Ggs. Ausdruckswerte,
die wirkliche Gegebenheit umformen);
-
Es ist ein
abstrakter und knapper Stil, der Sinnfälliges
ins Geistige, das Einmalige und Besondere ins
Allgemeine und Typische, das Konkrete ins
Abstrakte überträgt (vgl.
Schneider 1931,
S.36). Damit findet immer wieder ein "Zusammenziehen sinnlicher Einzelheiten
zum Begriff" (ebd.,
S.38) statt.
-
Es kommen vermehrt
abstrakte Substantive auf –ung, –heit, –keit
vor, zudem oft ohne Adjektive
-
Metaphern und direkte Rede kommen nur äußerst
selten vor
Der Roman von ▪
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) beschreibt den "Modelfall
einer zerbrechenden Ehe" (ebd.). Man hat den Roman früher auch gerne als "Roman
des moralischen Ehebruchs" (Hirsch
1883 , S.120) bezeichnet, weil er "die heiligste
Institution der modernen Gesellschaft, die Ehe, als eine in vielfacher
Hinsicht zweckwidrige Einrichtung blosszulegen" (ebd.)
suche.
Es ist die Geschichte
des Barons Eduard und seiner mit ihm ihn zweiter Ehe verheirateten
Jugendliebe Charlotte, die auf dem Landgut des Barons in abgeschiedener
Zweisamkeit ganz füreinander zu leben beabsichtigen. Durch das
Hinzukommen von zwei weiteren Personen, dem Hauptmann Otto, einem Freund
des Barons, und Ottilie, der Nichte und Pflegetochter Charlottes, die
als häusliche Gehilfin eingestellt wird, "kann das Kräftespiel der
Wahlverwandtschaften beginnen." (Eilert
91974, S.212)
Während der Hauptmann
und Charlotte ihrer wachsenden Neigung entschlossen entgegenzutreten
suchen, gibt sich Eduard seiner unbedingten und maßlosen Liebe zu
Ottilie völlig hin." (ebd.,
S.212) Goethe, der sich auch intensiv mit Naturwissenschaften befasste,
bezog sich mit dem Titel seines Romans und der "»chemischen
Gleichnisrede«, die er der Figurenkonstellation zugrunde legte" (ebd.,
S.211) auf den in seiner Zeit in der Chemie üblichen Begriff der
Wahlverwandtschaft. Damit bezeichnete man die Eigenschaft bestimmter
chemischer Elemente, sich bei der Annäherung anderer Stoffe ganz
plötzlich von aus ihren bis dahin bestehenden Verbindungen zu lösen, und
mit den "Neuankömmlingen" eine quasi "wahlverwandtschaftliche" Beziehung
einzugehen. Indem Goethe "dieses an chemischen Elementen beobachtete
Kräftespiel von Anziehung und Abstoßung auf menschliche Verhältnisse" (ebd.)
und auf die Wahlverwandtschaften seiner Protagonisten überträgt, geht es
ihm darum, "das Problem von Freiheit und Notwendigkeit im
sittlichen Bereich darzustellen." (ebd.)
Der begriffliche Stil
als Ausdruck der Erzählerhaltung
Dem
naturwissenschaftlichen Begriff der Wahlverwandtschaften
entsprechend ordnet der Erzähler der
"Wahlverwandtschaften" vier Hauptgestalten nicht nur so an, wie es dem
chemischen Vorgang der Ablösung bestehender und dem Eingehen neuer
Verbindungen der Elemente (Wahlverwandtschaften) entspricht, sondern nimmt
auch gegenüber den
Einstellungen und Reaktionen der Figuren eine "beobachtende, fast
distanzierte Haltung eines Naturforschers ein" ((ebd.), was das dargestellte Geschehen "nicht
psychologisch, sondern nur symbolisch (...) verstehen" (ebd.)
lässt.
Dieser Befund lässt sich
auch durch die Stilanalyse erhärten, die
Schneider
(1931, S.31-36) am Beispiel des 12. Kapitels des ersten Teils
vornimmt und dabei die Hauptmerkmale des begrifflichen Stils mit
entsprechenden Textstellen belegt und kommentiert.
-
So findet er in diesem
einen Kapitel "nicht weniger als 32
abstrakte Substantive auf –ung
vor, deren auf –heit und -keit sind auch nicht wenige." (ebd.,
S.34, Hervorh. d. Verf.). Dabei werden z. B. Empfindungen der
Figuren "ein begrifflich ausgesprochen." (ebd.,
S.35).
Am Beispiel des Kapitelbeginns und des Kapitelendes wird dies
besonders deutlich:
-
(Kapitelbeginn)
"Als die Gesellschaft zum Frühstück wieder zusammenkam,
hätte ein aufmerksamer Beobachter an dem Betragen der
einzelnen die Verschiedenheit der innern Gesinnungen
und Empfindungen abnehmen können. Der Graf und die
Baronesse begegneten sich mit dem heitern Behagen, das
ein Paar Liebende empfinden, die sich nach erduldeter
Trennung ihrer wechselseitigen Neigung abermals
versichert halten."
-
(Kapitelende)
"Immer
gewohnt, sich ihrer selbst bewusst zu sein, sich selbst zu
gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste
Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu
nähern; ja sie musste über sich selbst lächeln, indem sie des
wunderlichen Nachtbesuches gedachte. Doch schnell ergriff sie
eine seltsame Ahnung, ein freudig bängliches Erzittern,
das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich
auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur,
den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft,
Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern
vorüber. Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt. Bald
ergreift sie eine süße Müdigkeit und
ruhig schläft sie ein." (Hervorh. der abstrakten Substantive, d.
Verf., vgl. (ebd.,
S.34f.)
"Immer gewohnt" klinge dazu wie eine "zusammenfassende
Inhaltsangabe" (ebd.,
S.35)
-
Adjektivattribute, die
einen sinnlichen Ausdruckwert haben, fehlen bis auf die Ausnahme von
dreien: "von
einigen alten Eichbäumen",
"mit einer zarten weiblichen Hand", "der
über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch"
-
Was den Sinnen
zugänglich wäre, wird ins Geistige, das Konkrete ins Abstrakte und
vor allem das Besondere ins Allgemeine und Typische gewendet
"dagegen Charlotte und Eduard gleichsam beschämt und reuig dem
Hauptmann und Ottilien entgegentraten. Denn so ist die Liebe
beschaffen, dass sie allein recht zu haben glaubt und alle anderen
Rechte vor ihr verschwinden."
-
kein einziger
Vergleich und keine Metapher
-
keine individuelle
Färbung der Sprechweise der Figuren
-
direkte Rede kommt
nur insoweit vor, als damit wesentliche Punkte bzw. der Gedankenkern
aus dem Gespräch hervorgehoben werden kann; ansonsten Redebericht:
"Eduard,
liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem jeden, immer schonend, oft
billigend. Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war,
bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, dass er, der sonst
über die scheidende Gesellschaft immer das strengste Zungengericht
ergehen lasse, heute so mild und nachsichtig sei.
Mit Feuer und herzlicher Überzeugung rief Eduard: »Man muss nur Ein
Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle
liebenswürdig vor!« Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte
sah vor sich hin."
oder auch: Verkürzung und Verbegrifflichung der Rede
"Zu den Entschuldigungen
eines längeren Außenbleibens lächelte Eduard heimlich. ›O wie viel
zu früh kommt ihr!‹ sagte er zu sich selbst."
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Ausdruckwerte der literarischen Stilistik
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024,
an die moderne Rechtschreibung behutsam angepasst
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