Am 4. Mai 1771
Wie froh bin ich, dass ich weg
bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den
ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß,
du verzeihst mir's. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht
ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme
Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt' ich dafür, dass, während die
eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung
verschafften, dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und
doch - bin ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen genährt?
Hab' ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur,
die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst
ergetzt? Hab' ich nicht - o was ist der Mensch, dass er über sich klagen
darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich
bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksal vorlegt,
wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige
genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast
recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie
nicht - Gott weiß, warum sie so gemacht sind! - mit so viel Emsigkeit der
Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen
Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter
zu sagen, dass ich ihr Geschäft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht
davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das böse
Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere,
heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter
Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre
Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre, alles
herauszugeben, und mehr als wir verlangten - kurz, ich mag jetzt nichts
davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich
habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, dass
Missverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen
als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiss seltener.
Übrigens befinde ich mich hier
gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser
paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller
Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß
von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von
Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.
Die Stadt selbst ist
unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur.
Das bewog den verstorbenen Grafen von M., einen Garten auf einem der Hügel
anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die
lieblichsten Täler bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich
bei dem Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein
fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen
wollte. Schon manche Träne hab' ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen
Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und auch meines ist.
Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir zugetan, nur seit
den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei befinden.
Am 10. Mai
Eine wunderbare Heiterkeit hat
meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich
mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in
dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin
so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein
versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht
zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als
in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe
Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes
ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich
dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde
tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln
der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen
Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und
fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das
Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält;
mein Freund! Wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her
und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten -
dann sehne ich mich oft und denke : ach könntest du das wieder ausdrücken,
könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt,
dass es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des
unendlichen Gottes! - mein Freund - aber ich gehe darüber zugrunde, ich
erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
Am 12. Mai
Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob
die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings
umher so paradiesisch macht. Das ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein
Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. - Du
gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest dich vor einem Gewölbe, da
wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus
Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung
macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des
Orts; das hat alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein
Tag, dass ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen die Mädchen aus der
Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das
ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so
lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die
Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die
Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben. O der muss nie nach einer
schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der
das nicht mitempfinden kann.
Am 13. Mai
Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? - lieber, ich bitte
dich um Gottes willen, las mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus
sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle
gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich mein empörtes Blut zur Ruhe,
denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz. Lieber!
Brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich
vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen
Leidenschaft übergehen zu sehn? Auch halte ich mein Herzchen wie ein
krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter; es
gibt Leute, die mir es verübeln würden.
Am 15. Mai
Die
geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die
Kinder. Eine traurige Bemerkung hab' ich gemacht. Wie ich im Anfange mich
zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dies und das, glaubten
einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich
ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt
habe, auf das lebhafteste : Leute von einigem Stande werden sich immer in
kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch
Annäherung zu verlieren; und dann gibt's Flüchtlinge und üble Spaßvögel,
die sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto
empfindlicher zu machen.
Ich weiß wohl, dass wir nicht
gleich sind, noch sein können; aber ich halte dafür, dass der, der nötig zu
haben glaubt, vom so genannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu
erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde
verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet.
Letzthin kam ich zum Brunnen
und fand ein junges Dienstmädchen, das ihr Gefäß auf die unterste Treppe
gesetzt hatte und sich umsah, ob keine Kamerädin kommen wollte, ihr es auf
den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah sie an. - "Soll ich Ihr
helfen, Jungfer?" sagte ich. - sie ward rot über und über. - "O nein,
Herr!" sagte sie. - "Ohne Umstände". - sie legte ihren Kragen zurecht, und
ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf.
Den 17. Mai
Ich habe allerlei Bekanntschaft
gemacht, Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht, was
ich Anzügliches für die Menschen haben muss; es mögen mich ihrer so viele
und hängen sich an mich, und da tut mir's weh, wenn unser Weg nur eine
kleine Strecke miteinander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind,
muss ich dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das
Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um
zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt
sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung
des Menschen!
Aber eine recht gute Art Volks!
Wenn ich mich manchmal vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieße,
die den Menschen noch gewährt sind, an einem artig besetzten Tisch mit
aller Offen - und Treuherzigkeit sich herumzuspaßen, eine Spazierfahrt,
einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das tut eine ganz
gute Wirkung auf mich; nur muss mir nicht einfallen, dass noch so viele
andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich
sorgfältig verbergen muss. Ach das engt das ganze Herz so ein. - Und doch!
Missverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.
Ach, dass die Freundin meiner
Jugend dahin ist, ach, dass ich sie je gekannt habe! - ich würde sagen: du
bist ein Tor! Du suchst, was hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe
sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart
ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein
konnte. Guter Gott! Blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt?
Konnt' ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem
mein Herz die Natur umfasst? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von
der feinsten Empfindung, dem schärfsten Witze, dessen Modifikationen, bis
zur Unart, alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun! -
ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, führten sie früher ans Grab als
mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre
göttliche Duldung.
Vor wenig Tagen traf ich einen
jungen V. an, einen offnen Jungen, mit einer gar glücklichen
Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien dünkt sich eben nicht weise,
aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich
an allerlei spüre, kurz, er hat hübsche Kenntnisse. Da er hörte,
dass ich
viel zeichnete und Griechisch könnte (zwei Meteore hierzulande), wandte er
sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de
Piles zu Winckelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den
ersten Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript von Heynen über
das Studium der Antike. Ich ließ das gut sein.
Noch gar einen braven Mann habe
ich kennen lernen, den fürstlichen Amtmann, einen offenen, treuherzigen
Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn unter seinen
Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von
seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn
ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe, anderthalb
Stunden von hier, wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die
Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause
zu weh tat.
Sonst sind mir einige verzerrte
Originale in den Weg gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am
unerträglichsten Freundschaftsbezeigungen.
Leb' wohl! Der Brief wird dir
recht sein, er ist ganz historisch.
Am 22. Mai
Dass das Leben des Menschen nur
ein Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht
dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher
die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich
sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von
Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere
arme Existenz zu verlängern, und dann, dass alle Beruhigung über gewisse
Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich
die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und
lichten Aussichten bemalt - das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich
kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung
und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da
schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter
in die Welt.
Dass die Kinder nicht wissen,
warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrten Schul - und Hofmeister
einig; dass aber auch Erwachsene gleich Kindern auf diesem Erdboden
herumtaumeln und wie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie
gehen, ebenso wenig nach wahren Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und
Kuchen und Birkenreiser regiert werden: das will niemand gern glauben, und
mich dünkt, man kann es mit Händen greifen.
Ich gestehe dir gern, denn ich
weiß, was du mir hierauf sagen möchtest, dass diejenigen die Glücklichsten
sind, die gleich den Kindern in den Tag hinein leben, ihre Puppen
herumschleppen, aus - und anziehen und mit großem Respekt um die Schublade
umherschleichen, wo Mama das Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn
sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und
rufen: "mehr!" - das sind glückliche Geschöpfe. Auch denen ist's wohl, die
ihren Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige
Titel geben und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu
dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben. - Wohl dem, der so sein kann! Wer
aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da sieht, wie
artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese
zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der
Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert sind, das Licht
dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn - ja, der ist still und
bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch glücklich, weil er ein
Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im
Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen
kann, wann er will.
Am 26. Mai
Du kennst von alters her meine
Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen
aufzuschlagen und da mit aller Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe
ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das mich angezogen hat.
Ungefähr eine Stunde von der
Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel ist
sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht,
übersieht man auf einmal das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefällig und
munter in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles
geht, sind zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten [Ästen den kleinen
Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, Scheunen und
Höfen eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht
leicht ein Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem
Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
meinen Homer. Das erste Mal, als ich durch einen Zufall an einem schönen
Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen so einsam. Es war
alles im Felde; nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren saß an der Erde und
hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor ihm zwischen seinen Füßen
sitzendes Kind mit beiden Armen wider seine Brust, so dass er ihm zu einer
Art von Sessel diente und ungeachtet der Munterkeit, womit er aus seinen
schwarzen Augen herumschaute, ganz ruhig saß. Mich vergnügte der Anblick:
ich setzte mich auf einen Pflug, der gegenüber stand, und zeichnete die
brüderliche Stellung mit vielem Ergetzen. Ich fügte den nächsten Zaun, ein
Scheunentor und einige gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es hinter
einander stand, und fand nach Verlauf einer Stunde, dass ich eine
wohlgeordnete, sehr interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das
mindeste von dem Meinen hinzuzutun. Das bestärkte mich in meinem Vorsatze,
mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich
reich, und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile
der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen
Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie
etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich
durch Gesetze und Wohlstand modeln lässt, nie ein unerträglicher Nachbar,
nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle
Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren
Ausdruck derselben zerstören! Sag' du: 'das ist zu hart! Sie schränkt nur
ein, beschneidet die geilen Reben' etc. - guter Freund, soll ich dir ein
Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt
ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu,
verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick
auszudrücken, dass er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein
Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: 'feiner
junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müsst Ihr menschlich lieben! Teilet
Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet
Eurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft
übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht
zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts - und Namenstage ' etc. - folgt
der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will
selbst jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner
Liebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. O
meine Freunde! Warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten
in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert? - liebe
Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers,
denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen
würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden
Gefahr abzuwehren wissen.
Am 27. Mai
Ich bin, wie ich sehe, in
Verzückung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe darüber
vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist. Ich
saß, ganz in malerische Empfindung vertieft, die dir mein gestriges Blatt
sehr zerstückt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt
gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich indes nicht
gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arm und ruft von weitem: "Philipps,
du bist recht brav". - Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf,
trat näher hin und fragte sie, ob sie Mutter von den Kindern wäre? Sie
bejahte es, und indem sie dem ältesten einen halben Weck gab, nahm sie das
kleine auf und küsste es mit aller mütterlichen Liebe. - "ich habe", sagte
sie, "meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem
Ältesten in die Stadt gegangen, um weiß Brot zu holen und Zucker und ein
irden Breipfännchen". - Ich sah das alles in dem Korbe, dessen Deckel
abgefallen war. - "Ich will meinem Hans (das war der Name des Jüngsten)
ein Süppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Große, hat mir gestern
das Pfännchen zerbrochen, als er sich mit Philippsen um die Scharre des
Breis zankte". - ich fragte nach dem Ältesten, und sie hatte mir kaum
gesagt, dass er sich auf der Wiese mit ein paar Gänsen herumjage, als er
gesprungen kam und dem Zweiten eine Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt
mich weiter mit dem Weibe und erfuhr, dass sie des Schulmeisters Tochter
sei, und dass ihr Mann eine Reise in die Schweiz gemacht habe, um die
Erbschaft eines Vetters zu holen. - "Sie haben ihn drum betriegen wollen",
sagte sie, "und ihm auf seine Briefe nicht geantwortet; da ist er selbst
hineingegangen. Wenn ihm nur kein Unglück widerfahren ist, ich höre nichts
von ihm". - Es ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu machen, gab
jedem der Kinder einen Kreuzer, und auch fürs jüngste gab ich ihr einen,
ihm einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge, und so
schieden wir von einander.
Ich sage dir, mein Schatz, wenn
meine Sinne gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der
Anblick eines solchen Geschöpfs, das in glücklicher Gelassenheit den engen
Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft,
die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als dass der Winter
kommt.
Seit der Zeit bin ich oft
draußen. Die Kinder sind ganz an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn
ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und die saure Milch mit mir
des Abends. Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach
der Betstunde da bin, so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
Sie sind vertraut, erzählen mir
allerhand, und besonders ergetze ich mich an ihren Leidenschaften und
simpeln Ausbrüchen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich
versammeln.
Viele Mühe hat mich's gekostet,
der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen, sie möchten den Herrn inkommodieren.
Am 30. Mai
Was ich dir neulich von der
Malerei sagte, gilt gewiss auch von der Dichtkunst; es ist nur, dass man das
Vortreffliche erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freilich mit
wenigem viel gesagt. Ich habe heute eine Szene gehabt, die, rein
abgeschrieben, die schönste Idylle von der Welt gäbe; doch was soll
Dichtung, Szene und Idylle? Muss es denn immer gebosselt sein, wenn wir
teil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?
Wenn du auf diesen Eingang viel
Hohes und Vornehmes erwartest, so bist du wieder übel betrogen; es ist
nichts als ein Bauerbursch, der mich zu dieser lebhaften Teilnehmung
hingerissen hat. Ich werde, wie gewöhnlich, schlecht erzählen, und du
wirst mich, wie gewöhnlich, denk' ich, übertrieben finden; es ist wieder
Wahlheim, und immer Wahlheim, das diese Seltenheiten hervorbringt.
Es war eine Gesellschaft
draußen unter den Linden, Kaffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz
anstand, so blieb ich unter einem Vorwande zurück.
Ein Bauerbursch kam aus einem
benachbarten Hause und beschäftigte sich, an dem Pfluge, den ich neulich
gezeichnet hatte, etwas zurecht zu machen. Da mir sein Wesen gefiel,
redete ich ihn an, fragte nach seinen Umständen, wir waren bald bekannt
und, wie mir's gewöhnlich mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er
erzählte mir, dass er bei einer Witwe in Diensten sei und von ihr gar wohl
gehalten werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, dass
ich bald merken konnte, er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei
nicht mehr jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann übel gehalten
worden, wolle nicht mehr heiraten, und aus seiner Erzählung leuchtete so
merklich hervor, wie schön, wie reizend sie für ihn sei, wie sehr er
wünschte, dass sie ihn wählen möchte, um das Andenken der Fehler ihres
ersten Mannes auszulöschen, dass ich Wort für Wort wiederholen
müsste, um
dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu
machen. Ja, ich müsste die Gabe des größten Dichters besitzen, um dir
zugleich den Ausdruck seiner Gebärden, die Harmonie seiner Stimme, das
heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu können. Nein, es
sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und
Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich wieder vorbringen könnte.
Besonders rührte mich, wie er fürchtete, ich möchte über sein Verhältnis
zu ihr ungleich denken und an ihrer guten Aufführung zweifeln. Wie reizend
es war, wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne
jugendliche Reize gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in
meiner innersten Seele wiederholen. Ich hab' in meinem Leben die dringende
Begierde und das heiße, sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit
gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und
geträumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, dass bei der Erinnerung
dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht, und dass mich
das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und
dass ich, wie
selbst davon entzündet, lechze und schmachte.
Ich will nun suchen, auch sie
ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn ich's recht bedenke, ich will's
vermeiden. Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers;
vielleicht erscheint sie mir vor meinen eigenen Augen nicht so, wie sie
jetzt vor mir steht, und warum soll ich mir das schöne Bild verderben?
Am 16. Junius
Warum ich dir nicht schreibe? -
Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten,
dass ich mich wohl befinde, und zwar - kurz und gut, ich habe eine
Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe - ich weiß
nicht.
Dir in der Ordnung zu erzählen,
wie's zugegangen ist, dass ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe
kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt und glücklich, und
also kein guter Historienschreiber.
Einen Engel! - pfui! Das sagt
jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir
zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat
allen meinen Sinn gefangengenommen.
So viel Einfalt bei so viel
Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei
dem wahren Leben und der Tätigkeit. - Das ist alles garstiges Gewäsch, was
ich da von ihr sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres
Selbst ausdrücken. Ein andermal - nein, nicht ein andermal, jetzt gleich
will ich dir's erzählen. Tu' ich 's jetzt nicht, so geschäh' es niemals.
Denn, unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon
dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu lassen
und hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute früh, nicht
hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick' ans Fenster, zu sehen, wie
hoch die Sonne noch steht. - Ich hab's nicht überwinden können, ich
musste
zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht
essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in
dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen! -
Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange. Höre
denn, ich will mich zwingen, ins Detail zu gehen.
Ich schrieb dir neulich, wie
ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn
bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem kleinen Königreiche zu
besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht nie hingekommen,
hätte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend
verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten
einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig
finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden
Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, dass ich eine Kutsche nehmen,
mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit
hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. - "Sie
werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen", sagte meine
Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem
Jagdhause fuhren. - "Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base, "dass
Sie sich nicht verlieben!" - "Wieso?" sagte ich. - "Sie ist schon
vergeben," antwortete jene, "an einen sehr braven Mann, der weggereist
ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist,
und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben". - Die Nachricht war
mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine
Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr
schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines
Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte
zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher
Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit
werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine
Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell
Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten
Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die
Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je
gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei
Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein
simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte.
Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem
sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit
solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!",
indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es
noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder
wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem
Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte
wegfahren sollte. - "Ich bitte um Vergebung", sagte sie, "dass ich Sie
hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und
allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen,
meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot
geschnitten haben als von mir".
Ich machte ihr ein
unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem
Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu
erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer zu
holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an,
und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten
Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam
und sagte: "Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand". - das tat der Knabe
sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet
seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu küssen.
"Vetter?" sagte ich, indem ich
ihr die Hand reichte," glauben Sie, dass ich des Glücks wert sei, mit Ihnen
verwandt zu sein?" - "O", sagte sie mit einem leichtfertigen Lächeln,
"unsere Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie
der schlimmste drunter sein sollten". - Im Gehen gab sie Sophien, der
ältesten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ungefähr elf Jahren, den
Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er
vom Spazierritte nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer
Schwester Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre, das denn auch einige
ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von
ungefähr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir haben
dich doch lieber". - die zwei ältesten Knaben waren hinten auf die Kutsche
geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald
mitzufahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken und sich recht
festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht
gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselweise über den Anzug,
vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft,
die man erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und
ihre Brüder herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen
begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von
fünfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und
Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren
weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem
Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte. - "nein", sagte
Lotte, "es gefällt mir nicht, Sie können's wiederhaben. Das vorige war auch
nicht besser". - Ich erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher wären,
und sie mir antwortete: - ich fand so viel Charakter in allem, was sie
sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus
ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu
entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, dass ich sie verstand.
"Wie ich jünger war", sagte
sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl mir's war,
wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an
dem Glück und Unstern einer Miss Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch
nicht, dass die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten
an ein Buch komme, so muss es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und
der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem
es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und
herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies,
aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist".
Ich bemühte mich, meine
Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit:
denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester von
Wakefield, vom - reden hörte, kam ich ganz außer mich, sagte ihr alles,
was ich musste, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch
an die anderen wendete, dass diese die Zeit über mit offenen Augen, als
säßen sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal
mit einem spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts gelegen war.
Das Gespräch fiel aufs
Vergnügen am Tanze. - "wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist,"
sagte
Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und
wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen
Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut".
Wie ich mich unter dem
Gespräche
in den schwarzen Augen weidete - wie die lebendigen Lippen und die
frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen - wie ich, in den
herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte,
mit denen sie sich ausdrückte - davon hast du eine Vorstellung, weil du
mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor
dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen rings in der
dämmernden Welt verloren, dass ich auf die Musik kaum achtete, die uns von
dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
Die zwei Herren Audran und ein
gewisser N. N. - wer behält alle die Namen - , die der Base und Lottens
Tänzer waren, empfingen uns am Schlage, bemächtigten sich ihrer
Frauenzimmer, und ich führte das meinige hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts
um einander herum; ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und
just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu
reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen
Englischen an, und wie wohl mir's war, als sie auch in der Reihe die Figur
mit uns anfing, magst du fühlen. Tanzen muss man sie sehen! Siehst du, sie
ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper
eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles
wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem
Augenblicke gewiss schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten
Contretanz; sie sagte mit den dritten zu, und mit der liebenswürdigsten
Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mir, dass sie herzlich gern
deutsch tanze. - "Es ist hier so Mode, "fuhr sie fort,"
dass jedes Paar,
das zusammen gehört, beim Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt
schlecht und dankt mir's, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr
Frauenzimmer kann's auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen
gesehen, dass Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche,
so gehen Sie und bitten sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer
Dame gehen". - ich gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, dass ihr
Tänzer inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.
Nun ging's an, und wir
ergetzten uns eine Weile an mannigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit
welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! Und da wir nun
gar ans Walzen kamen und wie die Sphären um einander herumrollten, ging's
freilich anfangs, weil's die wenigsten können, ein bisschen bunt
durcheinander. Wir waren klug und ließen sie austoben, und als die
Ungeschicktesten den Plan geräumt hatten, fielen wir ein und hielten mit
noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist
mir's so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das
liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen
wie Wetter, dass alles rings umher verging, und - Wilhelm, um ehrlich zu
sein, tat ich aber doch den Schwur, dass ein Mädchen, das ich liebte, auf
das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit
mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müsste. Du verstehst mich!
Wir machten einige Touren
gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die
Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die nun die einzigen noch
übrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur dass mir mit jedem
Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin ehrenhalben zuteilte,
ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz
waren wir das zweite Paar. Wie wir die Reihe durchtanzten und ich, weiß
Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arm und Auge hing, das voll vom wahrsten
Ausdruck des offensten, reinsten Vergnügens war, kommen wir an eine Frau,
die mit wegen ihrer liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen
Gesichte merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt einen
drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen
mit viel Bedeutung.
"Wer ist Albert?" sagte ich zu
Lotten, "wenn's nicht Vermessenheit ist zu fragen". - Sie war im Begriff
zu antworten, als wir uns scheiden mussten, um die große Achte zu machen,
und mich dünkte einiges Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so
vor einander vorbeikreuzten. - "Was soll ich's Ihnen leugnen," sagte sie,
indem sie mir die Hand zur Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch,
dem ich so gut als verlobt bin". - nun war mir das nichts Neues (denn die
Mädchen hatten mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu,
weil ich es noch nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich verwirrte
mich, vergaß mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein, dass alles
drunter und drüber ging und Lottens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen
nötig war, um es schnell wieder in Ordnung zu bringen.
Der Tanz war noch nicht zu
Ende, als die Blitze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn und
die ich immer für Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker zu werden
anfingen und der Donner die Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer liefen
aus der Reihe, denen ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein,
und die Musik hörte auf. Es ist natürlich, wenn uns ein Unglück oder etwas
Schreckliches im Vergnügen überrascht, dass es stärkere Eindrücke auf uns
macht als sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft
empfinden lässt, teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der
Fühlbarkeit geöffnet sind und also desto schneller einen Eindruck
annehmen. Diesen Ursachen muss ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben,
in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
eine Ecke, mit dem Rücken gegen vor ihr nieder und verbarg den Kopf in der
erster Schoß. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und
umfasste
ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige wollten nach Hause; andere,
die noch weniger wussten, was sie taten, hatten nicht so viel
Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu steuern, die
sehr beschäftigt zu sein schienen, alle die ängstlichen Gebete, die dem
Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schönen Bedrängten wegzufangen.
Einige unserer Herren hatten sich hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe
zu rauchen; und die übrige Gesellschaft schlug es nicht aus, als die
Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Läden
und Vorhänge hätte. Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschäftigt
war, einen Kreis von Stühlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf
ihre Bitte gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
Ich sah manchen, der in
Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Mäulchen spitzte und seine Glieder
reckte. - "Wir spielen Zählens!" sagte sie. "Nun gebt acht! Ich geh' im
Kreise herum von der Rechten zur Linken, und so zählt ihr auch rings
herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt, und das muss gehen wie ein
Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so bis
tausend". - nun war das lustig anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm
im Kreise herum. "Eins", fing der erste an, der Nachbar "zwei", "drei" der
folgende, und so fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer
geschwinder; da versah's einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und über das
Gelächter der folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst
kriegte zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken,
dass sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein
allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das
Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das
Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte
sie: "über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!" - ich
konnte ihr nichts antworten. - "ich war", fuhr sie fort, "eine der
Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern Mut zu
geben, bin ich mutig geworden". - Wir traten ans Fenster. Es donnerte
abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der
erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns
auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die
Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie
legte ihre Hand auf die meinige und sagte: "Klopstock!" - Ich erinnerte
mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in
dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich
ausgoss.
Ich ertrug's nicht, neigte mich auf ihre Hand und küsste sie unter den
wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder - Edler! Hättest du
deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so
oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!
Am 19. Junius
Wo ich neulich mit meiner
Erzählung geblieben bin, weiß ich nicht mehr; das weiß ich,
dass es zwei
Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und dass, wenn ich dir hätte
vorschwatzen können, statt zu schreiben, ich dich vielleicht bis an den
Morgen aufgehalten hätte.
Was auf unserer Hereinfahrt vom
Balle geschehen ist, habe ich noch nicht erzählt, habe auch heute keinen
Tag dazu.
Es war der herrlichste
Sonnenaufgang. Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere
Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von
der Partie sein wollte; ihretwegen sollt' ich unbekümmert sein. - "So
lange ich diese Augen offen sehe", sagte ich und sah sie fest an, "so lange
hat's keine Gefahr". - Und wir haben beide ausgehalten bis an ihr Tor, da
ihr die Magd leise aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, dass Vater und
Kleine wohl seien und alle noch schliefen. Da verließ ich sie mit der
Bitte, sie selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie gestand mir's zu, und
ich bin gekommen - und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig
ihre Wirtschaft treiben, ich weiß weder dass Tag noch dass Nacht ist, und
die ganze Welt verliert sich um mich her.
Am 21. Junius
Ich lebe so glückliche Tage,
wie sie Gott seinen Heiligen ausspart; und mit mir mag werden was will, so
darf ich nicht sagen, dass ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens
nicht genossen habe. - du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig
etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl' ich
mich selbst und alles Glück, das dem Menschen gegeben ist.
Hätt' ich gedacht, als ich mir
Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge wählte, dass es so nahe am Himmel
läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche
einschließt, auf meinen weiten Wanderungen, bald vom Berge, bald von der
Ebne über den Fluss gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe
allerlei nachgedacht, über die Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue
Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den inneren
Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben, in dem Gleise der
Gewohnheit so hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu
bekümmern.
Es ist wunderbar: wie ich
hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal schaute, wie es mich rings
umher anzog. - dort das Wäldchen! - ach könntest du dich in seine Schatten
mischen! - dort die Spitze des Berges! - ach könntest du von da die weite
Gegend überschauen! - die in einander geketteten Hügel und vertraulichen
Täler! - o könnte ich mich in ihnen verlieren! - ich eilte hin, und kehrte
zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne
wie mit der Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele,
unsere Empfindung verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns,
ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen,
großen, herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen. - und ach! Wenn wir
hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir
stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele
lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste
Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande und findet in seiner Hütte,
an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften
zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
Wenn ich des Morgens mit
Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir
meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädne und
dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen Küche mir einen
Topf wähle, mir Butter aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke und
mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln: da fühl' ich so lebhaft, wie
die übermütigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten,
zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen, wahren
Empfindung ausfüllte als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott
sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.
Wie wohl ist mir's, dass mein
Herz die simple, harmlose Wonne des Menschen fühlen kann, der ein
Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun nicht
den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn
pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoss, und da er an dem
fortschreitenden Wachstum seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke
wieder mitgenießt.
Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier
aus der Stadt hinaus zum Amtmann und fand mich auf der Erde unter Lottens
Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie
ich sie kitzelte und ein großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor,
der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten
in Falten legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter
der Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich
ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen
abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie
zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte,
des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der Werther verderbe
sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem
Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe und
in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie
einmal so nötig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinne künftige
Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten
Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen,
erblicke, alles so unverdorben, so ganz! - immer, immer wiederhole ich
dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: "wenn ihr nicht werdet
wie eines von diesen!" und nun, mein Bester, sie, die unseresgleichen
sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als
Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben! - haben wir denn keinen? Und
wo liegt das Vorrecht? - weil wir älter sind und gescheiter! - guter Gott
von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts
weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange
verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht - das ist auch was
Altes! - und bilden ihre Kinder nach sich und - Adieu, Wilhelm! Ich mag
darüber nicht weiter radotieren.
Am 1. Julius
Was Lotte einem Kranken sein
muss, fühl' ich an meinem eigenen Herzen, das übler dran ist als manches,
das auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt
bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich nach der Aussage der
Ärzte ihrem Ende naht und in diesen letzten Augenblicken Lotten um sich
haben will. Ich war vorige Woche mir ihr, den Pfarrer von St. zu besuchen;
ein Örtchen, das eine Stunde seitwärts im Gebirge liegt. Wir kamen gegen
vier dahin. Lotte hatte ihre zweite Schwester mitgenommen. Als wir in den
mit zwei hohen Nussbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute alte
Mann auf einer Bank vor der Haustür, und da er Lotten sah, ward er wie neu
belebt, vergaß seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen. Sie
lief hin zu ihm, nötigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich zu ihm
setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte seinen garstigen,
schmutzigen jüngsten Buben, das Quakelchen seines Alters. Du hättest sie
sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie ihre Stimme erhob,
um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie ihm von jungen,
robusten Leuten erzählte, die unvermutet gestorben wären, von der
Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie seinen Entschluss lobte,
künftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, dass er viel besser aussähe,
viel munterer sei als das letzte Mal, da sie ihn gesehn. - ich hatte indes
der Frau Pfarrerin meine Höflichkeiten gemacht. Der Alte wurde ganz
munter, und da ich nicht umhin konnte, die schönen Nussbäume zu loben, die
uns so lieblich beschatteten, fing er an, uns, wiewohl mit einiger
Beschwerlichkeit, die Geschichte davon zu geben. - "den alten", sagte
er, "wissen wir nicht, wer den gepflanzt hat; einige sagen dieser, andere
jener Pfarrer. Der jüngere aber dort hinten ist so alt als meine Frau, im
Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen
Abend geboren wurde. Er war mein Vorfahr im Amt, und wie lieb ihm der Baum
war, ist nicht zu sagen; mir ist er's gewiss nicht weniger. Meine Frau saß
darunter auf einem Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig Jahren
als ein armer Student zum ersten Male hier in den Hof kam". - Lotte fragte
nach seiner Tochter; es hieß, sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese
hinaus zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort: wie
sein Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein
Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht lange zu
Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn Schmidt durch
den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit herzlicher Wärme, und ich
muss sagen, sie gefiel mir nicht übel; eine rasche, wohlgewachsene
Brünette, die einen die kurze Zeit über auf dem Lande wohl unterhalten
hätte. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte sich Herr Schmidt gleich
dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht in unsere Gespräche
mischen wollte, ob ihn gleich Lotte immer hereinzog. Was mich am meisten
betrübte, war, dass ich an seinen Gesichtszügen zu bemerken schien, es sei
mehr Eigensinn und übler Humor als Eingeschränktheit des Verstandes, der
ihn sich mitzuteilen hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu
deutlich; denn als Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und
gelegentlich auch mit mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies
einer bräunlichen Farbe war, so sichtlich verdunkelt, dass es Zeit war,
dass
Lotte mich beim Ärmel zupfte und mir zu verstehn gab, dass ich mit
Friederiken zu artig getan. Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die
Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Blüte des
Lebens, da sie am offensten für alle Freuden sein könnten, einander die
paar guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spät das
Unersetzliche ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das, und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurückkehrten und
an einem Tische Milch aßen und das Gespräch auf Freude und Leid der Welt
sich wendete, den Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen die üble
Laune zu reden. - "wir Menschen beklagen uns oft", fing ich an, "dass der
guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und, wie mich dünkt,
meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu
genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden alsdann auch
Kraft genug haben, das Übel zu tragen, wenn es kommt". - "Wir haben
aber unser Gemüt nicht in unserer Gewalt", versetzte die Pfarrerin, "wie
viel hängt vom Körper ab! Wenn einem nicht wohl ist, ist's einem überall
nicht recht". - Ich gestand ihr das ein. - "Wir wollen es also", fuhr ich
fort, "als eine Krankheit ansehen und fragen, ob dafür kein Mittel ist?" -
"Das lässt sich hören", sagte Lotte, "ich glaube wenigstens,
dass viel von
uns abhängt. Ich weiß es an mir. Wenn mich etwas neckt und mich
verdrießlich machen will, spring' ich auf und sing' ein paar Contretänze
den Garten auf und ab, gleich ist's weg". - "das war's, was ich sagen
wollte," versetzte ich, "es ist mit der üblen Laune völlig wie mit der
Trägheit, denn es ist eine Art von Trägheit. Unsere Natur hängt sehr
dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu ermannen,
geht uns die Arbeit frisch von der Hand, und wir finden in der Tätigkeit
ein wahres Vergnügen". - Friederike war sehr aufmerksam, und der
junge Mensch wandte mir ein, dass man nicht Herr über sich selbst sei und
am wenigsten über seine Empfindungen gebieten könne. - "es ist hier die
Frage von einer unangenehmen Empfindung", versetzte ich, "die doch
jedermann gerne los ist; und niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen,
bis er sie versucht hat. Gewiß, wer krank ist, wird bei allen Ärzten
herumfragen, und die größten Resignationen, die bittersten Arzeneien wird
er nicht abweisen, um seine gewünschte Gesundheit zu erhalten". - ich
bemerkte, dass der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte, um an unserm
Diskurse teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn
wandte". Man predigt gegen so viele Laster", sagte ich, "ich habe noch nie
gehört, dass man gegen die üble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hätte. -
"Das müssten die Stadtpfarrer tun", sagte er, "die Bauern haben keinen
bösen Humor; doch könnte es auch zuweilen nicht schaden, es wäre eine
Lektion für seine Frau wenigstens und für den Herrn Amtmann". - Die
Gesellschaft lachte, und er herzlich mit, bis er in einen Husten verfiel,
der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach; darauf denn der junge Mensch
wieder das Wort nahm: "Sie nannten den bösen Humor ein Laster; mich
deucht, das ist übertrieben". - "Mitnichten", gab ich zur Antwort, "wenn
das, womit man sich selbst und seinem Nächsten schadet, diesen Namen
verdient. Ist es nicht genug, dass wir einander nicht glücklich machen
können, müssen wir auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz
sich noch manchmal selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den Menschen,
der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu
tragen, ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht
vielmehr ein innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein
Missfallen
an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine
törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glückliche Menschen, die wir
nicht glücklich machen, und das ist unerträglich". - Lotte lächelte mich
an, da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und eine Träne in
Friederikens Auge spornte mich fortzufahren. - "Wehe denen", sagte ich,
"die sich der Gewalt bedienen, die sie über ein Herz haben, um ihm die
einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle
Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick
Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit unsers
Tyrannen vergällt hat".
Mein ganzes Herz war voll in
diesem Augenblicke; die Erinnerung so manches Vergangenen drängte sich an
meine Seele, und die Tränen kamen mir in die Augen.
"Wer sich das nur täglich
sagte", rief ich aus, "du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre
Freuden zu lassen und ihr Glück zu vermehren, indem du es mit ihnen
genießest. Vermagst du, wenn ihre innere Seele von einer ängstigenden
Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen
Linderung zu geben?
Und wenn die letzte, bangste
Krankheit dann über das Geschöpf herfällt, das du in blühenden Tagen
untergraben hast, und sie nun daliegt in dem erbärmlichsten Ermatten, das
Auge gefühllos gen Himmel sieht, der Todesschweiß auf der blassen Stirne
abwechselt, und du vor dem Bette stehst wie ein Verdammter, in dem
innigsten Gefühl, dass du nichts vermagst mit deinem ganzen Vermögen, und
die Angst dich inwendig krampft, dass du alles hingeben möchtest, dem
untergehenden Geschöpfe einen Tropfen Stärkung, einen Funken Mut einflößen
zu können".
Die Erinnerung einer solchen
Szene, wobei ich gegenwärtig war, fiel mit ganzer Gewalt bei diesen Worten
über mich. Ich nahm das Schnupftuch vor die Augen und verließ die
Gesellschaft, und nur Lottens Stimme, die mir rief, wir wollten fort,
brachte mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt über den
zu warmen Anteil an allem, und dass ich drüber zugrunde gehen würde!
Dass
ich mich schonen sollte! - O der Engel! Um deinetwillen muss ich leben!
Am 6. Julius
Sie ist immer um ihre sterbende
Freundin, und ist immer dieselbe, immer das gegenwärtige, holde Geschöpf,
das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht. Sie ging
gestern abend mit Marianen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wusste es
und traf sie an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb
Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen, der mir so wert
und nun tausendmal werter ist. Lotte setzte sich aufs Mäuerchen, wir
standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da mein Herz so allein
war, lebte wieder vor mir auf. - "Lieber Brunnen", sagte ich, "seither
hab' ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, hab' in eilendem Vorübergehn
dich manchmal nicht angesehn". - Ich blickte hinab und sah, dass Malchen
mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. - Ich sah Lotten an
und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen mit einem
Glase. Mariane wollt' es ihr abnehmen: "nein!" rief das Kind mit dem
süßesten Ausdrucke, "nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!" - ich ward
über die Wahrheit, über die Güte, womit sie das ausrief, so entzückt,
dass
ich meine Empfindung mit nichts ausdrücken konnte, als ich nahm das Kind
von der Erde und küsste es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen
anfing. - "Sie haben übel getan", sagte Lotte. - Ich war betroffen. -
"komm, Malchen, "fuhr sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die
Stufen hinabführte, "da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind,
geschwind, da tut's nichts". - Wie ich so dastand und zusah, mit welcher
Emsigkeit das Kleine seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem
Glauben, dass durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült und die
Schmach abgetan würde, einen hässlichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte:
"es ist genug!" und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel
mehr täte als Wenig - ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie
einer Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte heraufkam, hätte ich mich
gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden
einer Nation weggeweiht hat.
Des Abends konnte ich nicht
umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzählen,
dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat; aber wie kam ich an!
Er sagte, das sei sehr übel von Lotten gewesen; man solle den Kindern
nichts weis machen; dergleichen gebe zu unzähligen Irrtümern und
Aberglauben Anlass, wovor man die Kinder frühzeitig bewahren müsse. - nun
fiel mir ein, dass der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum ließ
ich's vorbeigehen und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir
sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns, der uns am
glücklichsten macht, wenn er uns in freundlichem Wahne so hintaumeln
lässt.
Am 8. Julius
Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man ein
Kind ist! - Wir waren nach Wahlheim gegangen. Die Frauenzimmer fuhren
hinaus, und während unserer Spaziergänge glaubte ich in Lottens schwarzen
Augen - ich bin ein Tor, verzeih mir's! Du solltest sie sehen, diese
Augen. - Dass ich kurz bin (denn die Augen fallen mir zu vor Schlaf):
siehe, die Frauenzimmer stiegen ein, da standen um die Kutsche der junge
W., Selstadt und Audran und ich. Da ward aus dem Schlage geplaudert mit
den Kerlchen, die freilich leicht und lüftig genug waren. - ich suchte
Lottens Augen: ach, sie gingen von einem zum andern! Aber auf mich! Mich!
Mich! Der ganz allein auf sie resigniert dastand, fielen sie nicht! - Mein
Herz sagte ihr tausend Adieu! Und sie sah mich nicht! Die Kutsche fuhr
vorbei, und eine Träne stand mir im Auge. Ich sah ihr nach und sah Lottens
Kopfputz sich zum Schlage herauslehnen, und sie wandte sich um zu sehen,
ach! Nach mir? - Lieber! In dieser Ungewissheit schwebe ich; das ist mein
Trost: vielleicht hat sie sich nach mir umgesehen! Vielleicht! - Gute
Nacht! O, was ich ein Kind bin!
Am 10. Julius
Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr
gesprochen wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie sie
mir gefällt? - gefällt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muss das für
ein Mensch sein, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinne, alle
Empfindungen ausfüllt! Gefällt! Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie
mir Ossian gefiele!
Am 11. Julius
Frau M. ist sehr schlecht; ich
bete für ihr Leben, weil ich mit Lotten dulde. Ich sehe sie selten bei
einer Freundin, und heute hat sie mir einen wunderbaren Vorfall erzählt. -
der alte M. ist ein geiziger, rangiger Filz, der seine Frau im Leben was
Rechts geplagt und eingeschränkt hat; doch hat sich die Frau immer
durchzuhelfen gewusst. Vor wenigen Tagen, als der Arzt ihr das Leben
abgesprochen hatte, ließ sie ihren Mann kommen (Lotte war im Zimmer) und
redete ihn also an: "ich muss dir eine Sache gestehen, die nach meinem Tode
Verwirrung und Verdruss machen könnte. Ich habe bisher die Haushaltung
geführt, so ordentlich und sparsam als möglich; allein du wirst mir
verzeihen, dass ich dich diese dreißig Jahre her hintergangen habe. Du
bestimmtest im Anfange unserer Heirat ein Geringes für die Bestreitung der
Küche und anderer häuslichen Ausgaben. Als unsere Haushaltung stärker
wurde, unser Gewerbe größer, warst du nicht zu bewegen, mein Wochengeld
nach dem Verhältnisse zu vermehren; kurz, du weißt, dass du in den Zeiten,
da sie am größten war, verlangtest, ich solle mit sieben Gulden die Woche
auskommen.
Die habe ich denn ohne
Widerrede genommen und mir den Überschuss wöchentlich aus der Losung
geholt, da niemand vermutete, dass die Frau die Kasse bestehlen würde. Ich
habe nichts verschwendet und wäre auch, ohne es zu bekennen, getrost der
Ewigkeit entgegengegangen, wenn nicht diejenige, die nach mir das
Hauswesen zu führen hat, sich nicht zu helfen wissen würde, und du doch
immer darauf bestehen könntest, deine erste Frau sei damit ausgekommen".
Ich redete mit Lotten über die
unglaubliche Verblendung des Menschensinns, dass einer nicht argwohnen
soll, dahinter müsse was anders stecken, wenn eins mit sieben Gulden
hinreicht, wo man den Aufwand vielleicht um zweimal so viel sieht. Aber
ich habe selbst Leute gekannt, die des Propheten ewiges Ölkrüglein ohne
Verwunderung in ihrem Hause angenommen hätten.
Am 13. Julius
Nein, ich betrüge mich nicht!
Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem
Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen,
dass sie
- o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? - dass sie
mich liebt!
Mich liebt! - und wie wert ich
mir selbst werde, wie ich - dir darf ich's wohl sagen, du hast Sinn für so
etwas - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!
Ob das Vermessenheit ist oder
Gefühl des wahren Verhältnisses? - ich kenne den Menschen nicht, von dem
ich etwas in Lottens Herzen fürchtete. Und doch - wenn sie von ihrem
Bräutigam spricht, mit solcher Wärme, solcher Liebe von ihm spricht - da
ist mir's wie einem, der aller seiner Ehren und Würden entsetzt und dem
der Degen genommen wird.
Am 16. Julius
Ach wie mir das durch alle
Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere
Füße sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und
eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts - mir wird's so schwindelig
vor allen Sinnen. - O! Und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt
nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar
im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt und im Interesse der
Unterredung näher zu mir rückt, dass der himmlische Atem ihres Mundes meine
Lippen erreichen kann: - ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt.
- und, Wilhelm! Wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses
Vertrauen - ! Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht!
Schwach! Schwach genug! - und ist das nicht Verderben? - sie ist mir
heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiß nie, wie mir
ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen
Nerven umkehrte. - sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klaviere spielet
mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr
Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her,
wenn sie nur die erste Note davon greift.
Kein Wort von der Zauberkraft
der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfache Gesang
angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir eine
Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele
zerstreut sich, und ich atme wieder freier.
Am 18. Julius
Wilhelm,
was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ist
ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen dir die
buntesten Bilder an deine weiße Wand! Und wenn's nichts wäre als das, als
vorübergehende Phantome, so macht's doch immer unser Glück, wenn wir wie
frische Jungen davor stehen und uns über die Wundererscheinungen
entzücken. Heute konnte ich nicht zu Lotten, eine unvermeidliche
Gesellschaft hielt mich ab. Was war zu tun? Ich schickte meinen Diener
hinaus, nur um einen Menschen um mich zu haben, der ihr heute nahe
gekommen wäre. Mit welcher Ungeduld ich ihn erwartete, mit welcher Freude
ich ihn wiedersah! Ich hätte ihn gern beim Kopfe genommen und geküsst, wenn
ich mich nicht geschämt hätte.
Man erzählt von dem Bononischen
Steine, dass er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strahlen anzieht und
eine Weile bei Nacht leuchtet. So war mir's mit dem Burschen. Das Gefühl,
dass ihre Augen auf seinem Gesichte, seinen Backen, seinen Rockknöpfen und
dem Kragen am Surtout geruht hatten, machte mir das alles so heilig, so
wert! Ich hätte in dem Augenblick den Jungen nicht um tausend Taler
gegeben. Es war mir so wohl in seiner Gegenwart. - bewahre dich Gott, dass
du darüber lachest. Wilhelm, sind das Phantome, wenn es uns wohl ist?
Den 19. Julius
"Ich werde sie sehen!" ruf' ich
morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schönen
Sonne entgegenblicke; "ich werde sie sehen!" und da habe ich für den
ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser
Aussicht.
Eure Idee will noch nicht die
meinige werden, dass ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe
die Subordination nicht sehr, und wir wissen alle, dass der Mann noch dazu
ein widriger Mensch ist. Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben,
sagst du, das hat mich zu lachen gemacht. Bin ich jetzt nicht auch aktiv,
und ist's im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen? Alles
in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um
anderer willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes
Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer
ein Tor.
Am 24. Julius
Da dir so sehr daran gelegen
ist, dass ich mein Zeichnen nicht vernachlässige, möchte ich lieber die
ganze Sache übergehen als dir sagen, dass zeither wenig getan wird.
Noch nie war ich glücklicher,
noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs
Gräschen herunter, voller und inniger, und doch - ich weiß nicht, wie ich
mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles
schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, dass ich keinen Umriss packen
kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Ton hätte oder Wachs, so wollte
ich's wohl herausbilden. Ich werde auch Ton nehmen, wenn's länger währt,
und kneten, uns sollten's Kuchen werden!
Lottens Porträt habe ich
dreimal angefangen, und habe mich dreimal prostituiert; das mich um so
mehr verdrießt, weil ich vor einiger Zeit sehr glücklich im Treffen war.
Darauf habe ich denn ihren Schattenriss gemacht, und damit soll mir g'nügen.
Ja, liebe Lotte, ich will alles
besorgen und bestellen; geben Sie mir nur mehr Aufträge, nur recht oft. Um
eins bitte ich Sie: keinen Sand mehr auf die Zettelchen, die Sie mir
schreiben. Heute führte ich es schnell nach der Lippe, und die Zähne
knisterten mir.
Am 26. Julius
Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja
wer das halten könnte! Alle Tage unterlieg' ich der Versuchung und
verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn der
Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und ehe
ich mich's versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des Abends gesagt:
"Sie kommen doch morgen?" - wer könnte da wegbleiben? Oder sie gibt mir
einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr selbst die Antwort zu
bringen; oder der Tag ist gar zu schön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn
ich nun da bin, ist's nur noch eine halbe Stunde zu ihr! - ich bin zu nah
in der Atmosphäre - zuck! So bin ich dort. Meine Großmutter hatte ein
Märchen vom Magnetenberg: die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf
einmal alles Eisenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die
armen Elenden scheiterten zwischen den übereinander stürzenden Brettern.
Am 30. Julius
Albert ist angekommen, und ich
werde gehen; und wenn er der beste, der edelste Mensch wäre, unter den ich
mich in jeder Betrachtung zu stellen bereit wäre, so wär's unerträglich,
ihn vor meinem Angesicht im Besitz so vieler Vollkommenheit zu sehen. -
Besitz! - genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da! Ein braver, lieber Mann,
dem man gut sein muss. Glücklicherweise war ich nicht beim Empfange! Das
hätte mir das Herz zerrissen. Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in
meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal geküsst. Das lohn' ihm Gott! Um
des Respekts willen, den er vor dem Mädchen hat, muss ich ihn lieben. Er
will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr als seiner
eigenen Empfindung; denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn
sie zwei Verehrer in gutem Vernehmen mit einander erhalten können, ist der
Vorteil immer ihr, so selten es auch angeht.
Indes kann ich Alberten meine
Achtung nicht versagen. Seine gelassene Außenseite sticht gegen die Unruhe
meines Charakters sehr lebhaft ab, die sich nicht verbergen lässt. Er hat
viel Gefühl und weiß, was er an Lotten hat. Erscheint wenig üble Laune zu
haben, und du weißt, das ist die Sünde, die ich ärger hasse am Menschen
als alle andre.
Er hält mich für einen Menschen
von Sinn; und meine Anhänglichkeit zu Lotten, meine warme Freude, die ich
an allen ihren Handlungen habe, vermehrt seinen Triumph, und er liebt sie
nur desto mehr. Ob er sie nicht einmal mit keiner Eifersüchtelei peinigt,
das lasse ich dahingestellt sein, wenigstens würd' ich an seinem Platz
nicht ganz sicher vor diesem Teufel bleiben.
Dem sei nun wie ihm wolle,
meine Freude, bei Lotten zu sein, ist hin. Soll ich das Torheit nennen
oder Verblendung? - was braucht's Namen! Erzählt die Sache an sich! - ich
wusste alles, was ich jetzt weiß, ehe Albert kam; ich wusste, dass ich keine
Prätension an sie zu machen hatte, machte auch keine - das heißt, insofern
es möglich ist, bei so viel Liebenswürdigkeit nicht zu begehren - und
jetzt macht der Fratze große Augen, da der andere nun wirklich kommt und
ihm das Mädchen wegnimmt.
Ich beiße die Zähne auf
einander und spott über mein Elend, und spottete derer doppelt und
dreifach, die sagen könnten, ich sollte mich resignieren, und weil es nun
einmal nicht anders sein könnte. - schafft mir diese Strohmänner vom
Halse! - ich laufe in den Wäldern herum, und wenn ich zu Lotten komme, und
Albert bei ihr sitzt im Gärtchen unter der Laube, und ich nicht weiter
kann, so bin ich ausgelassen närrisch und fange viel Possen, viel
verwirrtes Zeug an. - "um Gottes willen", sagte mir Lotte heut, "ich
bitte Sie, keine Szene wie die von gestern abend! Sie sind fürchterlich,
wenn Sie so lustig sind". - Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu
tun hat; wutsch! Bin ich drauß, und da ist mir's immer wohl, wenn ich sie
allein finde.
Am 8. August
Ich bitte dich, lieber Wilhelm,
es war gewiss nicht auf dich geredet, wenn ich die Menschen unerträglich
schalt, die von uns Ergebung in unvermeidliche Schicksale fordern. Ich
dachte wahrlich nicht daran, dass du von ähnlicher Meinung sein könntest.
Und im Grunde hast du recht. Nur eins, mein Bester! In der Welt ist es
sehr selten mit dem Entweder-Oder getan; die Empfindungen und
Handlungsweisen schattieren sich so mannigfaltig, als Abfälle zwischen
einer Habichts - und Stumpfnase sind.
Du wirst mir also nicht
übelnehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einräume und mich doch
zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche.
Entweder, sagst du, hast du
Hoffnung auf Lotten, oder du hast keine. Gut, im ersten Fall suche sie
durchzutreiben, suche die Erfüllung deiner Wünsche zu umfassen: im anderen
Fall ermanne dich und suche einer elenden Empfindung los zu werden, die
alle deine Kräfte verzehren muss. - Bester! Das ist wohl gesagt, und - bald
gesagt.
Und kannst du von dem
Unglücklichen, dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit
unaufhaltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm verlangen, er solle
durch einen Dolchstoß der Qual auf einmal ein Ende machen? Und raubt das
Übel, das ihm die Kräfte verzehrt, ihm nicht auch zugleich den Mut, sich
davon zu befreien?
Zwar könntest du mir mit einem
verwandten Gleichnisse antworten: wer ließe sich nicht lieber den Arm
abnehmen, als dass er durch Zaudern und Zagen sein Leben aufs Spiel setzte?
- Ich weiß nicht! - Und wir wollen uns nicht in Gleichnissen herumbeißen.
Genug - ja, Wilhelm, ich habe manchmal so einen Augenblick aufspringenden,
abschüttelnden Muts, und da - wenn ich nur wüsste wohin, ich ginge wohl.
Abends
Mein Tagebuch, das ich seit
einiger Zeit vernachlässiget, fiel mir heut wieder in die Hände, und ich
bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das alles, Schritt vor Schritt,
hineingegangen bin! Wie ich über meinen Zustand immer so klar gesehen und
doch gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar sehe, und es noch
keinen Anschein zur Besserung hat.
Am 10. August
Ich könnte das beste,
glücklichste Leben führen, wenn ich nicht ein Tor wäre. So schöne Umstände
vereinigen sich nicht leicht, eines Menschen Seele zu ergetzen, als die
sind, in denen ich mich jetzt befinde. Ach so gewiss ist's, dass unser Herz
allein sein Glück macht. - ein Glied der liebenswürdigen Familie zu
sein, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie
ein Vater, und von Lotten! - dann der ehrliche Albert, der durch
keine launische Unart mein Glück stört; der mich mit herzlicher
Freundschaft umfasst; dem ich nach Lotten das Liebste auf der Welt bin! -
Wilhelm, es ist eine Freude, uns zu hören, wenn wir spazieren gehen und uns
einander von Lotten unterhalten: es ist in der Welt nichts Lächerlichers
erfunden worden als dieses Verhältnis, und doch kommen mir oft darüber die
Tränen in die Augen.
Wenn er mir von ihrer
rechtschaffenen Mutter erzählt: wie sie auf ihrem Todbette Lotten ihr Haus
und ihre Kinder übergeben und ihm Lotten anbefohlen habe, wie seit der
Zeit ein ganz anderer Geist Lotten belebt habe, wie sie, in der Sorge für
ihre Wirtschaft und in dem Ernste, eine wahre Mutter geworden, wie kein
Augenblick ihrer Zeit ohne tätige Liebe, ohne Arbeit verstrichen, und
dennoch ihre Munterkeit, ihr leichter Sinn sie nie dabei verlassen habe. -
Ich gehe so neben ihm hin und pflücke Blumen am Wege, füge sie sehr
sorgfältig in einen Strauß und - werfe sie in den vorüberfließenden Strom
und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen. - Ich weiß nicht, ob
ich dir geschrieben habe, dass Albert hier bleiben und ein Amt mit einem
artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist. In
Ordnung und Emsigkeit in Geschäften habe ich wenig seinesgleichen gesehen.
Am 12. August
Gewiß,
Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine
wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu
nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten, von woher
ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe,
fallen mir seine Pistolen in die Augen. - "Borge mir die Pistolen", sagte
ich, "zu meiner Reise". - "Meinetwegen", sagte er, "wenn du dir die Mühe
nehmen willst, sie zu laden; bei mir hängen sie nur pro forma". - Ich nahm
eine herunter, und er fuhr fort: "seit mir meine Vorsicht einen so
unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun
haben". - Ich war neugierig, die Geschichte zu wissen. - "Ich hielt mich",
erzählte er, "wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf,
hatte ein paar Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem
regnichten Nachmittage, da ich müßig sitze, weiß ich nicht, wie mir
einfällt: wir könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerolen nötig
haben und könnten - du weißt ja, wie das ist. - ich gab sie dem Bedienten,
sie zu putzen und zu laden; und der dahlt mit den Mädchen, will sie
schrecken, und Gott weiß wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch
drin steckt, und schießt den Ladstock einem Mädchen zur Maus herein an der
rechten Hand und zerschlägt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentieren,
und die Kur zu bezahlen obendrein, und seit der Zeit lass' ich alles
Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht? Die Gefahr lässt sich
nicht auslernen! Zwar. - Nun weißt du, dass ich den Menschen sehr lieb habe
bis auf seine Zwar; denn versteht sich's nicht von selbst, dass jeder
allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch! Wenn
er glaubt, etwas Übereiltes, Allgemeines, Halbwahres gesagt zu haben, so
hört er dir nicht auf zu limitieren, zu modifizieren und ab - und zuzutun,
bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist.
Und bei diesem Anlass kam er
sehr tief in Text: ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in
Grillen, und mit einer auffahrenden Gebärde drückte ich mir die Mündung
der Pistole übers rechte Aug' an die Stirn. - "Pfui!" sagte Albert, indem
er mir die Pistole herabzog, "was soll das?" - "Sie ist nicht geladen",
sagte ich. - "Und auch so, was soll's?" versetzte er ungeduldig. "Ich kann
mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht sein kann, sich zu
erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen".
"Dass ihr Menschen", rief ich
aus, "um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müsst: 'das ist töricht,
das ist klug, das ist gut, das ist bös!' und was will das alles heißen?
Habt ihr deswegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht?
Wisst
ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum
sie geschehen musste? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit
euren Urteilen sein". "Du wirst mir zugeben", sagte Albert, "dass gewisse
Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen geschehen, aus welchem
Beweggrunde sie wollen". Ich zuckte die Achseln und gab's ihm zu. - "Doch,
mein Lieber", fuhr ich fort, "finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es
ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich und
die Seinigen vom gegenwärtigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht,
verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen
den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren
nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädchen, das in einer
wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert?
Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten, lassen sich rühren und
halten ihre Strafe zurück".
"Das ist ganz was anders",
versetzte Albert, "weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreißen,
alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger
angesehen wird". "Ach ihr vernünftigen Leute!" rief ich lächelnd aus.
"Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne
Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut
den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der
Pharisäer, dass er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin
mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom
Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem Maße
begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas
Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und
Wahnsinnige ausschreiten musste. Aber auch im gemeinen Leben ist's
unerträglich, fast einem jeden bei halbweg einer freien, edlen,
unerwarteten Tat nachrufen zu hören: ' der Mensch ist trunken, der ist
närrisch!' Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen!" "Das
sind nun wieder von deinen Grillen", sagte Albert, "du überspannst alles
und hast wenigstens hier gewiss unrecht, dass du den Selbstmord, wovon jetzt
die Rede ist, mit großen Handlungen vergleichst: da man es doch für nichts
anders als eine Schwäche halten kann. Denn freilich ist es leichter zu
sterben, als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen". Ich war im
Begriff abzubrechen; denn kein Argument bringt mich so aus der Fassung,
als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, wenn
ich aus ganzem Herzen rede.
Doch fasste ich mich, weil ich's
schon oft gehört und mich öfter darüber geärgert hatte, und versetzte ihm
mit einiger Lebhaftigkeit: "Du nennst das Schwäche? Ich bitte dich,
las
dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk, das unter dem unerträglichen
Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen, wenn es endlich
aufgärt und seine Ketten zerreißt? Ein Mensch, der über dem Schrecken,
dass
Feuer sein Haus ergriffen hat, alle Kräfte gespannt fühlt und mit
Leichtigkeit Lasten wegträgt, die er bei ruhigem Sinne kaum bewegen kann;
einer, der in der Wut der Beleidigung es mit sechsen aufnimmt und sie
überwältig, sind die schwach zu nennen? Und, mein Guter, wenn Anstrengung
Stärke ist, warum soll die Überspannung das Gegenteil sein?" - Albert sah
mich an und sagte: "nimm mir's nicht übel, die Beispiele, die du gibst,
scheinen hieher gar nicht zu gehören". - "Es mag sein", sagte ich, "man
hat mir schon öfters vorgeworfen, dass meine Kombinationsart manchmal an
Radotage grenze. Lasst uns denn sehen, ob wir uns auf eine andere Weise
vorstellen können, wie dem Menschen zu Mute sein mag, der sich
entschließt, die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Denn nur
insofern wir mitempfinden, haben wir die Ehre, von einer Sache zu reden".
"Die menschliche Natur", fuhr
ich fort, "hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf
einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen
ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist,
sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch
oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der
Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den
einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt".
"Paradox! Sehr paradox!" rief
Albert aus. - "Nicht so sehr, als du denkst", versetzte ich. "Du gibst mir
zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so
angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung
gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine
glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder
herzustellen fähig ist.
Nun, mein Lieber, las uns das
auf den Geist anwenden. Sich den Menschen an in seiner Eingeschränktheit,
wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich
eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn
zugrunde richtet.
Vergebens, dass der gelassene,
vernünftige Mensch den Zustand Unglücklichen übersieht, vergebens,
dass er
ihm zuredet! Ebenso wie ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm
von seinen Kräften nicht das geringste einflößen kann".
Alberten war das zu allgemein
gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit im
Wasser tot gefunden, und wiederholte ihm ihre Geschichte. - "Ein gutes,
junges Geschöpf, das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen,
wöchentlicher bestimmter Arbeit herangewachsen war, das weiter keine
Aussicht von Vergnügen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach
zusammengeschafften Putz mit ihresgleichen um die Stadt spazieren zu gehen,
vielleicht alle hohen Feste einmal zu tanzen und übrigens mit aller
Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils manche Stunde über den Anlass eines
Gezänkes, einer übeln Nachrede mit einer Nachbarin zu verplaudern - deren
feurige Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die
Schmeicheleien der Männer vermehrt werden; ihre vorigen Freuden werden ihr
nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu
dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun
alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich vergisst, nichts hört,
nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm,
dem Einzigen. Durch die leeren Vergnügungen einer unbeständigen Eitelkeit
nicht verdorben, zieht ihr Verlangen gerade nach dem Zweck, sie will die
Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all das Glück antreffen, das
ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genießen, nach denen sie sich
sehnte. Wiederholtes Versprechen, das ihr die Gewissheit aller Hoffnungen
versiegelt, kühne Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen
ganz ihre Seele; sie schwebt in einem dumpfen Bewusstsein, in einem
Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt, sie
streckt endlich ihre Arme aus, all ihre Wünsche zu umfassen - und ihr
Geliebter verlässt sie. - Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem
Abgrunde; alles ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost,
keine Ahnung! Denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein
fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die
vielen, die ihr de Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein,
verlassen von aller Welt, - und blind, in die Enge gepresst von der
entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem
rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken. - Sieh, Albert, das
ist die Geschichte so manches Menschen! Und sag', ist das nicht der Fall
der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der
verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muss sterben. Wehe
dem, der zusehen und sagen könnte: 'die Törin! Hätte sie gewartet, hätte
sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung würde sich schon gelegt, es
würde sich schon ein anderer sie zu trösten vorgefunden haben.' - Das ist
eben, als wenn einer sagte: 'der Tor, stirbt am Fieber! Hätte er gewartet,
bis seine Kräfte sich erholt, seine Säfte sich verbessert, der Tumult
seines Blutes sich gelegt hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte
bis auf den heutigen Tag! '"
Albert, dem die Vergleichung
noch nicht anschaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich
hätte nur von einem einfältigen Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch
von Verstande, der nicht so eingeschränkt sei, der mehr Verhältnisse
übersehe, zu entschuldigen sein möchte, könne er nicht begreifen. - "Mein
Freund", rief ich aus, "der Mensch ist Mensch, und das bisschen Verstand,
das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft
wütet und die Grenzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr - ein
andermal davon", sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz
so voll - und wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben.
Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.
Am 15. August
Es ist doch gewiss, dass in der Welt den Menschen nichts notwendig macht
als die Liebe. Ich fühl's an Lotten, dass sie mich ungern verlöre, und die
Kinder haben keinen andern Begriff, als dass ich immer morgen wiederkommen
würde. Heute war ich hinausgegangen, Lottens Klavier zu stimmen, ich
konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein
Märchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte ihnen den Willen tun. Ich
schnitt ihnen das Abendbrot, das sie nun fast so gern von mir als von
Lotten annehmen, und erzählte ihnen das Hauptstückchen von der Prinzessin,
die von Händen bedient wird. Ich lerne viel dabei, das versichre ich dich,
und ich bin erstaunt, was es auf sie für Eindrücke macht. Weil ich
manchmal einen Inzidentpunkt erfinden muss, den ich beim zweiten Mal
vergesse, sagen sie gleich, das vorige Mal wär' es anders gewesen, so
dass
ich mich jetzt übe, sie unveränderlich in einem singenden Silbenfall an
einem Schnürchen weg zu rezitieren. Ich habe daraus gelernt, wie ein Autor
durch eine zweite, veränderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie
poetisch noch so besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden
muss.
Der erste Eindruck findet uns willig, und der Mensch ist gemacht, dass man
ihn das Abenteuerlichste überreden kann; das haftet aber auch gleich so
fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!
Am 18. August
Musste denn das so sein, dass
das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines
Elendes würde?
Das volle, warme Gefühl meines
Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte,
das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu
einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf
allen Wegen verfolgt. Wenn ich sonst vom Felsen über den Fluss bis zu jenen
Hügeln das fruchtbare Tal überschaute und alles um mich her keimen und
quellen sah; wenn ich jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen,
dichten Bäumen bekleidet, jene Täler in ihren mannigfaltigen Krümmungen
von den lieblichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluss zwischen
den lispelnden Rohren dahingleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die
der sanfte Abendwind am Himmel herüberwiegte; wenn ich dann die Vögel um
mich den Wald beleben hörte, und die Millionen Mückenschwärme im letzten
roten Strahle der Sonne mutig tanzten, und ihr letzter zuckender Blick den
summenden Käfer aus seinem Grase befreite, und das Schwirren und Weben um
mich her mich auf den Boden aufmerksam machte, und das Moos, das meinem
harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das Geniste, das den dürren
Sandhügel hinunter wächst, mir das innere, glühende, heilige Leben der
Natur eröffnete: wie fasste ich das alles in mein warmes Herz, fühlte mich
in der überfließenden Fülle wie vergöttert, und die herrlichen Gestalten
der unendlichen Welt bewegten sich allbelebend in meiner Seele. Ungeheure
Berge umgaben mich, Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche stürzten
herunter, die Flüsse strömten unter mir, und Wald und Gebirg erklang; und
ich sah sie wirken und schaffen ineinander in den Tiefen der Erde, alle
die unergründlichen Kräfte; und nun über der Erde und unter dem Himmel
wimmeln die Geschlechter der mannigfaltigen Geschöpfe. Alles, alles
bevölkert mit tausendfachen Gestalten; und die Menschen dann sich in
Häuslein zusammen sichern und sich annisten und herrschen in ihrem Sinne
über die weite Welt! Armer Tor! Der du alles so gering achtest, weil du so
klein bist. - vom unzugänglichen Gebirge über die Einöde, die kein Fuß
betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der Geist des
Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn vernimmt und lebt. -
ach damals, wie oft habe ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der über
mich hin flog, zu dem Ufer des ungemessenen Meeres gesehnt, aus dem
schäumenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken
und nur einen Augenblick in der eingeschränkten Kraft meines Busens einen
Tropfen der Seligkeit des Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch
sich hervorbringt.
Bruder, nur die Erinnerung
jener Stunden macht mir wohl. Selbst diese Anstrengung, jene unsäglichen
Gelüste zurückzurufen, wieder auszusprechen, hebt meine Seele über sich
selbst und lässt mich dann das Bange des Zustandes doppelt empfinden, der
mich jetzt umgibt.
Es hat sich vor meiner Seele
wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens
verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du
sagen: Das ist! Da alles vorübergeht? Da alles mit der Wetterschnelle
vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in
den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da
ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich
her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein musst; der
harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es
zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine
kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! Nicht die große, seltne Not der
Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure
Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende
Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat,
das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich
beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe
nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.
Am 21. August
Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von
schweren Träumen aufdämmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem
Bette, wenn mich ein glücklicher, unschuldiger Traum getäuscht hat, als
säß' ich neben ihr auf der Wiese und hielt' ihre Hand und deckte sie mit
tausend Küssen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des Schlafes nach
ihr tappe und drüber mich ermuntere - ein Strom von Tränen bricht aus
meinem gepressten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft
entgegen.
Am 22. August
Es ist ein Unglück, Wilhelm, meine tätigen Kräfte sind zu einer
unruhigen Lässigkeit verstimmt, ich kann nicht müßig sein und kann doch
auch nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der
Natur, und die Bücher ekeln mich an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns
doch alles. Ich schwöre dir, manchmal wünschte ich, ein Tagelöhner zu
sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den künftigen
Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Oft beneide ich Alberten, den
ich über die Ohren in Akten begraben sehe, und bilde mir ein, mir wäre
wohl, wenn ich an seiner Stelle wäre! Schon etliche Mal ist mir's so
aufgefahren, ich wollte dir schreiben und dem Minister, um die Stelle bei
der Gesandtschaft anzuhalten, die, wie du versicherst, mir nicht versagt
werden würde. Ich glaube es selbst. Der Minister liebt mich seit langer
Zeit, hatte lange mir angelegen, ich sollte mich irgendeinem Geschäfte
widmen; und eine Stunde ist mir's auch wohl drum zu tun. Hernach, wenn ich
wieder dran denke und mir die Fabel vom Pferde einfällt, das, seiner
Freiheit ungeduldig, sich Sattel und Zeug auflegen lässt und zuschanden
geritten wird - ich weiß nicht, was ich soll. - und, mein Lieber! Ist
nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine
innere, unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird?
Am 28. August
Es ist wahr, wenn meine
Krankheit zu heilen wäre, so würden diese Menschen es tun. Heute ist mein
Geburtstag, und in aller Frühe empfange ich ein Päckchen von Alberten. Mir
fällt beim Eröffnen sogleich eine der blassroten Schleifen in die Augen,
die Lotte vor hatte, als ich sie kennen lernte, und um die ich sie seither
etliche Mal gebeten hatte. Es waren zwei Büchelchen in Duodez dabei, der
kleine Wetsteinische Homer, eine Ausgabe, nach der ich so oft verlangt, um
mich auf dem Spaziergange mit dem Ernestischen nicht zu schleppen. Sieh!
So kommen sie meinen Wünschen zuvor, so suchen sie alle die kleinen
Gefälligkeiten der Freundschaft auf, die tausendmal werter sind als jene
blendenden Geschenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Ich
küsse diese Schleife tausendmal, und mit jedem Atemzuge schlürfe ich die
Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenigen,
glücklichen, unwiederbringlichen Tage überfüllten. Wilhelm, es ist so, und
ich murre nicht, die Blüten des Lebens sind nur Erscheinungen! Wie viele
gehn vorüber, ohne eine Spur hinter sich zu lassen, wie wenige setzen
Frucht an, und wie wenige dieser Früchte werden reif! Und doch sind deren
noch genug da; und doch - o mein Bruder! - können wir gereifte Früchte
vernachlässigen, verachten, ungenossen verfaulen lassen?
Lebe wohl! Es ist ein
herrlicher Sommer; ich sitze oft auf den Obstbäumen in Lottens Baumstück
mit dem Obstbrecher, der langen Stange, und hole die Birnen aus dem
Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab, wenn ich sie ihr herunterlasse.
Am 30. August
Unglücklicher! Bist du nicht
ein Tor? Betriegst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose
Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft
erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um
mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so
manche glückliche Stunde - bis ich mich wieder von ihr losreißen
muss! Ach
Wilhelm! Wozu mich mein Herz oft drängt! - wenn ich bei ihr gesessen bin,
zwei, drei Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem
himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun nach und nach alle
meine Sinne aufgespannt werden, mir es düster vor den Augen wird, ich kaum
noch höre, und es mich an die Gurgel fasst wie ein Meuchelmörder, dann mein
Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen sucht und
ihre Verwirrung nur vermehrt - Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der
Welt bin! Und - wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt und
Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung
auszuweinen, - so muss ich fort, muss hinaus, und schweife dann weit im
Felde umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch
einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die
mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir's etwas
besser! Etwas! Und wenn ich vor Müdigkeit und Durst manchmal unterwegs
liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über
mir steht, im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze,
um meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und dann
in einer ermattenden Ruhe in dem Dämmerschein hinschlummre! O Wilhelm! Die
einsame Wohnung einer Zelle, das härene Gewand und der Stachelgürtel wären
Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu! Ich sehe dieses Elendes
kein Ende als das Grab.
Am 3. September
Ich muss fort! Ich danke dir,
Wilhelm, dass du meinen wankenden Entschluss bestimmt hast. Schon vierzehn
Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muss fort. Sie ist
wieder in der Stadt bei einer Freundin. Und Albert - und - ich muss fort!
Am 10. September
Das war eine Nacht! Wilhelm!
Nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn! O dass ich nicht
an deinen Hals fliegen, dir mit tausend Tränen und Entzückungen ausdrücken
kann, mein Bester, die Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sitze
ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen,
und mit Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.
Ach, sie schläft ruhig und
denkt nicht, dass sie mich nie wieder sehen wird. Ich habe mich
losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem Gespräch von zwei Stunden
mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott, welch ein Gespräch!
Albert hatte mir versprochen,
gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im Garten zu sein. Ich stand auf der
Terrasse unter den hohen Kastanienbäumen und sah der Sonne nach, die mir
nun zum letzten Male über dem lieblichen Tale, über dem sanften
Fluss
unterging. So oft hatte ich hier gestanden mit ihr und eben dem herrlichen
Schauspiele zugesehen, und nun - ich ging in der Allee auf und ab, die mir
so lieb war; ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft
gehalten, ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als wir im
Anfang unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem
Plätzchen entdeckten, das wahrhaftig eins von den romantischsten ist, die
ich von der Kunst hervorgebracht gesehen habe.
Erst hast du zwischen den
Kastanienbäumen die weite Aussicht - Ach, ich erinnere mich, ich habe dir,
denk' ich, schon viel davon geschrieben, wie hohe Buchenwände einen
endlich einschließen und durch ein daranstoßendes Boskett die Allee immer
düsterer wird, bis zuletzt alles sich in ein geschlossenes Plätzchen
endigt, das alle Schauer der Einsamkeit umschweben. Ich fühle es noch, wie
heimlich mir's ward, als ich zum ersten Male an einem hohen Mittage
hineintrat; ich ahnete ganz leise, was für ein Schauplatz das noch werden
sollte von Seligkeit und Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe
Stunde in den schmachtenden, süßen Gedanken des Abscheidens, des
Wiedersehens geweidet, als ich sie die Terrasse heraufsteigen hörte. Ich
lief ihnen entgegen, mit einem Schauer fasste ich ihre Hand und küsste sie.
Wir waren eben heraufgetreten, als der Mond hinter dem buschigen Hügel
aufging; wir redeten mancherlei und kamen unvermerkt dem düstern Kabinette
näher. Lotte trat hinein und setzte sich, Albert neben sie, ich auch; doch
meine Unruhe ließ mich nicht lange sitzen; ich stand auf, trat vor sie,
ging auf und ab, setzte mich wieder: es war ein ängstlicher Zustand. Sie
machte uns aufmerksam auf die schöne Wirkung des Mondenlichtes, das am
Ende der Buchenwände die ganze Terrasse vor uns erleuchtete: ein
herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns rings eine
tiefe Dämmerung einschloss. Wir waren still, und sie fing nach einer Weile
an: "niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals, dass mir nicht
der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, dass nicht das Gefühl von Tod,
von Zukunft über mich käme". "Wir werden sein!" fuhr sie mit der Stimme
des herrlichsten Gefühls fort; "aber, Werther, sollen wir uns wieder
finden? Wieder erkennen? Was ahnen Sie? Was sagen Sie?"
"Lotte", sagte ich, indem ich
ihr die Hand reichte und mir die Augen voll Tränen wurden, "wir werden uns
wiedersehn! Hier und dort wiedersehn!" - ich konnte nicht weiter reden -
Wilhelm, musste sie mich das fragen, da ich diesen ängstlichen Abschied im
Herzen hatte!
"Und ob die lieben
Abgeschiednen von uns wissen", fuhr sie fort, "ob sie fühlen, wann's uns
wohl geht, dass wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern? O! Die Gestalt
meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn ich am stillen Abend unter ihren
Kindern, unter meinen Kindern sitze und sie um mich versammelt sind, wie
sie um sie versammelt waren. Wenn ich dann mit einer sehnenden Träne gen
Himmel sehe und wünsche, dass sie hereinschauen könnte einen Augenblick,
wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der des Todes gab: die Mutter
ihrer Kinder zu sein. Mit welcher Empfindung rufe ich aus: 'verzeihe mir's,
Teuerste, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! Tue ich doch
alles, was ich kann; sind sie doch gekleidet, genährt, ach, und, was mehr
ist als das alles, gepflegt und geliebt. Könntest du unsere Eintracht
sehen, liebe Heilige! Du würdest mit dem heißesten Danke den Gott
verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Tränen um die Wohlfahrt
deiner Kinder batest.'" - Sie sagte das! O Wilhelm, wer kann wiederholen,
was sie sagte! Wie kann der kalte, tote Buchstabe diese himmlische Blüte
des Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft in die Rede: "es greift zu
stark an, liebe Lotte! Ich weiß, Ihre Seele hängt sehr nach diesen Ideen,
aber ich bitte Sie". - "O Albert", sagte sie, "ich weiß, du vergissest
nicht die Abende, da wir zusammensaßen an dem kleinen, runden Tischchen,
wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten.
Du hattest oft ein gutes Buch und kannst so selten dazu, etwas zu lesen -
war der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles? Die schöne,
sanfte, muntere und immer tätige Frau! Gott kennt meine Tränen, mit denen
ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er möchte mich ihr gleich
machen".
"Lotte!" rief ich aus, indem
ich mich vor sie hinwarf, ihre Hand nahm und mit tausend Tränen netzte,
"Lotte! Der Segen Gottes ruht über dir und der Geist deiner Mutter!" "Wenn
Sie sie gekannt hätten", sagte sie, indem sie mir die Hand drückte, - "sie
war wert, von Ihnen gekannt zu sein!" - ich glaubte zu vergehen.
Nie war ein größeres, stolzeres
Wort über mich ausgesprochen worden - und sie fuhr fort: "und diese Frau
musste in der Blüte ihrer Jahre dahin, da ihr jüngster Sohn nicht sechs
Monate alt war! Ihre Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig,
hingegeben, nur ihre Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie es
gegen das Ende ging und sie zu mir sagte: 'bringe mir sie herauf!' und wie
ich sie hereinführte, die kleinen, die nicht wussten, und die ältesten, die
ohne Sinne waren, wie sie ums Bette standen, und wie sie die Hände aufhob
und über sie betete, und sie küsste nach einander und sie wegschickte und
zu mir sagte: 'sei ihre Mutter!' - Ich gab ihr die Hand drauf! - 'Du
versprichst viel, meine Tochter', sagte sie, 'das Herz einer Mutter und
das Aug' einer Mutter. Ich habe oft an deinen dankbaren Tränen gesehen,
dass du fühlst, was das sei. Habe es für deine Geschwister, und für deinen
Vater die Treue und den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trösten.' - Sie
fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu
verbergen, den er fühlte, der Mann war ganz zerrissen.
Albert, du warst im Zimmer. Sie
hörte jemand gehn und fragte und forderte dich zu sich, und wie sie dich
ansah und mich, mit dem getrösteten, ruhigen Blicke, dass wir glücklich
sein, zusammen glücklich sein würden". - Albert fiel ihr um den Hals und
küsste sie und rief: "wir sind es! Wir werden es sein!" - der ruhige Albert
war ganz aus seiner Fassung, und ich wusste nichts von mir selber.
"Werther", fing sie an, "und diese Frau sollte dahin sein! Gott! Wenn ich
manchmal denke, wie man das Liebste seines Lebens wegtragen lässt, und
niemand als die Kinder das so scharf fühlt, die sich noch lange beklagten,
die schwarzen Männer hätten die Mama weggetragen! "sie stand auf, und ich
ward erweckt und erschüttert, blieb sitzen und hielt ihre Hand. - "Wir
wollen fort", sagte sie, "es wird Zeit". - Sie wollte ihre Hand
zurückziehen, und ich hielt sie fester. - "wir werden uns wieder sehen"
rief ich, "wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns
erkennen. Ich gehe", fuhr ich fort, "ich gehe willig, und doch, wenn ich
sagen sollte auf ewig, ich würde es nicht aushalten. Leb' wohl, Lotte!
Leb' wohl, Albert! Wir sehn uns wieder". - "Morgen, denke ich", versetzte
sie scherzend. - Ich fühlte das Morgen! Ach, sie wusste nicht, als sie ihre
Hand aus der meinen zog - Sie gingen die Allee hinaus, ich stand, sah
ihnen nach im Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus
und sprang auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im
Schatten der hohen Lindenbäume ihr weißes Kleid nach der Gartentür
schimmern, ich streckte meine Arme aus, und es verschwand.