Johann Wolfgang von
Goethe:
Die Leiden des
jungen Werther
- 2. Buch -
Am 20. Oktober 1771
Gestern sind wir hier
angelangt. Der Gesandte ist unpass und wird sich also einige Tage
einhalten. Wenn er nur nicht so unhold wäre, wär' alles gut. Ich
merke, ich merke, das Schicksal hat mir harte Prüfungen zugedacht.
Doch guten Muts! Ein leichter Sinn trägt alles! Ein leichter Sinn?
Das macht mich zu lachen, wie das Wort in meine Feder kommt. O ein
bisschen leichteres Blut würde mich zum Glücklichsten unter der
Sonne machen. Was! Da, wo andere mit ihrem bisschen Kraft und Talent
vor mir in behaglicher Selbstgefälligkeit herumschwadronieren,
verzweifle ich an meiner Kraft, an meinen Gaben? Guter Gott, der du
mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht die Hälfte zurück
und gabst mir Selbstvertrauen und Genügsamkeit?
Geduld! Geduld! Es wird
besser werden. Denn ich sage dir, Lieber, du hast recht. Seit ich
unter dem Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was sie tun
und wie sie's treiben, stehe ich viel besser mit mir selbst. Gewiß,
weil wir doch einmal so gemacht sind, dass wir alles mit uns und uns
mit allem vergleichen, so liegt Glück oder Elend in den
Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts
gefährlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch ihre
Natur gedrungen sich zu erheben, durch die phantastischen Bilder der
Dichtkunst genährt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das
unterste sind und alles außer uns herrlicher erscheint, jeder andere
vollkommner ist. Und das geht ganz natürlich zu. Wir fühlen so oft,
dass uns manches mangelt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft
ein anderer zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir
haben, und noch eine gewisse idealistische Behaglichkeit dazu. Und
so ist der Glückliche vollkommen fertig, das Geschöpf unserer
selbst.
Dagegen, wenn wir mit all
unserer Schwachheit und Mühseligkeit nur gerade fortarbeiten, so
finden wir gar oft, dass wir mit unserem Schlendern und Lavieren es
weiter bringen als andere mit ihrem Segeln und Rudern - und - das
ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man andern gleich
oder gar vorläuft.
Am 26. November
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier zu befinden. Das
beste ist, dass es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei
Menschen, die allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes
Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den Grafen C... kennen lernen,
einen Mann, den ich jeden Tag mehr verehren muss, einen weiten,
großen Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel
übersieht; aus dessen Umgange so viel Empfindung für Freundschaft
und Liebe hervorleuchtet. Er nahm teil an mir, als ich einen
Geschäftsauftrag an ihn ausrichtete und er bei den ersten Worten
merkte, dass wir uns verstanden, dass er mit mir reden konnte wie
nicht mit jedem. Auch kann ich sein offnes Betragen gegen mich nicht
genug rühmen. So eine wahre, warme Freude ist nicht in der Welt, als
eine große Seele zu sehen, die sich gegen einen öffnet.
Am 24. Dezember
Der Gesandte macht mir
viel Verdruss, ich habe es vorausgesehn. Er ist der pünktlichste
Narr, den es nur geben kann; Schritt vor Schritt und umständlich wie
eine Base; ein Mensch, der nie mit sich selbst zufrieden ist, und
dem es daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern leicht
weg, und wie es steht, so steht es; da ist er imstande, mir einen
Aufsatz zurückzugeben und zu sagen: "er ist gut, aber sehen Sie ihn
durch, man findet immer ein besseres Wort, eine reinere Partikel." -
Da möchte ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindewörtchen darf
außen bleiben, und von allen Inversionen, die mir manchmal
entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Period nicht nach
der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts
drin. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen
von C... ist noch das einzige, was mich schadlos hält. Er sagte mir
letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden er mit der Langsamkeit und
Bedenklichkeit meines Gesandten sei. Die Leute erschweren es sich
und andern. "Doch," sagte er, "man muss sich darein resignieren wie
ein Reisender, der über einen Berg muss; freilich, wäre der Berg
nicht da, so wär der Weg viel bequemer und kürzer; er ist nun aber
da, und man soll hinüber!"
Mein Alter spürt auch
wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm gibt, und das ärgert ihn,
und er ergreift jede Gelegenheit, Übels gegen mich vom Grafen zu
reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die
Sache nur schlimmer. Gestern gar brachte er mich auf, denn ich war
mit gemeint: zu so Weltgeschäften sei der Graf ganz gut, er habe
viele Leichtigkeit zu arbeiten und führe eine gute Feder, doch an
gründlicher Gelehrsamkeit mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu
machte er eine Miene, als ob er sagen wollte: "fühlst du den Stich?"
Aber es tat bei mir nicht die Wirkung; ich verachtete den Menschen,
der so denken und sich so betragen konnte. Ich hielt ihm stand und
focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich sagte, der Graf sei ein Mann,
vor dem man Achtung haben müsse, wegen seines Charakters sowohl als
wegen seiner Kenntnisse." "Ich habe," sagt' ich, "niemand gekannt,
dem es so geglückt wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über
unzählige Gegenstände zu verbreiten und doch diese Tätigkeit fürs
gemeine Leben zu behalten." - das waren dem Gehirne spanische
Dörfer, und ich empfahl mich, um nicht über ein weiteres
Deraisonnement noch mehr Galle zu schlucken.
Und daran seid ihr alle
schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt und mir so viel von
Aktivität vorgesungen habt. Aktivität! Wenn nicht der mehr tut, der
Kartoffeln legt und in die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als
ich, so will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere abarbeiten,
auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend,
die Langeweile unter dem garstigen Volke, das sich hier neben
einander sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und
aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen; die elendesten,
erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen. Da ist ein Weib,
zum Exempel, die jedermann von ihrem Adel und ihrem Lande unterhält,
so dass jeder Fremde denken muss: das ist eine Närrin, die sich auf
das bisschen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche
einbildet. - Aber es ist noch viel Ärger: eben das Weib ist hier aus
der Nachbarschaft eine Amtschreiberstochter. - Sieh, ich kann das
Menschengeschlecht nicht begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich
so platt zu prostituieren.
Zwar ich merke täglich
mehr, mein Lieber, wie töricht man ist, andere nach sich zu
berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu tun habe und
dieses Herz so stürmisch ist - ach ich lasse gern die andern ihres
Pfades gehen, wenn sie mich auch nur könnten gehen lassen.
Was mich am meisten
neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weiß ich so
gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wie viel
Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade
im Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Glück auf dieser Erde genießen könnte. Ich lernte neulich auf dem
Spaziergange ein Fräulein von B. kennen, ein liebenswürdiges
Geschöpf, das sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben erhalten
hat. Wir gefielen uns in unserem Gespräche, und da wir schieden, bat
ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen zu dürfen. Sie gestattete
mir das mit so vieler Freimütigkeit, dass ich den schicklichen
Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von
hier und wohnt bei einer Tante im Hause. Die Physiognomie der Alten
gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein
Gespräch war meist an sie gewandt, und in minder als einer halben
Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräulein nachher
selbst gestand: dass die liebe Tante in ihrem Alter Mangel von
allem, kein anständiges Vermögen, keinen Geist und keine Stütze hat
als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als den Stand, in den
sie sich verpalisadiert, und kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk
herab über die bürgerlichen Häupter wegzusehen. In ihrer Jugend soll
sie schön gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst mit ihrem
Eigensinne manchen armen Jungen gequält, und in den reifern Jahren
sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben, der
gegen diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne
Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb. Nun sieht sie im eisernen
sich allein und würde nicht angesehn, wär' ihre Nichte nicht so
liebenswürdig.
Den 8. Januar 1772
Was das für Menschen
sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht, deren Dichten und
Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen Stuhl weiter hinauf
bei Tische Angelegenheit hätten: nein, vielmehr häufen sich die
Arbeiten, eben weil man über den kleinen Verdrießlichkeiten von
Beförderung der wichtigen Sachen abgehalten wird. Vorige Woche gab
es bei der Schlittenfahrt Händel, und der ganze Spaß wurde
verdorben.
Die Toren, die nicht
sehen, dass es eigentlich auf den Platz gar nicht ankommt, und dass
der, der den ersten hat, so selten die erste Rolle spielt! Wie
mancher König wird durch seinen Minister, wie mancher Minister durch
seinen Sekretär regiert! Und wer ist dann der Erste? Der, dünkt
mich, der die andern übersieht und so viel Gewalt oder List hat,
ihre Kräfte und Leidenschaften zu Ausführung seiner Plane
anzuspannen.
Am 20. Januar
Ich muss Ihnen schreiben,
liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen Bauernherberge, in die
ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet habe. Solange ich in
dem traurigen Nest D..., unter dem fremden, meinem Herzen ganz
fremden Volke herumziehe, habe ich keinen Augenblick gehabt, keinen,
an dem mein Herz mich geheißen hätte, Ihnen zu schreiben; und jetzt
in dieser Hütte, in dieser Einsamkeit, in dieser Einschränkung, da
Schnee und Schloßen wider mein Fensterchen wüten, hier waren Sie
mein erster Gedanke. Wie ich hereintrat, überfiel mich Ihre Gestalt,
Ihr Andenken, o Lotte! So heilig, so warm! Guter Gott! Der erste
glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich sähen,
meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetrocknet meine
Sinne werden! Nicht einen Augenblick der Fülle des Herzens, nicht
eine selige Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe wie vor einem
Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen vor mir
herumrücken, und frage mich oft, ob es nicht optischer Betrug ist.
Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette und
fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere
zurück. Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genießen,
und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des
Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht
recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen gehe.
Der Sauerteig, der mein
Leben in Bewegung setzte, fehlt; der Reiz, der mich in tiefen
Nächten munter erhielt, ist hin, der mich des Morgens aus dem
Schlafe weckte, ist weg.
Ein einzig weibliches
Geschöpf habe ich hier gefunden, eine Fräulein von B..., sie gleicht
Ihnen, liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann." "Ei!" werden Sie
sagen, "der Mensch legt sich auf niedliche Komplimente!" ganz unwahr
ist es nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr artig, weil ich doch
nicht anders sein kann, habe viel Witz, und die Frauenzimmer sagen,
es wüsste niemand so fein zu loben als ich (und zu lügen, setzen Sie
hinzu, denn ohne das geht es nicht ab, verstehen Sie?). Ich wollte
von Fräulein B... reden. Sie hat viel Seele, die voll aus ihren
blauen Augen hervorblickt. Ihr Stand ist ihr zur Last, der keinen
der Wünsche ihres Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus dem
Getümmel, und wir verphantasieren manche Stunde in ländlichen Szenen
von ungemischter Glückseligkeit; ach! und von Ihnen! Wie oft muss
sie Ihnen huldigen, muss nicht, tut es freiwillig, hört so gern von
Ihnen, liebt Sie. - O säß' ich zu Ihren Füßen in dem lieben,
vertraulichen Zimmerchen, und unsere kleinen Lieben wälzten sich mit
einander um mich herum, und wenn sie Ihnen zu laut würden, wollte
ich sie mit einem schauerlichen Märchen um mich zur Ruhe versammeln.
Die Sonne geht herrlich
unter über der schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist hinüber
gezogen, und ich - muss mich wieder in meinen Käfig sperren. -
Adieu! Ist Albert bei Ihnen? Und wie - ? Gott verzeihe mir diese
Frage!
Den 8. Februar
Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste Wetter, und mir ist
es wohltätig. Denn so lang ich hier bin, ist mir noch kein schöner
Tag am Himmel erschienen, den mir nicht jemand verdorben oder
verleidet hätte. Wenn's nun recht regnet und stöbert und fröstelt
und taut: ha! Denk' ich, kann's doch zu Hause nicht schlimmer
werden, als es draußen ist, oder umgekehrt, und so ist's gut. Geht
die Sonne des Morgens auf und verspricht einen feinen Tag, erwehr'
ich mir niemals auszurufen: da haben sie doch wieder ein himmlisches
Gut, worum sie einander bringen können! Es ist nichts, worum sie
einander nicht bringen. Gesundheit, guter Name, Freudigkeit,
Erholung! Und meist aus Albernheit, Unbegriff und Enge und, wenn man
sie anhört, mit der besten Meinung. Manchmal möcht' ich sie auf den
Knien bitten, nicht so rasend in ihre eigenen Eingeweide zu wüten.
Am 17. Februar
Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht mehr
lange aus. Der Mann ist ganz und gar unerträglich. Seine Art zu
arbeiten und Geschäfte zu treiben ist so lächerlich, dass ich mich
nicht enthalten kann, ihm zu widersprechen und oft eine Sache nach
meinem Kopf und meiner Art zu machen, das ihm denn, wie natürlich,
niemals recht ist. Darüber hat er mich neulich bei Hofe verklagt,
und der Minister gab mir einen zwar sanften Verweis, aber es war
doch ein Verweis, und ich stand im Begriffe, meinen Abschied zu
begehren, als ich einen Privatbrief von ihm erhielt, einen Brief,
vor dem ich niedergekniet, und den hohen, edlen, weisen Sinn
angebetet habe. Wie er meine allzu große Empfindlichkeit
zurechtweiset, wie er meine überspannten Ideen von Wirksamkeit, von
Einfluss auf andere, von Durchdringen in Geschäften als jugendlichen
guten Mut zwar ehrt, sie nicht auszurotten, nur zu mildern und dahin
zu leiten sucht, wo sie ihr wahres Spiel haben, ihre kräftige
Wirkung tun können. Auch bin ich auf acht Tage gestärkt und in mir
selbst einig geworden. Die Ruhe der Seele ist ein herrliches Ding
und die Freude an sich selbst. Lieber Freund, wenn nur das Kleinod
nicht eben so zerbrechlich wäre, als es schön und kostbar ist.
Am 20. Februar
Gott segne euch, meine
Lieben, geb' euch alle die guten Tage, die er mir abzieht!
Ich danke dir, Albert,
dass du mich betrogen hast: ich wartete auf Nachricht, wann euer
Hochzeitstag sein würde, und hatte mir vorgenommen, feierlichst an
demselben Lottens Schattenriss von der Wand zu nehmen und ihn unter
andere Papiere zu begraben. Nun seid ihr ein Paar, und ihr Bild ist
noch hier! Nun, so soll es bleiben! Und warum nicht? Ich weiß, ich
bin ja auch bei euch, bin dir unbeschadet in Lottens Herzen, habe,
ja ich habe den zweiten Platz darin und will und muss ihn behalten.
O ich würde rasend werden, wenn sie vergessen könnte - Albert, in
dem Gedanken liegt eine Hölle. Albert, leb' wohl! Leb' wohl, Engel
des Himmels! Leb' wohl, Lotte!
Den 15. März
Ich habe einen Verdruss
gehabt, der mich von hier wegtreiben wird. Ich knirsche mit den
Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersetzen, und ihr seid doch allein
schuld daran, die ihr mich sporntet und treibt und quältet, mich in
einen Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war. Nun habe
ich's! Nun habt ihr's! Und dass du nicht wieder sagst, meine
überspannten Ideen verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr,
eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das
aufzeichnen würde.
Der Graf von C... liebt
mich, distinguiert mich, das ist bekannt, das habe ich dir schon
hundertmal gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu Tafel, eben an dem
Tage, da abends die noble Gesellschaft von Herren und Frauen bei ihm
zusammenkommt, an die ich nie gedacht habe, auch mir nie aufgefallen
ist, dass wir Subalternen nicht hineingehören. Gut. Ich speise bei
dem Grafen, und nach Tische gehn wir in dem großen Saal auf und ab,
ich rede mit ihm, mit dem Obristen B..., der dazu kommt, und so
rückt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weiß, an
nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S... mit ihrem
Herrn Gemahl und wohl ausgebrüteten Gänslein Tochter mit der flachen
Brust und niedlichem Schnürleibe, machen en passant ihre
hergebrachten, hochadeligen Augen und Naslöcher, und wie mir die
Nation von Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und
wartete nur, bis der Graf vom garstigen Gewäsche frei wäre, als
meine Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer ein bisschen
aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter
ihren Stuhl und bemerkte erst nach einiger Zeit, dass sie mit
weniger Offenheit als sonst, mit einiger Verlegenheit mit mir
redete. Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all das Volk, dacht' ich,
und war angestochen und wollte gehen, und doch blieb ich, weil ich
sie gerne entschuldigt hätte und es nicht glaubte und noch ein gut
Wort von ihr hoffte und - was du willst. Unterdessen füllte sich die
Gesellschaft. Der Baron F. mit der ganzen Garderobe von den
Krönungszeiten Franz des Ersten her, der Hofrat R..., hier aber in
qualitate Herr von R... genannt, mit seiner tauben Frau etc., den
Übel fournierten J... nicht zu vergessen, der die Lücken seiner
altfränkischen Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt, das
kommt zu Hauf, und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft, die
alle sehr lakonisch sind. Ich dachte - und gab nur auf meine B...
acht. Ich merkte nicht, dass die Weiber am Ende des Saales sich in
die Ohren flüsterten, dass es auf die Männer zirkulierte, dass Frau
von S. mit dem Grafen redete (das alles hat mir Fräulein B. nachher
erzählt), bis endlich der Graf auf mich losging und mich in ein
Fenster nahm. - "Sie wissen", sagt' er, "unsere wunderbaren
Verhältnisse; die Gesellschaft ist unzufrieden, merkte ich, Sie hier
zu sehn. Ich wollte nicht um alles" - "Ihro Exzellenz," fiel ich
ein, "ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich hätte eher dran denken
sollen, und ich weiß, Sie vergeben mir diese Inkonsequenz; ich
wollte schon vorhin mich empfehlen. Ein böser Genius hat mich
zurückgehalten." Setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich neigte.
- Der Graf drückte meine Hände mit einer Empfindung, die alles
sagte. Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging,
setzte mich in ein Kabriolett und fuhr nach M., dort vom Hügel die
Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer den herrlichen
Gesang zu lesen, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten
bewirtet wird. Das war alles gut.
Des Abends komm' ich
zurück zu Tische, es waren noch wenige in der Gaststube; die
würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch zurückgeschlagen. Da
kommt der ehrliche Adelin hinein, legt seinen Hut nieder, indem er
mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise: "du hast Verdruss
gehabt?" - "Ich?" sagt' ich. - "Der Graf hat dich aus der
Gesellschaft gewiesen." - "Hol' sie der Teufel!" sagt' ich, "mir
war's lieb, dass ich in die freie Luft kam." - "Gut," sagt' er,
"dass du's auf die leichte Achsel nimmst. Nur verdrießt mich's, es
ist schon überall herum." - Da fing mich das Ding erst an zu wurmen.
Alle, die zu Tisch kamen und mich ansahen, dachte ich, die sehen
dich darum an! Das gab böses Blut.
Und da man nun heute gar,
wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre, dass meine Neider nun
triumphieren und sagen: da sähe man's, wo es mit den Übermütigen
hinausginge, die sich ihres bisschen Kopfs überhöben und glaubten,
sich darum über alle Verhältnisse hinaussetzen zu dürfen, und was
des Hundegeschwätzes mehr ist - da möchte man sich ein Messer ins
Herz bohren; denn man rede von Selbständigkeit was man will, den
will ich sehen, der dulden kann, dass Schurken über ihn reden, wenn
sie einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr Geschwätze leer ist, ach
da kann man sie leicht lassen.
Am 16. März
Es hetzt mich alles.
Heut' treff' ich die Fräulein B... in der Allee, ich konnte mich
nicht enthalten, sie anzureden und ihr, sobald wir etwas entfernt
von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr neuliches
Betragen zu zeigen. - "O Werther," sagte sie mit einem innigen Tone,
"konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie mein Herz kennen?
Was ich gelitten habe um Ihretwillen, von dem Augenblicke an, da ich
in den Saal trat! Ich sah alles voraus, hundertmal saß mir's auf der
Zunge, es Ihnen zu sagen. Ich wusste, dass die von S... und T... mit
ihren Männern eher aufbrechen würden, als in Ihrer Gesellschaft zu
bleiben; ich wusste, dass der Graf es mit ihnen nicht verderben
darf, - und jetzt der Lärm!" - "wie, Fräulein?" sagt' ich und
verbarg meinen Schrecken; denn alles, was Adelin mir ehe gestern
gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch die Adern in diesem
Augenblicke. - "Was hat mich es schon gekostet!" sagte das süße
Geschöpf, indem ihr die Tränen in den Augen standen. - Ich war
nicht Herr mehr von mir selbst, war im Begriffe, mich ihr zu Füßen
zu werfen. - "Erklären Sie sich!" rief ich. - Die Tränen liefen ihr
die Wangen herunter. Ich war außer mir. Sie trocknete sie ab, ohne
sie verbergen zu wollen. - "Meine Tante kennen Sie," fing sie an,
"sie war gegenwärtig und hat - o, mit was für Augen hat sie das
angesehen! Werther, ich habe gestern Nacht ausgestanden und heute
früh eine Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müssen
zuhören Sie herabsetzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur
halb verteidigen." Jedes Wort, das sie sprach, ging mir wie ein
Schwert durchs Herz. Sie fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es
gewesen wäre, mir das alles zu verschweigen, und nun fügte sie noch
hinzu, was weiter würde geträtscht werden, was eine Art Menschen
darüber triumphieren würde.
Wie man sich nunmehr über
die Strafe meines Übermuts und meiner Geringschätzung anderer, die
sie mir schon lange vorwerfen, kitzeln und freuen würde. Das alles,
Wilhelm, von ihr zu hören, mit der Stimme der wahrsten Teilnehmung -
ich war zerstört und bin noch wütend in mir. Ich wollte, dass sich
einer unterstünde, mir's vorzuwerfen, dass ich ihm den Degen durch
den Leib stoßen könnte; wenn ich Blut sähe, würde mir's besser
werden. Ach, ich hab' hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem
gedrängten Herzen Luft zu machen. Man erzählt von einer edlen Art
Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich
selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen.
So ist mir's oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige
Freiheit schaffte.
Am 24. März
Ich habe meine Entlassung vom Hofe verlangt und werde sie, hoffe
ich, erhalten, und ihr werdet mir verzeihen, dass ich nicht erst
Erlaubnis dazu bei euch geholt habe. Ich musste nun einmal fort, und
was ihr zu sagen hattet, um mir das Bleiben einzureden, weiß ich
alles, und also - bringe das meiner Mutter in einem Säftchen bei,
ich kann mir selbst nicht helfen, und sie mag sich gefallen lassen,
wenn ich ihr auch nicht helfen kann. Freilich muss es ihr wehe tun.
Den schönen Lauf, den ihr Sohn gerade zum Geheimenrat und Gesandten
ansetzte, so auf einmal Halte zu sehen, und rückwärts mit dem
Tierchen in den Stall! Macht nun daraus, was ihr wollt, und
kombiniert die möglichen Fälle, unter denen ich hätte bleiben können
und sollen; genug, ich gehe, und damit ihr wisst, wo ich hinkomme,
so ist hier der Fürst **, der vielen Geschmack an meiner
Gesellschaft findet; der hat mich gebeten, da er von meiner Absicht
hörte, mit ihm auf seine Güter zu gehen und den schönen Frühling da
zuzubringen. Ich soll ganz mir selbst gelassen sein, hat er mir
versprochen, und da wir uns zusammen bis auf einen gewissen Punkt
verstehn, so will ich es denn auf gut Glück wagen und mit ihm gehen.
Zur Nachricht.
Am 19. April
Danke für deine beiden Briefe. Ich antwortete nicht, weil ich
dieses Blatt liegen ließ, bis mein Abschied vom Hofe da wäre; ich
fürchtete, meine Mutter möchte sich an den Minister wenden und mir
mein Vorhaben erschweren. Nun aber ist es geschehen, mein Abschied
ist da. Ich mag euch nicht sagen, wie ungern man mir ihn gegeben
hat, und was mir der Minister schreibt - ihr würdet in neue
Lamentationen ausbrechen. Der Erbprinz hat mir zum Abschiede
fünfundzwanzig Dukaten geschickt, mit einem Wort, das mich bis zu
Tränen gerührt hat; also brauche ich von der Mutter das Geld nicht,
um das ich neulich schrieb.
Am 5. Mai
Morgen gehe ich von hier ab, und weil mein Geburtsort nur sechs
Meilen vom Wege liegt, so will ich den auch wiedersehen, will mich
der alten, glücklich verträumten Tage erinnern. Zu eben dem Tore
will ich hinein gehn, aus dem meine Mutter mit mir heraus fuhr, als
sie nach dem Tode meines Vaters den lieben, vertraulichen Ort
verließ, um sich in ihre unerträgliche Stadt einzusperren. Adieu,
Wilhelm, du sollst von meinem Zuge hören.
Am 9. Mai
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwarteten Gefühle haben mich
ergriffen. An der großen Linde, die eine Viertelstunde vor der Stadt
nach S... zu steht, ließ ich halten, stieg aus und hieß den
Postillon fortfahren, um zu Fuße jede Erinnerung ganz neu, lebhaft,
nach meinem Herzen zu kosten. Da stand ich nun unter der Linde, die
ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze meiner Spaziergänge
gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher
Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein Herz so
viele Nahrung, so vielen Genuss hoffte, meinen strebenden, sehnenden
Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus der
weiten Welt - o mein Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen
Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Planen! - Ich sah das Gebirge
vor mir liegen, das tausendmal der Gegenstand meiner Wünsche gewesen
war. Stundenlang konnt' ich hier sitzen und mich hinüber sehnen, mit
inniger Seele mich in den Wäldern, den Tälern verlieren, die sich
meinen Augen so freundlich-dämmernd darstellten; und wenn ich dann
um die bestimmte Zeit wieder zurück musste, mit welchem Widerwillen
verließ ich nicht den lieben Platz! - Ich kam der Stadt näher, alle
die alten, bekannten Gartenhäuschen wurden von mir gegrüßt, die
neuen waren mir zuwider, so auch alle Veränderungen, die man sonst
vorgenommen hatte. Ich trat zum Tor hinein und fand mich doch gleich
und ganz wieder. Lieber, ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend,
als es mir war, so einförmig würde es in der Erzählung werden. Ich
hatte beschlossen, auf dem Markte zu wohnen, gleich neben unserem
alten Haus. Im Hingehen bemerkte ich, dass die Schulstube, wo ein
ehrliches altes Weib unsere Kindheit zusammengepfercht hatte, in
einen Kramladen verwandelt war. Ich erinnere mich der Unruhe, der
Tränen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem
Loche ausgestanden hatte. - Ich tat keinen Schritt, der nicht
merkwürdig war. Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viele
Stätten religiöser Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich
so voll heiliger Bewegung. - Noch eins für tausend. Ich ging den
Fluss hinab, bis an einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg,
und die Plätzchen, wo wir Knaben uns übten, die meisten Sprünge der
flachen Steine im Wasser hervorzubringen. Ich erinnerte mich so
lebhaft, wenn ich manchmal stand und dem Wasser nachsah, mit wie
wunderbaren Ahnungen ich es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die
Gegenden vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da sobald
Grenzen meiner Vorstellungskraft fand; und doch musste das weiter
gehen, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer
unsichtbaren Ferne verlor. - Sieh, mein Lieber, so beschränkt
und so glücklich waren die herrlichen Altväter! So kindlich ihr
Gefühl, ihre Dichtung! Wenn Ulyß von dem ungemessnen Meer und von
der unendlichen Erde spricht, das ist so wahr, menschlich, innig,
eng und geheimnisvoll. Was hilft mich's, dass ich jetzt mit jedem
Schulknaben nachsagen kann, dass sie rund sei? Der Mensch braucht
nur wenige Erdschollen, um drauf zu genießen, weniger, um drunter zu
ruhen. Nun bin ich hier, auf dem fürstlichen Jagdschloss. Es lässt
sich noch ganz wohl mit dem Herrn leben, er ist wahr und einfach.
Wunderliche Menschen sind um ihn herum, die ich gar nicht begreife.
Sie scheinen keine Schelmen und haben doch auch nicht das Ansehen
von ehrlichen Leuten. Manchmal kommen sie mir ehrlich vor, und ich
kann ihnen doch nicht trauen. Was mir noch leid tut, ist, dass er
oft von Sachen redet, die er nur gehört und gelesen hat, und zwar
aus eben dem Gesichtspunkte, wie sie ihm der andere vorstellen
mochte. Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als
dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz und alles
Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen - mein Herz habe ich
allein.
Am 25. Mai
Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts sagen wollte, bis
es ausgeführt wäre: jetzt, da nichts draus wird, ist es ebenso gut.
Ich wollte in den Krieg; das hat mir lange am Herzen gelegen.
Vornehmlich darum bin ich dem Fürsten hierher gefolgt, der General
in ***schen Diensten ist. Auf einem Spaziergang entdeckte ich ihm
mein Vorhaben; er widerriet mir es, und es müsste bei mir mehr
Leidenschaft als Grille gewesen sein, wenn ich seinen Gründen nicht
hätte Gehör geben wollen.
Am 11. Junius
Sage was du willst, ich kann nicht länger bleiben. Was soll ich
hier? Die Zeit wird mir lang. Der Fürst hält mich, so gut man nur
kann, und doch bin ich nicht in meiner Lage. Wir haben im Grunde
nichts gemein mit einander. Er ist ein Mann von Verstande, aber von
ganz gemeinem Verstande; sein Umgang unterhält mich nicht mehr, als
wenn ich ein wohl geschriebenes Buch lese. Noch acht Tage bleibe
ich, und dann ziehe ich wieder in der Irre herum. Das Beste, was ich
hier getan habe, ist mein Zeichnen. Der Fürst fühlt in der Kunst und
würde noch stärker fühlen, wenn er nicht durch das garstige
wissenschaftliche Wesen und durch die gewöhnliche Terminologie
eingeschränkt wäre. Manchmal knirsche ich mit den Zähnen, wenn ich
ihn mit warmer Imagination an Natur und Kunst herumführe und er es
auf einmal recht gut zu machen denkt, wenn er mit einem gestempelten
Kunstworte dreinstolpert.
Am 16. Junius
Ja wohl bin ich nur ein Wandrer, ein Waller auf der Erde! Seid
ihr denn mehr?
Am 16. Junius
Wo ich hin will? Das las dir im Vertrauen eröffnen. Vierzehn Tage
muss ich doch noch hier bleiben, und dann habe ich mir weisgemacht,
dass ich die Bergwerke im ***schen besuchen wollte; ist aber im
Grunde nichts dran, ich will nur Lotten wieder näher, das ist alles.
Und ich lache über mein eigenes Herz - und tu' ihm seinen Willen.
Am 29. Julius
Nein, es ist gut! Es ist
alles gut! - Ich - ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du
mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein
anhaltendes Gebet sein. Ich will nicht rechten, und verzeihe mir
diese Tränen, verzeihe mir meine vergeblichen Wünsche! - Sie meine
Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf unter der Sonne in meine Arme
geschlossen hätte - es geht mir ein Schauder durch den ganzen
Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib fasst.
Und, darf ich es sagen?
Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit
ihm! O er ist nicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu
füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein Mangel - nimm es,
wie du willst; dass sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei - O! -
bei der Stelle eines lieben Buches, wo mein Herz und Lottens in
einem zusammentreffen; in hundert andern Vorfällen, wenn es kommt,
dass unsere Empfindungen über eine Handlung eines Dritten laut
werden. Lieber Wilhelm! - Zwar er liebt sie von ganzer Seele, und so
eine Liebe, was verdient die nicht!
- Ein unerträglicher
Mensch hat mich unterbrochen. Meine Tränen sind getrocknet. Ich bin
zerstreut. Adieu, Lieber!
Am 4. August
Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen werden in ihren
Hoffnungen getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen. Ich besuchte
mein gutes Weib unter der Linde. Der älteste Junge lief mir
entgegen, sein Freudengeschrei führte die Mutter herbei, die sehr
niedergeschlagen aussah. Ihr erstes Wort war: "guter Herr, ach, mein
Hans ist mir gestorben!" - Es war der jüngste ihrer Knaben. Ich war
stille. "Und mein Mann," sagte sie, "ist aus der Schweiz zurück und
hat nichts mitgebracht, und ohne gute Leute hätte er sich heraus
betteln müssen, er hatte das Fieber unterwegs gekriegt." - Ich
konnte ihr nichts sagen und schenkte dem Kleinen was; sie bat mich,
einige Äpfel anzunehmen, das ich tat und den Ort des traurigen
Andenkens verließ.
Am 21. August
Wie man eine Hand
umwendet, ist es anders mit mir. Manchmal will wohl ein freudiger
Blick des Lebens wieder aufdämmern, ach, nur für einen Augenblick! -
Wenn ich mich so in Träumen verliere, kann ich mich des Gedankens
nicht erwehren: wie, wenn Albert stürbe? Du würdest! Ja, sie würde -
und dann laufe ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an Abgründe
führet, vor denen ich zurückbebe.
Wenn ich zum Tor
hinausgehe, den Weg, den ich zum ersten Mal fuhr, Lotten zum Tanze
zu holen, wie war das so ganz anders! Alles, alles ist
vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines
damaligen Gefühles. Mir ist es, wie es einem Geiste sein müsste, der
in das ausgebrannte, zerstörte Schloss zurückkehrte, das er als
blühender Fürst einst gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit
ausgestattet, sterbend seinem geliebten Sohne hoffnungsvoll
hinterlassen hätte.
Am 3. September
Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann,
lieb haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe,
nichts anders kenne, noch weiß, noch habe als sie!
Am 4. September
Ja, es ist so. Wie die
Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her.
Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der
benachbarten Bäume abgefallen. Hab' ich dir nicht einmal von einem
Bauerburschen geschrieben, gleich da ich herkam? Jetzt erkundigte
ich mich wieder nach ihm in Wahlheim; es hieß, er sei aus dem
Dienste gejagt worden, und niemand wollte was weiter von ihm wissen.
Gestern traf ich ihn von ungefähr auf dem Wege nach einem andern
Dorfe, ich redete ihn an, und er erzählte mir seine Geschichte, die
mich doppelt und dreifach gerührt hat, wie du leicht begreifen
wirst, wenn ich dir sie wiedererzähle. Doch wozu das alles? Warum
behalt' ich nicht für mich, was mich ängstigt und kränkt? Warum
betrüb' ich noch dich? Warum geb' ich dir immer Gelegenheit, mich zu
bedauern und mich zu schelten? Sei's denn, auch das mag zu meinem
Schicksal gehören!
Mit einer stillen
Traurigkeit, in der ich ein wenig scheues Wesen zu bemerken schien,
antwortete der Mensch mir erst auf meine Fragen; aber gar bald
offner, als wenn er sich und mich auf einmal wiedererkennte, gestand
er mir seine Fehler, klagte er mir sein Unglück. Könnt' ich dir,
mein Freund, jedes seiner Worte vor Gericht stellen! Er bekannte, ja
er erzählte mit einer Art von Genuss und Glück der Wiedererinnerung,
dass die Leidenschaft zu seiner Hausfrau sich in ihm tagtäglich
vermehrt, dass er zuletzt nicht gewusst habe, was er tue, nicht, wie
er sich ausdrückte, wo er mit dem Kopfe hingesollt. Er habe weder
essen noch trinken noch schlafen können, es habe ihm an der Kehle
gestockt, er habe getan, was er nicht tun sollen; was ihm
aufgetragen worden, hab' er vergessen, er sei als wie von einem
bösen Geist verfolgt gewesen, bis er eines Tages, als er sie in
einer obern Kammer gewusst, ihr nachgegangen, ja vielmehr ihr
nachgezogen worden sei; da sie seinen Bitten kein Gehör gegeben,
hab' er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen; er wisse nicht,
wie ihm geschehen sei, und nehme Gott zum Zeugen, dass seine
Absichten gegen sie immer redlich gewesen, und dass er nichts
sehnlicher gewünscht, als dass sie ihn heiraten, dass sie mit ihm
ihr Leben zubringen möchte. Da er eine Zeitlang geredet hatte, fing
er an zu stocken, wie einer, der noch etwas zu sagen hat und sich es
nicht herauszusagen getraut; endlich gestand er mir auch mit
Schüchternheit, was sie ihm für kleine Vertraulichkeiten erlaubt,
und welche Nähe sie ihm vergönnet. Er brach zwei-, dreimal ab und
wiederholte die lebhaftesten Protestationen, dass er das nicht sage,
um sie schlecht zu machen, wie er sich ausdrückte, dass er sie liebe
und schätze wie vorher, dass so etwas nicht über seinen Mund
gekommen sei und dass er es mir nur sage, um mich zu überzeugen,
dass er kein ganz verkehrter und unsinniger Mensch sei.
- Und hier, mein Bester,
fang' ich mein altes Lied wieder an, das ich ewig anstimmen werde:
könnt' ich dir den Menschen vorstellen, wie er vor mir stand, wie er
noch vor mir steht! Könnt' ich dir alles recht sagen, damit du
fühltest, wie ich an seinem Schicksale teilnehme, teilnehmen muss!
Doch genug, da du auch mein Schicksal kennst, auch mich kennst, so
weißt du nur zu wohl, was mich zu allen Unglücklichen, was mich
besonders zu diesem Unglücklichen hinzieht.
Da ich das Blut wieder
durchlese, seh' ich, dass ich das Ende der Geschichte zu erzählen
vergessen habe, das sich aber leicht hinzudenken lässt. Sie erwehrte
sich sein; ihr Bruder kam dazu, der ihn schon lange gehasst, der ihn
schon lange aus dem Hause gewünscht hatte, weil er fürchtet, durch
eine neue Heirat der Schwester werde seinen Kindern die Erbschaft
entgehn, die ihnen jetzt, da sie kinderlos ist, schöne Hoffnungen
gibt; dieser habe ihn gleich zum Hause hinausgestoßen und einen
solchen Lärm von der Sache gemacht, dass die Frau, auch selbst wenn
sie gewollt, ihn nicht wieder hätte aufnehmen können. Jetzt habe sie
wieder einen andern Knecht genommen, auch über den, sage man, sei
sie mit dem Bruder zerfallen, und man behaupte für gewiss, sie werde
ihn heiraten, aber er sei fest entschlossen, das nicht zu erleben.
Was ich dir erzähle, ist
nicht übertrieben, nichts verzärtelt, ja ich darf wohl sagen,
schwach, schwach hab' ich's erzählt, und vergröbert hab' ich's,
indem ich's mit unsern hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen
habe.
Diese Liebe, diese Treue,
diese Leidenschaft ist also keine dichterische Erfindung. Sie lebt,
sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von Menschen, die
wir ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten - zu Nichts
Verbildeten! Lies die Geschichte mit Andacht, ich bitte dich. Ich
bin heute still, indem ich das hinschreibe; du siehst an meiner
Hand, dass ich nicht so strudele und sudele wie sonst. Lies, mein
Geliebter, und denke dabei, dass es auch die Geschichte deines
Freundes ist. Ja so ist mir's gegangen, so wird mir's gehn, und ich
bin nicht halb so brav, nicht halb so entschlossen als der arme
Unglückliche, mit dem ich mich zu vergleichen mich fast nicht
getraue.
Am 5. September
Sie hatte ein Zettelchen an ihren Mann aufs Land geschrieben, wo
er sich Geschäfte wegen aufhielt. Es fing an: "Bester, Liebster,
komme, sobald du kannst, ich erwarte dich mit tausend Freuden." -
Ein Freund, der hereinkam, brachte Nachricht, dass er wegen gewisser
Umstände so bald noch nicht zurückkehren würde. Das Billett blieb
liegen und fiel mir abends in die Hände. Ich las es und lächelte;
sie fragte worüber? - "Was die Einbildungskraft für ein göttliches
Geschenk ist," rief ich aus, "ich konnte mir einen Augenblick
vorspiegeln, als wäre es an mich geschrieben." - Sie brach ab, es
schien ihr zu missfallen, und ich schwieg.
Am 6. September
Es hat schwer gehalten, bis ich mich entschloss, meinen blauen
einfachen Frack, in dem ich mit Lotten zum ersten Male tanzte,
abzulegen, er ward aber zuletzt gar unscheinbar. Auch habe ich mir
einen machen lassen ganz wie den vorigen, Kragen und Aufschlag, und
auch wieder so gelbe Weste und Beinkleider dazu. Ganz will es doch
die Wirkung nicht tun. Ich weiß nicht - ich denke, mit der Zeit soll
mir der auch lieber werden.
Am 12. September
Sie war einige Tage
verreist, Alberten abzuholen. Heute trat ich in ihre Stube, sie kam
mir entgegen, und ich küsste ihre Hand mit tausend Freuden.
Ein Kanarienvogel flog
von dem Spiegel ihr auf die Schulter. - "Einen neuen Freund,"
sagte sie und lockte ihn auf ihre Hand, "er ist meinen Kleinen
zugedacht. Er tut gar zu lieb! Sehen Sie ihn! Wenn ich ihm Brot
gebe, flattert er mit den Flügeln und pickt so artig. Er küsst mich
auch, sehen Sie!"
Als sie dem Tierchen den
Mund hinhielt, drückte es sich so lieblich in die süßen Lippen, als
wenn es die Seligkeit hätte fühlen können, die es genoss.
"Er soll Sie auch
küssen," sagte sie und reichte den Vogel herüber. - Das
Schnäbelchen machte den Weg von ihrem Munde zu dem meinigen, und die
pickende Berührung war wie ein Hauch, eine Ahnung liebevollen
Genusses.
"Sein Kuss," sagte ich,
"ist nicht ganz ohne Begierde, er sucht Nahrung und kehrt
unbefriedigt von der leeren Liebkosung zurück."
"Er isst mir auch aus dem
Munde." sagte sie. - Sie reichte ihm einige Brosamen mit ihren
Lippen, aus denen die Freuden unschuldig teilnehmender Liebe in
aller Wonne lächelten.
Ich kehrte das Gesicht
weg. Sie sollte es nicht tun, sollte nicht meine Einbildungskraft
mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen und
mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die Gleichgültigkeit
des Lebens wiegt, nicht wecken! - Und warum nicht? - Sie traut mir
so! Sie weiß, wie ich sie liebe!
Am 15. September
Man möchte rasend werden, Wilhelm, dass es Menschen geben soll
ohne Sinn und Gefühl an dem wenigen, was auf Erden noch einen Wert
hat. Du kennst die Nussbäume, unter denen ich bei dem ehrlichen
Pfarrer zu St... mit Lotten gesessen, die herrlichen Nussbäume, die
mich, Gott weiß, immer mit dem größten Seelenvergnügen füllten! Wie
vertraulich sie den Pfarrhof machten, wie kühl! Und wie herrlich die
Äste waren! Und die Erinnerung bis zu den ehrlichen Geistlichen, die
sie vor vielen Jahren pflanzten. Der Schulmeister hat uns den einen
Namen oft genannt, den er von seinem Großvater gehört hatte; und so
ein braver Mann soll er gewesen sein, und sein Andenken war immer
heilig unter den Bäumen. Ich sage dir, dem Schulmeister standen die
Tränen in den Augen, da wir gestern davon redeten, dass sie
abgehauen worden - abgehauen! Ich möchte toll werden, ich
könnte den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat. Ich, der ich
mich vertrauern könnte, wenn so ein paar Bäume in meinem Hofe
stünden und einer davon stürbe vor Alter ab, ich muss zusehen.
Lieber Schatz, eins ist doch dabei: was Menschengefühl ist! Das
ganze Dorf murrt, und ich hoffe, die Frau Pfarrerin soll es an
Butter und Eiern und übrigem Zutrauen spüren, was für eine Wunde sie
ihrem Orte gegeben hat. Denn sie ist es, die Frau des neuen Pfarrers
(unser alter ist auch gestorben), ein hageres, kränkliches Geschöpf,
das sehr Ursache hat, an der Welt keinen Anteil zu nehmen, denn
niemand nimmt Anteil an ihr. Eine Närrin, die sich abgibt, gelehrt
zu sein, sich in die Untersuchung des Kanons meliert, gar viel an
der neumodischen, moralisch-kritischen Reformation des Christentumes
arbeitet und über Lavaters Schwärmereien die Achseln zuckt, eine
ganz zerrüttete Gesundheit hat und deswegen auf Gottes Erdboden
keine Freude. So einer Kreatur war es auch allein möglich, meine
Nussbäume abzuhauen. Siehst du, ich komme nicht zu mir! Stelle dir
vor: die abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig,
die Bäume nehmen ihr das Tageslicht, und wenn die Nüsse reif sind,
so werfen die Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die
Nerven, das stört sie in ihren tiefen Überlegungen, wenn sie
Kennikot, Semler und Michaelis gegen einander abwiegt. Da ich die
Leute im Dorfe, besonders die alten, so unzufrieden sah, sagte ich:
"warum habt ihr es gelitten?" - "wenn der Schulze will, hier zu
Lande," sagten sie, "was kann man machen?" - Aber eins ist recht
geschehen. Der Schulze und der Pfarrer, der doch auch von seiner
Frauen Grillen, die ihm ohnedies die Suppen nicht fett machen, was
haben wollte, dachten es mit einander zu teilen; da erfuhr es die
Kammer und sagte: "hier herein!" denn sie hatte noch alte
Prätensionen an den Teil des Pfarrhofes, wo die Bäume standen, und
verkaufte sie an den Meistbietenden. Sie liegen! O, wenn ich Fürst
wäre! Ich wollte die Pfarrerin, den Schulzen und die Kammer -
Fürst! - ja wenn ich Fürst wäre, was kümmerten mich die Bäume in
meinem Lande!
Am 10. Oktober
Wenn ich nur ihre schwarzen Augen sehe, ist mir es schon wohl!
Sieh, und was mich verdrießt, ist, dass Albert nicht so beglückt zu
sein scheinet, als er - hoffte - als ich - zu sein glaubte - wenn -
ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht
anders ausdrücken - und mich dünkt deutlich genug.
Am 10. Oktober
Ossian hat in meinem Herzen den Humor verdrängt. Welch eine Welt,
in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide, umsaust
vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im
dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her, im
Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren
Höhlen, und die Wehklagen des zu Tode sich jammernden Mädchens, um
die vier moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des Edelgefallnen,
ihres Geliebten. Wenn ich ihn dann finde, den wandelnden grauen
Barden, der auf der weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter sucht
und, ach, ihre Grabsteine findet und dann jammernd nach dem lieben
Sterne des Abends hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt,
und die Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele lebendig
werden, da noch der freundliche Strahl den Gefahren der Tapferen
leuchtete und der Mond ihr bekränztes, siegrückkehrendes Schiff
beschien. Wenn ich den tiefen Kummer auf seiner Stirn lese, den
letzten verlassenen Herrlichen in aller Ermattung dem Grabe zuwanken
sehe, wie er immer neue, schmerzlich glühende Freuden in der
kraftlosen Gegenwart der Schatten seiner Abgeschiedenen einsaugt und
nach der kalten Erde, dem hohen, wehenden Grase niedersieht und
ausruft: "Der Wanderer wird kommen, kommen, der mich kannte in
meiner Schönheit, und fragen: 'wo ist der Sänger, Fingals
trefflicher Sohn?' Sein Fußtritt geht über mein Grab hin, und er
fragt vergebens nach mir auf der Erde." - O Freund! Ich möchte
gleich einem edlen Waffenträger das Schwert ziehen, meinen Fürsten
von der zückenden Qual des langsam absterbenden Lebens auf einmal
befreien und dem befreiten Halbgott meine Seele nachsenden.
Am 19. Oktober
Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem
Busen fühle! - Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an
dieses Herz drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt
sein.
Am 19. Oktober
Ja
es wird mir gewiss, Lieber, gewiss und immer gewisser, dass an dem
Dasein eines Geschöpfes wenig gelegen ist, ganz wenig. Es kam eine
Freundin zu Lotten, und ich ging herein ins Nebenzimmer, ein Buch zu
nehmen, und konnte nicht lesen, und dann nahm ich eine Feder, zu
schreiben. Ich hörte sie leise reden; sie erzählten einander
unbedeutende Sachen, Stadtneuigkeiten: wie diese heiratet, wie jene
krank, sehr krank ist. - "Sie hat einen trocknen Husten, die Knochen
stehn ihr zum Gesichte heraus, und kriegt Ohnmachten; ich gebe
keinen Kreuzer für ihr Leben." Sagte die eine. - "Der N. N. ist auch
so Übel dran," sagte Lotte. - "Er ist schon geschwollen," sagte die
andere. - Und meine lebhafte Einbildungskraft versetzte mich ans
Bett dieser Armen; ich sah sie, mit welchem Widerwillen sie dem
Leben den Rücken wandten, wie sie - Wilhelm! Und meine Weibchen
redeten davon, wie man eben davon redet - dass ein Fremder stirbt. -
Und wenn ich mich umsehe und sehe das Zimmer an, und rings um mich
Lottens Kleider und Alberts Skripturen und diese Möbeln, denen ich
nun so befreundet bin, sogar diesem Dintenfaß, und denke: siehe, was
du nun diesem Hause bist! Alles in allem. Deine Freunde ehren dich!
Du machst oft ihre Freude, und deinem Herzen scheint es, als wenn es
ohne sie nicht sein könnte; und doch - wenn du nun gingst, wenn du
aus diesem Kreise schiedest? Würden sie, wie lange würden sie die
Lücke fühlen, die dein Verlust in ihr Schicksal reißt? Wie lange? -
O, so vergänglich ist der Mensch, dass er auch da, wo er seines
Daseins eigentliche Gewissheit hat, da, wo er den einzigen wahren
Eindruck seiner Gegenwart macht, in dem Andenken, in der Seele
seiner Lieben, dass er auch da verlöschen, verschwinden muss, und
das so bald!
Am 27. Oktober
Ich möchte mir oft die
Brust zerreißen und das Gehirn einstoßen, dass man einander so wenig
sein kann. Ach die Liebe, Freude, Wärme und Wonne, die ich nicht
hinzubringe, wird mir der andere nicht geben, und mit einem ganzen
Herzen voll Seligkeit werde ich den andern nicht beglücken, der kalt
und kraftlos vor mir steht.
Ich habe so viel, und die
Empfindung an ihr verschlingt alles; ich habe so viel, und ohne sie
wird mir alles zu Nichts.
Am 27. Oktober
abends
Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte gestanden bin, ihr
um den Hals zu fallen! Weiß der große Gott, wie einem das tut, so
viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht
zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste
Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen
in den Sinn fällt? - Und ich?
Am 30. Oktober
Weiß Gott! Ich lege mich
so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht
wieder zu erwachen: und morgens schlage ich die Augen auf, sehe die
Sonne wieder, und bin elend. O dass ich launisch sein könnte, könnte
die Schuld aufs Wetter, auf einen Dritten, auf eine fehlgeschlagene
Unternehmung schieben, so würde die unerträgliche Last des Unwillens
doch nur halb auf mir ruhen. Wehe mir! Ich fühle zu wahr, dass an
mir alle Schuld liegt - nicht Schuld! Genug, dass in mir die Quelle
alles Elendes verborgen ist, wie ehemals die Quelle aller
Seligkeiten. Bin ich nicht noch ebenderselbe, der ehemals in aller
Fülle der Empfindung herumschwebte, dem auf jedem Tritte ein
Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu
umfassen? Und dies Herz ist jetzt tot, aus ihm fließen keine
Entzückungen mehr, meine Augen sind trocken, und meine Sinne, die
nicht mehr von erquickenden Tränen gelabt werden, ziehen ängstlich
meine Stirn zusammen. Ich leide viel, denn ich habe verloren, was
meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit
der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin! - Wenn ich zu meinem
Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über
ihn her den Nebel durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint,
und der sanfte Fluss zwischen seinen entblätterten Weiden zu mir
herschlängelt, - o! Wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir
steht wie ein lackiertes Bildchen, und alle die Wonne keinen Tropfen
Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann, und
der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie ein versiegter
Brunnen, wie ein verlechter Eimer. Ich habe mich oft auf den Boden
geworfen und Gott um Tränen gebeten, wie ein Ackersmann um Regen,
wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdürstet.
Aber, ach, ich fühle es,
Gott gibt Regen und Sonnenschein nicht unserm ungestümen Bitten, und
jene Zeiten, deren Andenken mich quält, warum waren sie so selig,
als weil ich mit Geduld seinen Geist erwartete und die Wonne, die er
über mich ausgoss, mit ganzem, innig dankbarem Herzen aufnahm!
Am 8. November
Sie hat mir meine Exzesse vorgeworfen! Ach, mit so viel
Liebenswürdigkeit! Meine Exzesse, dass ich mich manchmal von einem
Glase Wein verleiten lasse, eine Bouteille zu trinken. - "Tun Sie es
nicht!" sagte sie, "denken Sie an Lotten!" - "Denken!" sagte ich,
"brauchen Sie mir das zu heißen? Ich denke! - Ich denke nicht! Sie
sind immer vor meiner Seele. Heute saß ich an dem Flecke, wo Sie
neulich aus der Kutsche stiegen." - Sie redete was anders, um mich
nicht tiefer in den Text kommen zu lassen. Bester, ich bin dahin!
Sie kann mit mir machen, was sie will.
Am 15. November
Ich danke dir, Wilhelm, für deinen herzlichen Anteil, für deinen
wohlmeinenden Rat und bitte dich, ruhig zu sein. Las mich ausdulden,
ich habe bei aller meiner Müdseligkeit noch Kraft genug
durchzusetzen. Ich ehre die Religion, das weißt du, ich fühle, dass
sie manchem Ermatteten Stab, manchem Verschmachtenden Erquickung
ist. Nur - kann sie denn, muss sie denn das einem jeden sein? Wenn
du die große Welt ansiehst, so siehst du Tausende, denen sie es
nicht war, Tausende, denen sie es nicht sein wird, gepredigt oder
ungepredigt, und muss sie mir es denn sein? Sagt nicht selbst der
Sohn Gottes, dass die um ihn sein würden, die ihm der Vater gegeben
hat? Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin? Wenn mich nun der Vater für
sich behalten will, wie mir mein Herz sagt? - Ich bitte dich, lege
das nicht falsch aus; sieh nicht etwa Spott in diesen unschuldigen
Worten; es ist meine ganze Seele, die ich dir vorlege; sonst wollte
ich lieber, ich hätte geschwiegen: wie ich denn über alles das,
wovon jedermann so wenig weiß als ich, nicht gern ein Wort verliere.
Was ist es anders als Menschenschicksal, sein Maß auszuleiden,
seinen Becher auszutrinken? - Und ward der Kelch dem Gott vom
Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter, warum soll ich großtun
und mich stellen, als schmeckte er mir süß? Und warum sollte ich
mich schämen, in dem schrecklichen Augenblick, da mein ganzes Wesen
zwischen Sein und Nichtsein zittert, da die Vergangenheit wie ein
Blitz über dem finstern Abgrunde der Zukunft leuchtet und alles um
mich her versinkt und mit mir die Welt untergeht? Ist es da nicht
die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden und
unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur, in den innern Tiefen ihrer
vergebens aufarbeitenden Kräfte zu knirschen: "mein Gott! Mein Gott!
Warum hast du mich verlassen?" und sollt' ich mich des Ausdruckes
schämen, sollte mir es vor dem Augenblicke bange sein, da ihm der
nicht entging, der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch?
Am 21. November
Sie sieht nicht, sie
fühlt nicht, dass sie ein Gift bereitet, das mich und sie zugrunde
richten wird; und ich mit voller Wollust schlürfe den Becher aus,
den sie mir zu meinem Verderben reicht. Was soll der gütige Blick,
mit dem sie mich oft - oft? - nein, nicht oft, aber doch manchmal
ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen Ausdruck
meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich
auf ihrer Stirne zeichnet?
Gestern, als ich wegging,
reichte sie mir die Hand und sagte: "Adieu, lieber Werther!" -
Lieber Werther! Es war das erste Mal, dass sie mich Lieber hieß, und
es ging mir durch Mark und Bein. Ich habe es mir hundertmal
wiederholt, und gestern Nacht, da ich zu Bette gehen wollte und mit
mir selbst allerlei schwatzte, sagte ich so auf einmal: "gute Nacht,
lieber Werther!" und musste hernach selbst über mich lachen.
Am 22. November
Ich kann nicht beten: "las mir sie!" und doch kommt sie mir oft
als die Meine vor. Ich kann nicht beten: "gib mir sie!" denn sie ist
eines andern. Ich witzle mich mit meinen Schmerzen herum; wenn ich
mir's nachließe, es gäbe eine ganze Litanei von Antithesen.
Am 24. November
Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs
Herz gedrungen. Ich fand sie allein; ich sagte nichts, und sie sah
mich an. Und ich sah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit,
nicht mehr das Leuchten des trefflichen Geistes, das war alles vor
meinen Augen verschwunden. Ein weit herrlicherer Blick wirkte auf
mich, voll Ausdruck des innigsten Anteils, des süßesten Mitleidens.
Warum durft' ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? Warum durft' ich
nicht an ihrem Halse mit tausend Küssen antworten? Sie nahm ihre
Zuflucht zum Klavier und hauchte mit süßer, leiser Stimme
harmonische Laute zu ihrem Spiele. Nie habe ich ihre Lippen so
reizend gesehn; es war, als wenn sie sich lechzend öffneten, jene
süßen Töne in sich zu schlürfen, die aus dem Instrument
hervorquollen, und nur der heimliche Widerschall aus dem reinen
Munde zurückklänge - ja wenn ich dir das so sagen könnte! - Ich
widerstand nicht länger, neigte mich und schwur: nie will ich es
wagen, einen Kuss euch aufzudrücken, Lippen, auf denen die Geister
des Himmels schweben. - Und doch - ich will - ha! Siehst du, das
steht wie eine Scheidewand vor meiner Seele - diese Seligkeit - und
dann untergegangen, diese Sünde abzubüßen - Sünde?
Am 26. November
Manchmal sag' ich mir: dein Schicksal ist einzig; preise die
übrigen glücklich - so ist noch keiner gequält worden. - Dann lese
ich einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir, als säh' ich in mein
eignes Herz. Ich habe so viel auszustehen! Ach, sind denn Menschen
vor mir schon so elend gewesen?
Am 30. November
Ich soll, ich soll nicht
zu mir selbst kommen! Wo ich hintrete, begegnet mir eine
Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heute! O Schicksal!
O Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser
hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war
Öde, ein nasskalter Abendwind blies vom Berge, und die grauen
Regenwolken zogen das Tal hinein. Von fern seh' ich einen Menschen
in einem grünen, schlechten Rocke, der zwischen den Felsen
herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm
kam und er sich auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah
ich eine gar interessante Physiognomie, darin eine stille Trauer den
Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen geraden guten Sinn
ausdrückte; seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwei Rollen
gesteckt, und die übrigen in einen starken Zopf geflochten, der ihm
den Rücken herunter hing. Da mir seine Kleidung einen Menschen von
geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubte ich, er würde es nicht
übelnehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung aufmerksam wäre, und
daher fragte ich ihn, was er suchte? - "Ich suche," antwortete er
mit einem tiefen Seufzer, "Blumen - und finde keine." - "Das ist
auch die Jahreszeit nicht." sagte ich lächelnd. - "Es gibt so
viele Blumen," sagte er, indem er zu mir herunterkam. "In meinem
Garten sind Rosen und Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine hat
mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie Unkraut; ich suche schon
zwei Tage darnach und kann sie nicht finden. Da haußen sind auch
immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und das Tausendgüldenkraut
hat ein schönes Blümchen. Keines kann ich finden." - Ich
merkte was Unheimliches, und drum fragte ich durch einen Umweg: "Was
will er denn mit den Blumen?" - Ein wunderbares, zuckendes Lächeln
verzog sein Gesichte. "Wenn er mich nicht verraten will," sagte er,
indem er den Finger auf den Mund drückte, "ich habe meinem Schatz
einen Strauß versprochen." - "Das ist brav," sagte ich. - "O! "
sagte er, "sie hat viel andere Sachen, sie ist reich." - "Und doch
hat sie seinen Strauß lieb," versetzte ich. - "O!" fuhr er fort,
"sie hat Juwelen und eine Krone." - "Wie heißt sie denn?" - "Wenn
mich die Generalstaaten bezahlen wollten," versetzte er, "ich wär'
ein anderer Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl
war! Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun." Ein nasser Blick zum
Himmel drückte alles aus. - "Er war also glücklich?" fragte ich. -
"Ach ich wollte, ich wäre wieder so!" sagte er "Da war mir es so
wohl, so lustig, so leicht wie einem Fisch im Wasser!" - "Heinrich!"
rief eine alte Frau, die den Weg herkam, "Heinrich, wo steckst du?
Wir haben dich überall gesucht, komm zum Essen." - "Ist das euer
Sohn?" fragt' ich, zu ihr tretend. - "Wohl, mein armer Sohn!"
versetzte sie. "Gott hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt." - "Wie
lange ist er so?" fragte ich. - "So stille," sagte sie, "ist er nun
ein halbes Jahr. Gott sei Dank, dass er nur so weit ist, vorher war
er ein ganzes Jahr rasend, da hat er an Ketten im Tollhause gelegen.
Jetzt tut er niemand nichts, nur hat er immer mit Königen und
Kaisern zu schaffen. Er war ein so guter, stiller Mensch, der mich
ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er
tiefsinnig, fällt in ein hitziges Fieber, daraus in Raserei, und nun
ist er, wie Sie ihn sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr." -
Ich unterbrach den Strom ihrer Worte mit der Frage: "was war denn
das für eine Zeit, von der er rühmt, dass er so glücklich, so wohl
darin gewesen sei?" - "Der törichte Mensch!" rief sie mit
mitleidigem Lächeln, "da meint er die Zeit, da er von sich war, das
rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im Tollhause war, wo er
nichts von sich wusste." - Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag,
ich drückte ihr ein Stück Geld in die Hand und verließ sie eilend.
Da du glücklich warst! Rief ich aus, schnell vor mich hin nach der
Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem Fisch im Wasser! -
Gott im Himmel! Hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht,
dass sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen
und wenn sie ihn wieder verlieren! - Elender! Und auch wie beneide
ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du
verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu
pflücken - im Winter - und trauerst, da du keine findest, und
begreifst nicht, warum du keine finden kannst. Und ich - und ich
gehe ohne Hoffnung, ohne Zweck heraus und kehre wieder heim, wie ich
gekommen bin. - Du wähnst, welcher Mensch du sein würdest, wenn die
Generalstaaten dich bezahlten. Seliges Geschöpf, das den Mangel
seiner Glückseligkeit einer irdischen Hindernis zuschreiben kann! Du
fühlst nicht, du fühlst nicht, dass in deinem zerstörten Herzen, in
deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der
Erde dir nicht helfen können. Müsse der trostlos umkommen, der eines
Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist, die seine
Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird! Der
sich über das bedrängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse
loszuwerden und die Leiden seiner Seele abzutun, eine Pilgrimschaft
nach dem heiligen Grabe tut. Jeder Fußtritt, der seine Sohlen auf
ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein Linderungstropfen der
geängsteten Seele, und mit jeder ausgedauerten Tagereise legt sich
das Herz um viele Bedrängnisse leichter nieder. - Und dürft ihr das
Wahn nennen, ihr Wortkrämer auf euren Polstern? - Wahn! - o Gott! Du
siehst meine Tränen! Musstest du, der du den Menschen arm genug
erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bisschen Armut, das
bisschen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du
Allliebender! Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den
Tränen des Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, dass du in
alles, was uns umgibt, Heil - und Linderungskraft gelegt hast, der
wir so stündlich bedürfen? Vater, den ich nicht kenne! Vater, der
sonst meine ganze Seele füllte und nun sein Angesicht von mir
gewendet hat, rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein
Schweigen wird diese dürstende Seele nicht aufhalten - und würde ein
Mensch, ein Vater, zürnen können, dem sein unvermutet rückkehrender
Sohn um den Hals fiele und riefe: "ich bin wieder da, mein Vater!
Zürne nicht, dass ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem
Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerlei, auf
Mühe und Arbeit Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur
wohl, wo du bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und
genießen." - Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir
weisen?
Am 1. Dezember
Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb, der glückliche
Unglückliche, war Schreiber bei Lottens Vater, und eine Leidenschaft
zu ihr, die er nährte, verbarg, entdeckte und worüber er aus dem
Dienst geschickt wurde, hat ihn rasend gemacht. Fühle bei diesen
trocknen Worten, mit welchem Unsinn mich die Geschichte ergriffen
hat, da mir sie Albert ebenso gelassen erzählte, als du sie
vielleicht liesest.
Am 4. Dezember
Ich bitte dich - siehst du, mit mir ist's aus, ich trag' es nicht
länger! Heute saß ich bei ihr - saß, sie spielte auf ihrem Klavier,
mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck! All! - All! - Was
willst du? - Ihr Schwesterchen putzte ihre Puppe auf meinem Knie.
Mir kamen die Tränen in die Augen. Ich neigte mich, und ihr Trauring
fiel mir ins Gesicht - meine Tränen flossen - und auf einmal fiel
sie in die alte, himmelsüße Melodie ein, so auf einmal, und mir
durch die Seele gehn ein Trostgefühl und eine Erinnerung des
Vergangenen, der Zeiten, da ich das Lied gehört, der düstern
Zwischenräume des Verdrusses, der fehlgeschlagenen Hoffnungen, und
dann - ich ging in der Stube auf und nieder, mein Herz erstickte
unter dem Zudringen. - "Um Gottes willen," sagte ich, mit
einem heftigen Ausbruch hin gegen sie fahrend, "um Gottes willen,
hören Sie auf!" - Sie hielt und sah mich starr an." Werther, "sagte
sie mit einem Lächeln, das mir durch die Seele ging, "Werther, Sie
sind sehr krank, Ihre Lieblingsgerichte widerstehen Ihnen. Gehen
Sie! Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich." - Ich riss mich von
ihr weg und - Gott! Du siehst mein Elend und wirst es enden.
Am 6. Dezember
Wie mich die Gestalt
verfolgt! Wachend und träumend füllt sie meine ganze Seele! Hier,
wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne, wo die innere
Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! Ich kann
dir es nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen zu, so sind sie da;
wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die
Sinne meiner Stirn.
Was ist der Mensch, der
gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er
sie am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt
oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da
aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewusstsein wieder
zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren
sehnte?
Der
Herausgeber an den Leser
Wie sehr wünscht' ich,
dass uns von den letzten merkwürdigen Tagen unsers Freundes so viel
eigenhändige Zeugnisse übrig geblieben wären, dass ich nicht nötig
hätte, die Folge seiner hinterlassnen Briefe durch Erzählung zu
unterbrechen.
Ich habe mir angelegen
sein lassen, genaue Nachrichten aus dem Munde derer zu sammeln, die
von seiner Geschichte wohl unterrichtet sein konnten; sie ist
einfach, und es kommen alle Erzählungen davon bis auf wenige
Kleinigkeiten miteinander überein; nur über die Sinnesarten der
handelnden Personen sind die Meinungen verschieden und die Urteile
geteilt.
Was bleibt uns übrig, als
dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe erfahren können,
gewissenhaft zu erzählen, die von dem Abscheidenden hinterlassnen
Briefe einzuschalten und das kleinste aufgefundene Blättchen nicht
gering zu achten; zumal da es so schwer ist, die eigensten, wahren
Triebfedern auch nur einer einzelnen Handlung zu entdecken, wenn sie
unter Menschen vorgeht, die nicht gemeiner Art sind.
Unmut und Unlust hatten
in Werthers Seele immer tiefer Wurzel geschlagen, sich fester
untereinander verschlungen und sein ganzes Wesen nach und nach
eingenommen. Die Harmonie seines Geistes war völlig zerstört, eine
innerliche Hitze und Heftigkeit, die alle Kräfte seiner Natur
durcheinander arbeitete, brachte die widrigsten Wirkungen hervor und
ließ ihm zuletzt nur eine Ermattung übrig, aus der er noch
ängstlicher empor strebte, als er mit allen Übeln bisher gekämpft
hatte. Die Beängstigung seines Herzens zehrte die übrigen Kräfte
seines Geistes, seine Lebhaftigkeit, seinen Scharfsinn auf, er ward
ein trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher, und immer
ungerechter, je unglücklicher er ward. Wenigstens sagen dies Alberts
Freunde; sie behaupten, dass Werther einen reinen, ruhigen Mann, der
nun eines lang gewünschten Glückes teilhaftig geworden, und sein
Betragen, sich dieses Glück auch auf die Zukunft zu erhalten, nicht
habe beurteilen können, er, der gleichsam mit jedem Tage sein ganzes
Vermögen verzehrte, um an dem Abend zu leiden und zu darben. Albert,
sagen sie, hatte sich in so kurzer Zeit nicht verändert, er war noch
immer derselbige, den Werther so vom Anfang her kannte, so sehr
schätzte und ehrte. Er liebte Lotten über alles, er war stolz auf
sie und wünschte sie auch von jedermann als das herrlichste Geschöpf
anerkannt zu wissen. War es ihm daher zu verdenken, wenn er auch
jeden Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte, wenn er in dem
Augenblicke mit niemand diesen köstlichen Besitz auch auf die
unschuldigste Weise zu teilen Lust hatte? Sie gestehen ein, dass
Albert oft das Zimmer seiner Frau verlassen, wenn Werther bei ihr
war, aber nicht aus Hass noch Abneigung gegen seinen Freund, sondern
nur weil er gefühlt habe, dass dieser von seiner Gegenwart gedrückt
sei.
Lottens Vater war von
einem Übel befallen worden, das ihn in der Stube hielt, er schickte
ihr seinen Wagen, und sie fuhr hinaus. Es war ein schöner Wintertag,
der erste Schnee war stark gefallen und deckte die ganze Gegend.
Werther ging ihr den
andern Morgen nach, um, wenn Albert sie nicht abzuholen käme, sie
hereinzubegleiten.
Das klare Wetter konnte
wenig auf sein trübes Gemüt wirken, ein dumpfer Druck auf seiner
Seele, die traurigen Bilder hatten sich bei ihm festgesetzt, und
sein Gemüt kannte keine Bewegung als von einem schmerzlichen
Gedanken zum andern.
Wie er mit sich in ewigem
Unfrieden lebte, schien ihm auch der Zustand andrer nur bedenklicher
und verworrner, er glaubte, das schöne Verhältnis zwischen Albert
und seiner Gattin gestört zu haben, er machte sich Vorwürfe darüber,
in die sich ein heimlicher Unwille gegen den Gatten mischte.
Seine Gedanken fielen
auch unterwegs auf diesen Gegenstand. "Ja, ja," sagte er zu sich
selbst, mit heimlichem Zähneknirschen, "das ist der vertraute,
freundliche, zärtliche, an allem teilnehmende Umgang, die ruhige,
dauernde Treue! Sattigkeit ist's und Gleichgültigkeit! Zieht ihn
nicht jedes elende Geschäft mehr an als die teure, köstliche Frau?
Weiß er sein Glück zu schätzen? Weiß er sie zu achten, wie sie es
verdient? Er hat sie, nun gut, er hat sie - ich weiß das, wie ich
was anders auch weiß, ich glaube an den Gedanken gewöhnt zu sein, er
wird mich noch rasend machen, er wird mich noch umbringen - und hat
denn die Freundschaft zu mir Stich gehalten? Sieht er nicht in
meiner Anhänglichkeit an Lotten schon einen Eingriff in seine
Rechte, in meiner Aufmerksamkeit für sie einen Stillen Vorwurf? Ich
weiß es wohl, ich fühl' es, er sieht mich ungern, er wünscht meine
Entfernung, meine Gegenwart ist ihm beschwerlich."
Oft hielt er seinen
raschen Schritt an, oft stand er stille und schien umkehren zu
wollen; allein er richtete seinen Gang immer wieder vorwärts und war
mit diesen Gedanken und Selbstgesprächen endlich gleichsam wider
Willen bei dem Jagdhause angekommen.
Er trat in die Tür,
fragte nach dem Alten und nach Lotten, er fand das Haus in einiger
Bewegung. Der älteste Knabe sagte ihm, es sei drüben in Wahlheim ein
Unglück geschehn, es sei ein Bauer erschlagen worden! - Es machte
das weiter keinen Eindruck auf ihn. - Er trat in die Stube und fand
Lotten beschäftigt, dem Alten zuzureden, der ungeachtet seiner
Krankheit hinüber wollte, um an Ort und Stelle die Tat zu
untersuchen. Der Täter war noch unbekannt, man hatte den
Erschlagenen des Morgens vor der Haustür gefunden, man hatte
Mutmaßungen: der Entleibte war Knecht einer Witwe, die vorher einen
andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem Hause gekommen
war.
Da Werther dieses hörte,
fuhr er mit Heftigkeit auf. - "Ist's möglich!" rief er aus, "ich
muss hinüber, ich kann nicht einen Augenblick ruhn." - Er eilte nach
Wahlheim zu, jede Erinnerung ward ihm lebendig, und er zweifelte
nicht einen Augenblick, dass jener Mensch die Tat begangen, den er
so manchmal gesprochen, der ihm so wert geworden war.
Da er durch die Linden
musste, um nach der Schenke zu kommen, wo sie den Körper hingelegt
hatten, entsetzt' er sich vor dem sonst so geliebten Platze. Jene
Schwelle, worauf die Nachbarskinder so oft gespielt hatten, war mit
Blut besudelt. Liebe und Treue, die schönsten menschlichen
Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt. Die starken
Bäume standen ohne Laub und bereift, die schönen Hecken, die sich
über die niedrige Kirchhofmauer wölbten, waren entblättert, und die
Grabsteine sahen mit Schnee bedeckt durch die Lücken hervor.
Als er sich der Schenke
näherte, vor welcher das ganze Dorf versammelt war, entstand auf
einmal ein Geschrei. Man erblickte von fern einen Trupp bewaffneter
Männer, und ein jeder rief, dass man den Täter herbeiführe. Werther
sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft. Ja, es war der Knecht,
der jene Witwe so sehr liebte, den er vor einiger Zeit mit dem
stillen Grimme, mit der heimlichen Verzweiflung umhergehend
angetroffen hatte.
"Was hast du begangen,
Unglücklicher!" rief Werther aus, indem er auf den Gefangenen
losging. - Dieser sah ihn still an, schwieg und versetzte endlich
ganz gelassen: "keiner wird sie haben, sie wird keinen haben." - Man
brachte den Gefangnen in die Schenke, und Werther eilte fort.
Durch die entsetzliche,
gewaltige Berührung war alles, was in seinem Wesen lag,
durcheinandergeschüttelt worden. Aus seiner Trauer, seinem Missmut,
seiner gleichgültigen Hingegebenheit wurde er auf einen Augenblick
herausgerissen; unüberwindlich bemächtigte sich die Teilnehmung
seiner, und es ergriff ihn eine unsägliche Begierde, den Menschen zu
retten. Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher
selbst so schuldlos, er setzte sich so tief in seine Lage, dass er
gewiss glaubte, auch andere davon zu überzeugen. Schon wünschte er
für ihn sprechen zu können, schon drängte sich der lebhafteste
Vortrag nach seinen Lippen, er eilte nach dem Jagdhause und konnte
sich unterwegs nicht enthalten, alles das, was er dem Amtmann
vorstellen wollte, schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat,
fand er Alberten gegenwärtig, dies verstimmte ihn einen Augenblick;
doch fasste er sich bald wieder und trug dem Amtmann feurig seine
Gesinnungen vor. Dieser schüttelte einige Mal den Kopf, und obgleich
Werther mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit
alles vorbrachte, was ein Mensch zur Entschuldigung eines Menschen
sagen kann, so war doch, wie sich's leicht denken lässt, der Amtmann
dadurch nicht gerührt. Er ließ vielmehr unsern Freund nicht
ausreden, widersprach ihm eifrig und tadelte ihn, dass er einen
Meuchelmörder in Schutz nehme; er zeigte ihm, dass auf diese Weise
jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des Staats zugrunde
gerichtet werde; auch setzte er hinzu, dass er in einer solchen
Sache nichts tun könne, ohne sich die größte Verantwortung
aufzuladen, es müsse alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen
Gang gehen.
Werther ergab sich noch
nicht, sondern bat nur, der Amtmann möchte durch die Finger sehn,
wenn man dem Menschen zur Flucht behülflich wäre! Auch damit wies
ihn der Amtmann ab. Albert, der sich endlich ins Gespräch mischte,
trat auch auf des Alten Seite. Werther wurde überstimmt, und mit
einem entsetzlichen Leiden machte er sich auf den Weg, nachdem ihm
der Amtmann einige Mal gesagt hatte: "nein, er ist nicht zu retten!"
Wie sehr ihm diese Worte
aufgefallen sein müssen, sehn wir aus einem Zettelchen, das sich
unter seinen Papieren fand und das gewiss an dem nämlichen Tage
geschrieben worden:
"Du bist nicht zu retten,
Unglücklicher! Ich sehe wohl, dass wir nicht zu retten sind."
Was Albert zuletzt über
die Sache des Gefangenen in Gegenwart des Amtmanns gesprochen, war
Werthern höchst zuwider gewesen: er glaubte einige Empfindlichkeit
gegen sich darin bemerkt zu haben, und wenn gleich bei mehrerem
Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging, dass beide Männer recht
haben möchten, so war es ihm doch, als ob er seinem innersten Dasein
entsagen müsste, wenn er es gestehen, wenn er es zugeben sollte.
Ein Blättchen, das sich
darauf bezieht, das vielleicht sein ganzes Verhältnis zu Albert
ausdrückt, finden wir unter seinen Papieren: "Was hilft es, dass ich
mir's sage und wieder sage, er ist brav und gut, aber es zerreißt
mir mein inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht sein."
Weil es ein gelinder
Abend war und das Wetter anfing, sich zum Tauen zu neigen, ging
Lotte mit Alberten zu Fuße zurück. Unterwegs sah sie sich hier und
da um, eben als wenn sie Werthers Begleitung vermisste. Albert fing
von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm Gerechtigkeit
widerfahren ließ. Er berührte seine unglückliche Leidenschaft und
wünschte, dass es möglich sein möchte, ihn zu entfernen. - "Ich
wünsch' es auch um unsertwillen," sagt' er, "und ich bitte dich,"
fuhr er fort, "siehe zu, seinem Betragen gegen dich eine andere
Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern. Die Leute
werden aufmerksam, und ich weiß, dass man hier und da drüber
gesprochen hat." - Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen
empfunden zu haben, wenigstens seit der Zeit erwähnte er Werthers
nicht mehr gegen sie, und wenn sie seiner erwähnte, ließ er das
Gespräch fallen oder lenkte es woanders hin.
Der vergebliche Versuch,
den Werther zur Rettung des Unglücklichen gemacht hatte, war das
letzte Auflodern der Flamme eines verlöschenden Lichtes; er versank
nur desto tiefer in Schmerz und Untätigkeit; besonders kam er fast
außer sich, als er hörte, dass man ihn vielleicht gar zum Zeugen
gegen den Menschen, der sich nun aufs Leugnen legte, auffordern
könnte.
Alles was ihm
Unangenehmes jeweils in seinem wirksamen Leben begegnet war, der
Verdruss bei der Gesandtschaft, alles was ihm sonst misslungen war,
was ihn je gekränkt hatte, ging in seiner Seele auf und nieder. Er
fand sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit berechtigt, er fand
sich abgeschnitten von aller Aussicht, unfähig, irgendeine Handhabe
zu ergreifen, mit denen man die Geschäfte des gemeinen Lebens
anfasst; und so rückte er endlich, ganz seiner wunderbaren
Empfindung, Denkart und einer endlosen Leidenschaft hingegeben, in
dem ewigen Einerlei eines traurigen Umgangs mit dem liebenswürdigen
und geliebten Geschöpfe, dessen Ruhe er störte, in seine Kräfte
stürmend, sie ohne Zweck und Aussicht abarbeitend, immer einem
traurigen Ende näher.
Von seiner Verworrenheit,
Leidenschaft, von seinem rastlosen Treiben und Streben, von seiner
Lebensmüde sind einige hinterlassne Briefe die stärksten Zeugnisse,
die wir hier einrücken wollen.
Am 12. Dezember
Lieber Wilhelm, ich bin
in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen,
von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste
umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's; es ist nicht Angst, nicht
Begier - es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu
zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst! Wehe! Wehe! Und dann
schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser
menschenfeindlichen Jahrszeit.
Gestern abend musste ich
hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte gehört,
der Fluss sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim
herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach eilfe rannte ich
hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die
wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und
Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine
stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder
hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus
die Flut in fürchterlich herrlichem Widerschein rollte und klang: da
überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen
Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab! Hinab! Und
verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da
hinabzustürmen! Dahinzubrausen wie die Wellen! O! - Und den Fuß vom
Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden!
- Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen, ich fühle es! O Wilhelm! Wie
gern hätte ich mein Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde
sie Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht
vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zuteil?
- Und wie ich wehmütig
hinabsah auf ein Plätzchen, wo ich mit Lotten unter einer Weide
geruht, auf einem heißen Spaziergange, - das war auch überschwemmt,
und kaum dass ich die Weide erkannte! Wilhelm! Und ihre Wiesen,
dachte ich, die Gegend um ihr Jagdhaus! Wie verstört jetzt vom
reißenden Strome unsere Laube! Dacht' ich. Und der Vergangenheit
Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen ein Traum von
Herden, Wiesen und Ehrenämtern. Ich stand! - Ich schelte mich nicht,
denn ich habe Mut zu sterben. - Ich hätte - nun sitze ich hier wie
ein altes Weib, das ihr Holz von Zäunen stoppelt und ihr Brot an den
Türen, um ihr hinsterbendes, freudeloses Dasein noch einen
Augenblick zu verlängern und zu erleichtern.
Am 14. Dezember
Was ist das, mein Lieber?
Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die
heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen
strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt? - Ich will nicht beteuern
- und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so
widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben! Diese Nacht!
Ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an
meinen Busen gedrückt, und deckte ihren Lebe lispelnden Mund mit
unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des
ihrigen! Gott! Bin ich strafbar, dass ich auch jetzt noch eine
Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit
zurückzurufen? Lotte! Lotte! - Und mit mir ist es aus! Meine Sinne
verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr,
meine Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall
wohl. Ich wünsche nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich
ginge.
Der Entschluss, die
Welt zu verlassen, hatte in dieser Zeit, unter solchen Umständen in
Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit der Rückkehr zu
Lotten war es immer seine letzte Aussicht und Hoffnung gewesen; doch
hatte er sich gesagt, es solle keine übereilte, keine rasche Tat
sein, er wolle mit der besten Überzeugung, mit der möglichst ruhigen
Entschlossenheit diesen Schritt tun.
Seine Zweifel, sein
Streit mit sich selbst blicken aus einem Zettelchen hervor, das
wahrscheinlich ein angefangener Brief an Wilhelm ist und ohne Datum
unter seinen Papieren gefunden worden:
Ihre Gegenwart, ihr
Schicksal, ihre Teilnehmung an dem meinigen presst noch die letzten
Tränen aus meinem versengten Gehirne. Den Vorhang aufzuheben und
dahinter zu treten! Das ist alles! Und warum das Zaudern und Zagen?
Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht? Und man nicht
wiederkehrt? Und dass das nun die Eigenschaft unseres Geistes ist,
da Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts Bestimmtes
wissen.
Endlich ward er mit dem
traurigen Gedanken immer mehr verwandt und befremdet und sein
Vorsatz fest und unwiderruflich, wovon folgender zweideutige Brief,
den er an seinen Freund schrieb, ein Zeugnis abgibt.
Am 20. Dezember
Ich danke deiner Liebe, Wilhelm, dass du das Wort so aufgefangen
hast. Ja, du hast recht: mir wäre besser, ich ginge. Der Vorschlag,
den du zu einer Rückkehr zu euch tust, gefällt mir nicht ganz;
wenigstens möchte ich noch gern einen Umweg machen, besonders da wir
anhaltenden Frost und gute Wege zu hoffen haben. Auch ist mir es
sehr lieb, dass du kommen willst, mich abzuholen; verziehe nur noch
vierzehn Tage, und erwarte noch einen Brief von mir mit dem
Weiteren. Es ist nötig, dass nichts gepflückt werde, ehe es reif
ist. Und vierzehn Tage auf oder ab tun viel. Meiner Mutter sollst du
sagen: dass sie für ihren Sohn beten soll, und dass ich sie um
Vergebung bitte wegen alles Verdrusses, den ich ihr gemacht habe.
Das war nun mein Schicksal, die zu betrüben, denen ich Freude
schuldig war. Leb' wohl, mein Teuerster! Allen Segen des Himmels
über dich! Leb' wohl!"
Was in dieser Zeit in
Lottens Seele vorging, wie ihre Gesinnungen gegen ihren Mann, gegen
ihren unglücklichen Freund gewesen, getrauen wir uns kaum mit Worten
auszudrücken, ob wir uns gleich davon, nach der Kenntnis ihres
Charakters, wohl einen stillen Begriff machen können, und eine
schöne weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr
empfinden kann.
So viel ist gewiss, sie
war fest bei sich entschlossen, alles zu tun, um Werthern zu
entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine herzliche,
freundschaftliche Schonung, weil sie wusste, wie viel es ihm kosten,
ja dass es ihm beinahe unmöglich sein würde. Doch ward sie in dieser
Zeit mehr gedrängt, Ernst zu machen; es schwieg ihr Mann ganz über
dies Verhältnis, wie sie auch immer darüber geschwiegen hatte, und
um so mehr war ihr angelegen, ihm durch die Tat zu beweisen, wie
ihre Gesinnungen der seinigen wert seien.
An demselben Tage, als
Werther den zuletzt eingeschalteten Brief an seinen Freund
geschrieben, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er abends zu
Lotten und fand sie allein. Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke
in Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern zum
Christgeschenke zurecht gemacht hatte. Er redete von dem Vergnügen,
das die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen die
unerwartete Öffnung der Tür und die Erscheinung eines aufgeputzten
Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und Äpfeln in paradiesische
Entzückung setzte. - "Sie sollen," sagte Lotte, indem sie ihre
Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, "Sie sollen auch
beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind; ein Wachsstöckchen
und noch was." - "Und was heißen Sie geschickt sein?" rief er aus;
"wie soll ich sein? Wie kann ich sein? Beste Lotte!" - "Donnerstag
abend," sagte sie, "ist Weihnachtsabend, da kommen die Kinder, mein
Vater auch, da kriegt jedes das Seinige, da kommen Sie auch - aber
nicht eher." - Werther stutzte. - "Ich bitte Sie," fuhr sie fort,
"es ist nun einmal so, ich bitte um meiner Ruhe willen, es kann
nicht, es kann nicht so bleiben." - Er wendete seine Augen von ihr
und ging in der Stube auf und ab und murmelte das "es kann nicht so
bleiben!" zwischen den Zähnen. - Lotte, die den schrecklichen
Zustand fühlte, worein ihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch
allerlei Fragen seine Gedanken abzulenken, aber vergebens. - "Nein,
Lotte," rief er aus, "ich werde Sie nicht wiedersehen!" - "Warum
das?" versetzte sie, "Werther, Sie können, Sie müssen uns
wiedersehen, nur mäßigen Sie sich. O warum mussten Sie mit dieser
Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles,
was Sie einmal anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie," fuhr sie
fort, indem sie ihn bei der Hand nahm, "mäßigen Sie sich! Ihr Geist,
Ihre Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für
mannigfaltige Ergetzungen dar! Sein Sie ein Mann, wenden Sie diese
traurige Anhänglichkeit von einem Geschöpf, das nichts tun kann als
Sie bedauern." - Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an. -
Sie hielt seine Hand. "Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther!"
sagte sie. Fühlen Sie nicht, dass Sie sich betriegen, sich mit
Willen zugrunde richten! Warum denn mich, Werther? Just mich, das
Eigentum eines andern? Just das? Ich fürchte, ich fürchte, es ist
nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so
reizend macht." - Er zog seine Hand aus der ihrigen, indem er sie
mit einem starren, unwilligen Blick ansah. "Weise!" rief er, "sehr
weise! Hat vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht? Politisch!
Sehr politisch!" - "Es kann sie jeder machen," versetzte sie
drauf, "und sollte denn in der weiten Welt kein Mädchen sein, das
die Wünsche Ihres Herzens erfüllte? Gewinnen Sie's über sich, suchen
Sie darnach, und ich schwöre Ihnen, Sie werden sie finden; denn
schon lange ängstigt mich, für Sie und uns, die Einschränkung, in
die Sie sich diese Zeit her selbst gebannt haben. Gewinnen Sie über
sich, eine Reise wird Sie, muss Sie zerstreuen! Suchen Sie, finden
Sie einen werten Gegenstand Ihrer Liebe, und kehren Sie zurück, und
lassen Sie uns zusammen die Seligkeit einer wahren Freundschaft
genießen." "Das könnte man," sagte er mit einem kalten Lachen,
"drucken lassen und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! Lassen
Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden!" - "Nur das,
Werther, dass Sie nicht eher kommen als Weihnachtsabend!" - Er
wollte antworten, und Albert trat in die Stube. Man bot sich einen
frostigen Guten Abend und ging verlegen im Zimmer neben einander auf
und nieder. Werther fing einen unbedeutenden Diskurs an, der bald
aus war, Albert desgleichen, der sodann seine Frau nach gewissen
Aufträgen fragte und, als er hörte, sie seien noch nicht
ausgerichtet, ihr einige Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart
vorkamen. Er wollte gehen, er konnte nicht und zauderte bis acht, da
sich denn sein Unmut und Unwillen immer vermehrte, bis der Tisch
gedeckt wurde, und er Hut und Stock nahm. Albert lud ihn zu bleiben,
er aber, der nur ein unbedeutendes Kompliment zu hören glaubte,
dankte kalt dagegen und ging weg.
Er kam nach Hause, nahm
seinem Burschen, der ihm leuchten wollte, das Licht aus der Hand und
ging allein in sein Zimmer, weinte laut, redete aufgebracht mit sich
selbst, ging heftig die Stube auf und ab und warf sich endlich in
seinen Kleidern aufs Bette, wo ihn der Bediente fand, der es gegen
eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob er dem Herrn die Stiefeln
ausziehen sollte, das er denn zuließ und dem Bedienten verbot, den
andern Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen würde.
Montags früh, den
einundzwanzigsten Dezember, schrieb er folgenden Brief an Lotten,
den man nach seinem Tode versiegelt auf seinem Schreibtische
gefunden und ihr überbracht hat, und den ich absatzweise hier
einrücken will, so wie aus den Umständen erhellet, dass er ihn
geschrieben habe.
"Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe
ich dir ohne romantische Überspannung, gelassen, an dem Morgen des
Tages, an dem ich dich zum letzten Male sehen werde. Wenn du dieses
liesest, meine Beste, deckt schon das kühle Grab die erstarrten
Reste des Unruhigen, Unglücklichen, der für die letzten Augenblicke
seines Lebens keine größere Süßigkeit weiß, als sich mit dir zu
unterhalten. Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt und, ach, eine
wohltätige Nacht. Sie ist es, die meinen Entschluss befestiget,
bestimmt hat: ich will sterben! Wie ich mich gestern von dir riss,
in der fürchterlichen Empörung meiner Sinne, wie sich alles das nach
meinem Herzen drängte und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein
neben dir in grässlicher Kälte mich anpackte - ich erreichte kaum
mein Zimmer, ich warf mich außer mir auf meine Knie, und o Gott! Du
gewährtest mir das letzte Labsal der bittersten Tränen! Tausend
Anschläge, tausend Aussichten wüteten durch meine Seele, und zuletzt
stand er da, fest, ganz, der letzte, einzige Gedanke: ich will
sterben! - ich legte mich nieder, und morgens, in der Ruhe des
Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in meinem Herzen: ich
will sterben! - es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, dass
ich ausgetragen habe, und dass ich mich opfere für dich. Ja, Lotte!
Warum sollte ich es verschweigen? Eins von uns dreien muss hinweg,
und das will ich sein! O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen
ist es wütend herumgeschlichen, oft - deinen Mann zu ermorden! -
dich! - mich! - so sei es denn! - wenn du hinaufsteigst auf
den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner,
wie ich so oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe
hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der
sinkenden Sonne hin und her wiegt. - Ich war ruhig, da ich anfing,
nun, nun weine ich wie ein Kind, da alles das so lebhaft um mich
wird. - "
Gegen zehn Uhr rief
Werther seinem Bedienten, und unter dem Anziehen sagte er ihm, wie
er in einigen Tagen verreisen würde, er solle daher die Kleider
auskehren und alles zum Einpacken zurecht machen; auch gab er ihm
Befehl, überall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene Bücher
abzuholen und einigen Armen, denen er wöchentlich etwas zu geben
gewohnt war, ihr Zugeteiltes auf zwei Monate voraus zu bezahlen.
Er ließ sich das Essen
auf die Stube bringen, und nach Tische ritt er hinaus zum Amtmanne,
den er nicht zu Hause antraf. Er ging tiefsinnig im Garten auf und
ab und schien noch zuletzt alle Schwermut der Erinnerung auf sich
häufen zu wollen.
Die Kleinen ließen ihn
nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an ihm hinauf,
erzählen ihm, dass, wenn morgen, und wieder morgen, und noch ein Tag
wäre, sie die Christgeschenke bei Lotten holten, und erzählten ihm
Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft versprach. - "morgen!"
rief er aus, "und wieder morgen! Und noch ein Tag!" - und küsste sie
alle herzlich und wollte sie verlassen, als ihm der Kleine noch
etwas in das Ohr sagen wollte. Der verriet ihm, die großen Brüder
hätten schöne Neujahrswünsche geschrieben, so groß! Und einen für
den Papa, für Albert und Lotten einen und auch einen für Herrn
Werther; die wollten sie am Neujahrstage früh überreichen. Das
übermannte ihn, er schenkte jedem etwas, setzte sich zu Pferde, ließ
den Alten grüßen und ritt mit Tränen in den Augen davon.
Gegen fünf kam er nach
Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu sehen und es bis in die
Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hieß er Bücher und Wäsche unten
in den Koffer packen und die Kleider einnähen. Darauf schrieb er
wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten Briefes an Lotten.
"Du erwartest mich
nicht! Du glaubst, ich würde gehorchen und erst Weihnachtsabend dich
wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr. Weihnachtsabend hältst du
dieses Papier in deiner Hand, zitterst und benetzest es mit deinen
lieben Tränen. Ich will, ich muss! O wie wohl ist es mir, dass ich
entschlossen bin."
Lotte war indes in
einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der letzten Unterredung mit
Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen werde, sich
von ihm zu trennen, was er leiden würde, wenn er sich von ihr
entfernen sollte.
Es war wie im Vorübergehn
in Alberts Gegenwart gesagt worden, dass Werther vor Weihnachtsabend
nicht wieder kommen werde, und Albert war zu einem Beamten in der
Nachbarschaft geritten, mit dem er Geschäfte abzutun hatte, und wo
er über Nacht ausbleiben musste.
Sie saß nun allein, keins
von ihren Geschwistern war um sie, sie überließ sich ihren Gedanken,
die stille über ihren Verhältnissen herumschweiften. Sie sah sich
nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue sie
kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen Ruhe, dessen
Zuverlässigkeit recht vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, dass
eine wackere Frau das Glück ihres Lebens darauf gründen sollte; sie
fühlte, was er ihr und ihren Kindern auf immer sein würde. Auf der
andern Seite war ihr Werther so teuer geworden, gleich von dem
ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die
Übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der lange dauernde
Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen
unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Alles, was sie
Interessantes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen,
und seine Entfernung drohte in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu
reißen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie ihn
in dem Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glücklich wäre
sie gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer Freundinnen verheiraten
dürfen, hätte sie hoffen können, auch sein Verhältnis gegen Albert
ganz wieder herzustellen!
Sie hatte ihre
Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei einer jeglichen
etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt hätte.
Über allen diesen
Betrachtungen fühlte sie erst tief, ohne sich es deutlich zu machen,
dass ihr herzliches, heimliches Verlangen sei, ihn für sich zu
behalten, und sagte sich daneben, dass sie ihn nicht behalten könne,
behalten dürfe; ihr reines, schönes, sonst so leichtes und leicht
sich helfendes Gemüt empfand den Druck einer Schwermut, dem die
Aussicht zum Glück verschlossen ist. Ihr Herz war gepresst, und eine
trübe Wolke lag über ihrem Auge.
So war es halb sieben
geworden, als sie Werthern die Treppe heraufkommen hörte und seinen
Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte, bald erkannte. Wie schlug
ihr Herz, und wir dürfen fast sagen zum ersten Mal, bei seiner
Ankunft. Sie hätte sich gern vor ihm verleugnen lassen, und als er
hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von leidenschaftlicher
Verwirrung entgegen: "Sie haben nicht Wort gehalten." - "Ich habe
nichts versprochen" war seine Antwort. - "So hätten Sie wenigstens
meiner Bitte stattgeben sollen," versetzte sie, "ich bat Sie um
unser beider Ruhe."
Sie wusste nicht recht,
was sie sagte, ebenso wenig was sie tat, als sie nach einigen
Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein zu sein. Er legte
einige Bücher hin, die er gebracht hatte, fragte nach andern, und
sie wünschte, bald dass ihre Freundinnen kommen, bald dass sie
wegbleiben möchten. Das Mädchen kam zurück und brachte die
Nachricht, dass sich beide entschuldigen ließen.
Sie wollte das Mädchen
mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen lassen; dann besann sie
sich wieder anders. Werther ging in der Stube auf und ab, sie trat
ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte nicht fließen. Sie
nahm sich zusammen und setzte sich gelassen zu Werthern, der seinen
gewöhnlichen Platz auf dem Kanapee eingenommen hatte.
"Haben Sie nichts zu
lesen?" sagte sie. - Er hatte nichts. - "Da drin in meiner
Schublade," fing sie an, "liegt Ihre Übersetzung einiger Gesänge
Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie
von Ihnen zu hören; aber zeither hat sich's nicht finden, nicht
machen wollen." - Er lächelte, holte die Lieder, ein Schauer
überfiel ihn, als er sie in die Hände nahm, und die Augen standen
ihm voll Tränen, als er hineinsah. Er setzte sich nieder und las.
»Stern der dämmernden
Nacht, schön funkelst du in Westen, habst dein strahlend Haupt aus
deiner Wolke, wandelst stattlich deinen Hügel hin. Wornach blickst
du auf die Heide? Die stürmenden Winde haben sich gelegt; von ferne
kommt des Gießbachs Murmeln; rauschende Wellen spielen am Felsen
ferne; das Gesumme der Abendfliegen schwärmet übers Feld. Wornach
siehst du, schönes Licht? Aber du lächelst und gehst, freudig
umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl,
ruhiger Strahl. Erscheine, du herrliches Licht von Ossians Seele!
Und es erscheint in
seiner Kraft. Ich sehe meine geschiedenen Freunde, sie sammeln sich
auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber sind. - Fingal kommt wie
eine feuchte Nebelsäule; um ihn sind seine Helden, und, siehe! Die
Barden des Gesanges: grauer Ullin! Stattlicher Ryno! Alpin,
lieblicher Sänger! Und du, sanft klagende Minona! - Wie verändert
seid ihr, meine Freunde, seit den festlichen Tagen auf Selma, da wir
buhlten um die Ehre des Gesanges, wie Frühlingslüfte den Hügel hin
wechselnd beugen das schwach lispelnde Gras.
Da trat Minona hervor in
ihrer Schönheit, mit niedergeschlagenem Blick und tränenvollem Auge,
schwer floss ihr Haar im unsteten Winde, der von dem Hügel herstieß.
- Düster ward's in der Seele der Helden, als sie die liebliche
Stimme erhob; denn oft hatten sie das Grab Salgars gesehen, oft die
finstere Wohnung der weißen Colma. Colma, verlassen auf dem Hügel,
mit der harmonischen Stimme; Salgar versprach zu kommen; aber
ringsum zog sich die Nacht. Höret Colmas Stimme, da sie auf dem
Hügel allein saß.
Colma.
Es ist Nacht! - Ich bin allein, verloren
auf dem stürmischen Hügel. Der Wind saust im Gebirge. Der Strom
heult den Felsen hinab. Keine Hütte schützt mich vor Regen, mich
Verlassne auf dem stürmischen Hügel. Tritt, o Mond, aus deinen
Wolken, erscheinet, Sterne der Nacht! Leite mich irgend ein Strahl
zu dem Orte, wo meine Liebe ruht von den Beschwerden der Jagd, sein
Bogen neben ihm abgespannt, seine Hunde schnobend um ihn! Aber hier
muss ich sitzen allein auf dem Felsen des verwachsenen Stroms. Der
Strom und der Sturm saust, ich höre nicht die Stimme meines
Geliebten.
Warum zaudert mein
Salgar? Hat er sein Wort vergessen? - Da ist der Fels und der Baum
und hier der rauschende Strom! Mit einbrechender Nacht versprachst
du hier zu sein; ach! Wohin hat sich mein Salgar verirrt? Mit dir
wollt' ich fliehen, verlassen Vater und Bruder, die stolzen! Lange
sind unsere Geschlechter Feinde, aber wir sind keine Feinde, o
Salgar!
Schweig eine Weile, o
Wind! Still eine kleine Weile, o Strom, dass meine Stimme klinge
durchs Tal, dass mein Wanderer mich höre. Salgar! Ich bin's, die
ruft! Hier ist der Baum und der Fels! Salgar! Mein Lieber! Hier bin
ich; warum zauderst du zu kommen?
Sieh, der Mond erscheint,
die Flut glänzt im Tale, die Felsen stehen grau den Hügel hinauf;
aber ich seh' ihn nicht auf der Höhe, seine Hunde vor ihm her
verkündigen nicht seine Ankunft. Hier muss ich sitzen allein.
Aber wer sind, die dort
unten liegen auf der Heide? - Mein Geliebter? Mein Bruder? - Redet,
o meine Freunde! Sie antworten nicht. Wie geängstigt ist meine
Seele! - Ach sie sind tot! Ihre Schwester rot vom Gefechte! O mein
Bruder, mein Bruder, warum hast du meinen Salgar erschlagen? O mein
Salgar, warum hast du meinen Bruder erschlagen? Ihr wart mir beide
so lieb! O du warst schön an dem Hügel unter Tausenden! Es war
schrecklich in der Schlacht. Antwortet mir! Hört meine Stimme, meine
Geliebten! Aber ach, sie sind stumm, stumm auf ewig! Kalt wie die
Erde ist ihr Busen!
O von dem Felsen des
Hügels, von dem Gipfel des stürmenden Berges, redet, Geister der
Toten! Redet! Mir soll es nicht grausen! - Wohin seid ihr zur Ruhe
gegangen? In welcher Gruft des Gebirges soll ich euch finden? -
Keine schwache Stimme vernehme ich im Winde, keine wehende Antwort
im Sturme des Hügels. Ich sitze in meinem Jammer, ich harre auf den
Morgen in meinen Tränen. Wühlet das Grab, ihr Freunde der Toten,
aber schließt es nicht, bis ich komme. Mein Leben schwindet wie ein
Traum; wie sollt' ich zurückbleiben! Hier will ich {...} Felsens -
wenn's Nacht wird auf dem Hügel, und Wind kommt über die Heide, soll
mein Geist im Winde stehn und trauern den Tod meiner Freunde. Der
Jäger hört mich aus seiner Laube, fürchtet meine Stimme und liebt
sie; denn süß soll meine Stimme sein um meine Freunde, sie waren mir
beide so lieb!
Das war dein Gesang, o
Minona, Tormans sanft errötende Tochter. Unsere Tränen flossen um
Colma, und unsere Seele ward düster.
78 Ullin trat auf mit der
Harfe und gab uns Alpins Gesang - Alpins Stimme war freundlich,
Rynos Seele ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten sie im engen Hause,
und ihre Stimme war verhallet in Selma. Einst kehrte Ullin zurück
von der Jagd, ehe die Helden noch fielen. Er hörte ihren Wettegesang
auf dem Hügel. Ihr Lied war sanft, aber traurig. Sie klagten Morars
Fall, des ersten der Helden. Seine Seele war wie Fingals Seele, sein
Schwert wie das Schwert Oskars - aber er fiel, und sein Vater
jammerte, und seiner Schwester Augen waren voll Tränen, Minonas
Augen waren voll Tränen, der Schwester des herrlichen Morars. Sie
trat zurück vor Ullins Gesang, wie der Mond in Westen, der den
Sturmregen voraussieht und sein schönes Haupt in eine Wolke
verbirgt. - Ich schlug die Harfe mit Ullin zum Gesange des Jammers.
Ryno.
Vorbei sind Wind und Regen, der Mittag ist so heiter, die Wolken
teilen sich. Fliehend bescheint den Hügel die unbeständige Sonne.
Rötlich fließt der Strom des Bergs im Tale hin. Süß ist dein
Murmeln, Strom; doch süßer die Stimme, die ich höre. Es ist Alpins
Stimme, er bejammert den Toten. Sein Haupt ist vor Alter gebeugt und
rot sein tränendes Auge. Alpin, trefflicher Sänger, warum allein auf
dem schweigenden Hügel? Warum jammerst du wie ein Windstoß im Walde,
wie eine Welle am fernen Gestade?
Alpin.
Meine Tränen, Ryno, sind
für den Toten, meine Stimme für die Bewohner des Grabs. Schlank bist
du auf dem Hügel, schön unter den Söhnen der Heide. Aber du wirst
fallen wie Morar, und auf deinem Grabe wird der Trauernde sitzen.
Die Hügel werden dich vergessen, dein Bogen in der Halle liegen
ungespannt.
Du warst schnell, o
Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, schrecklich wie die Nachtfeuer am
Himmel. Dein Grimm war ein Sturm, dein Schwert in der Schlacht wie
Wetterleuchten über der Heide. Deine Stimme glich dem Waldstrome
nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln. Manche fielen von
deinem Arm, die Flamme deines Grimmes verzehrte sie. Aber wenn du
wiederkehrtest vom Kriege, wie friedlich war deine Stirne! Dein
Angesicht war gleich der Sonne nach dem Gewitter, gleich dem Monde
in der schweigenden Nacht, ruhig deine Brust wie der See, wenn sich
des Windes Brausen gelegt hat.
Eng ist nun deine
Wohnung, finster deine Stätte! Mit drei Schritten mess' ich dein
Grab, o du, der du ehe so groß warst! Vier Steine mit moosigen
Häupten sind dein einziges Gedächtnis; ein entblätterter Baum,
langes Gras, das im Winde wispelt, deutet dem Auge des Jägers das
Grab des mächtigen Morars. Keine Mutter hast du, dich zu beweinen,
kein Mädchen mit Tränen der Liebe. Tot ist, die dich gebar, gefallen
die Tochter von Morglan.
Wer auf seinem Stabe ist
das? Wer ist es, dessen Haupt weiß ist vor Alter, dessen Augen rot
sind von Tränen? Es ist dein Vater, o Morar, der Vater keines Sohnes
außer dir. Er hörte von deinem Ruf in der Schlacht, er hörte von
zerstobenen Feinden; er hörte Morars Ruhm! Ach! Nichts von seiner
Wunde? Weine, Vater Morars, weine! Aber dein Sohn hört dich nicht.
Tief ist der Schlaf der Toten, niedrig ihr Kissen von Staube. Nimmer
achtet er auf die Stimme, nie erwacht er auf deinen Ruf. O wann wird
es Morgen im Grabe, zu bieten dem Schlummerer: Erwache!
Lebe wohl, edelster der
Menschen, du Eroberer im Felde! Aber nimmer wird dich das Feld
sehen, nimmer der düstere Wald leuchten vom Glanze deines Stahls. Du
hinterließest keinen Sohn, aber der Gesang soll deinen Namen
erhalten, künftige Zeiten sollen von dir hören, hören von dem
gefallenen Morar.
Laut war die Trauer der
Helden, am lautesten Armins berstender Seufzer. Ihn erinnerte es an
den Tod seines Sohnes, er fiel in den Tagen der Jugend. Carmor saß
nah bei dem Helden, der Fürst des hallenden Galmal. "Warum
schluchzet der Seufzer Armins?" sprach er, "was ist hier zu weinen?
Klingt nicht ein Lied und ein Gesang, die Seele zu schmelzen und zu
ergetzen? Sie sind wie sanfter Nebel, der steigend vom See aufs Tal
sprüht, und die blühenden Blumen füllet das Nass; aber die Sonne
kommt wieder in ihrer Kraft, und der Nebel ist gegangen. Warum bist
du so jammervoll, Armin, Herrscher des seeumflossenen Gorma?"
"Jammervoll! Wohl das bin
ich, und nicht gering die Ursache meines Wehs. - Carmor, du verlorst
keinen Sohn, verlorst keine blühende Tochter; Colgar, der Tapfere,
lebt, und Annira, die schönste der Mädchen. Die Zweige deines Hauses
blühen, o Carmor; aber Armin ist der Letzte seines Stammes. Finster
ist dein Bett, o Daura! Dumpf ist dein Schlaf in dem Grabe - wann
erwachst du mit deinen Gesängen, mit deiner melodischen Stimme? Auf,
ihr Winde des Herbstes! Auf, stürmt über die finstere Heide!
Waldströme, braust! Heult, Ströme, im Gipfel der Eichen! Wandle
durch gebrochene Wolken, o Mond, zeige wechselnd dein bleiches
Gesicht! Erinnre mich der schrecklichen Nacht, da meine Kinder
umkamen, da Arindal, der Mächtige, fiel, Daura, die Liebe, verging.
"Daura, meine Tochter, du
warst schön, schön wie der Mond auf den Hügeln von Fura, weiß wie
der gefallene Schnee, süß wie die atmende Luft! Arindal, dein Bogen
war stark, dein Speer schnell auf dem Felde, dein Blick wie Nebel
auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme!
"Armar, berühmt im
Kriege, kam und warb um Dauras Liebe; sie widerstand nicht lange.
Schön waren die Hoffnungen ihrer Freunde."
Erath, der Sohn Odgals,
grollte, denn sein Bruder lag erschlagen von Armar. Er kam, in einen
Schiffer verkleidet. Schön war sein Nachen auf der Welle, weiß seine
Locken vor Alter, ruhig sein ernstes Gesicht. "Schönste Mädchen,"
sagte er, "liebliche Tochter von Armin, dort am Felsen, nicht fern
in der See, wo die rote Frucht vom Baume herblinkt, dort wartet
Armar auf Daura: ich komme, seine Liebe zu führen über die rollende
See.
Sie folgt' ihm und rief
nach Armar; nichts antwortete als die Stimme des Felsens. "Armar!
Mein Lieber! Mein Lieber! Warum ängstest du mich so? Höre, Sohn
Arnarths! Höre! Daura ist's, die dich ruft!
Erath, der Verräter, floh
lachend zum Lande. Sie erhob ihre Stimme, rief nach ihrem Vater und
Bruder: "Arindal! Armin! Ist keiner, seine Daura zu retten?"
Ihre Stimme kam über die
See. Arindal, mein Sohn, stieg vom Hügel herab, rau in der Beute der
Jagd, seine Pfeile rasselten an seiner Seite, seinen Bogen trug er
in der Hand, fünf schwarzgraue Doggen waren um ihn. Er sah den
kühnen Erath am Ufer, fasst' und band ihn an die Eiche, fest
umflocht er seine Hüften, der Gefesselte füllte mit Ächzen die
Winde.
Arindal betritt die
Wellen in seinem Boote, Daura herüber zu bringen. Armar kam in
seinem Grimme, drückt' ab den grau befiederten Pfeil, er klang, er
sank in dein Herz, "o Arindal, mein Sohn! Statt Eraths, des
Verräters, kamst du um, das Boot erreichte den Felsen, er sank dran
nieder und starb. Zu deinen Füßen floss deines Bruders Blut, welch
war dein Jammer, o Daura! Die Wellen zerschmettern das Boot. Armar
stürzt sch in die See, seine Daura zu retten oder zu sterben.
Schnell stürmte ein Stoß vom Hügel in die Wellen, er sank und hob
sich nicht wieder.
Allein auf den
seebespülten Felsen hört' ich die Klagen meiner Tochter. Viel und
laut war ihr Schreien, doch konnt' sie ihr Vater nicht retten. Die
ganze Nacht stand ich am Ufer, ich sah sie im schwachen Strahle des
Mondes, die ganze Nacht hört' ich ihr Schreien, laut war der Wind,
und der Regen schlug scharf nach der Seite des Berges. Ihre Stimme
ward schwach, ehe der Morgen erschien, sie starb weg wie die
Abendluft zwischen dem Grase der Felsen. Beladen mit Jammer starb
sie und ließ Armin allein! Dahin ist meine Stärke im Kriege,
gefallen mein Stolz unter den Mädchen.
Wenn die Stürme des
Berges kommen, wenn der Nord die Wellen hochhebt, sitz' ich am
schallenden Ufer, schaue nach dem schrecklichen Felsen. Oft im
sinkenden Monde seh' ich die Geister meiner Kinder, halb dämmernd
wandeln sie zusammen in traurigen Eintracht.«
Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem
gepressten Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang. Er warf das
Papier hin, fasste ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. Lotte
ruhte auf der andern und verbarg ihre Augen ins Schnupftuch. Die
Bewegung beider war fürchterlich. Sie fühlten ihr eigenes Elend in
dem Schicksale der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen
vereinigten sich. Die Lippen und Augen Werthers glühten an Lottens
Arme; ein Schauer überfiel sie; sie wollte sich entfernen, und
Schmerz und Anteil lagen betäubend wie Blei auf ihr. Sie atmete,
sich zu erholen, und bat ihn schluchzend fortzufahren, bat mit der
ganzen Stimme des Himmels! Werther zitterte, sein Herz wollte
bersten, er hob das Blatt auf und las halb gebrochen:
»Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du
buhlst und sprichst: ich betaue mit Tropfen des Himmels! Aber die
Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter
herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in
meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und
wird mich nicht finden. - «
Die ganze Gewalt dieser
Worte fiel über den Unglücklichen. Er warf sich vor Lotten nieder in
der vollen Verzweifelung, fasste ihre Hände, drückte sie in seine
Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine Ahnung seines
schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre Sinne
verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre
Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre
glühenden Wangen berührten sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang
seine Arme um sie her, presste sie an seine Brust und deckte ihre
zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen. - "Werther!"
rief sie mit erstickter Stimme, sich abwendend, "Werther!" und
drückte mit schwacher Hand seine Brust von der ihrigen; "Werther!"
rief sie mit dem gefassten Tone des edelsten Gefühles. - Er
widerstand nicht, ließ sie sich aus seinen Armen und warf sich
unsinnig vor sie hin. - Sie riss sich auf, und in ängstlicher
Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn, sagte sie: "Das ist das
letzte Mal! Werther! Sie sehn mich nicht wieder." Und mit dem
vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie ins Nebenzimmer
und schloss hinter sich zu. - Werther streckte ihr die Arme nach,
getraute sich nicht, sie zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf
dem Kanapee, und in dieser Stellung blieb er über eine halbe Stunde,
bis ihn ein Geräusch zu sich selbst rief. Es war das Mädchen, das
den Tisch decken wollte. Er ging im Zimmer auf und ab, und da er
sich wieder allein sah, ging er zur Türe des Kabinetts und rief mit
leiser Stimme: "Lotte! Lotte! Nur noch ein Wort! Ein Lebewohl!" -
Sie schwieg. - Er harrte und bat und harrte; dann riss er sich weg
und rief: "lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!"
Er kam ans Stadttor. Die
Wächter, die ihn schon gewohnt waren, ließen ihn stillschweigend
hinaus. Es stiebte zwischen Regen und Schnee, und erst gegen eilfe
klopfte er wieder. Sein Diener bemerkte, als Werther nach Hause kam,
dass seinem Herrn der Hut fehlte. Er getraute sich nicht, etwas zu
sagen, entkleidete ihn, alles war nass. Man hat nachher den Hut auf
einem Felsen, der an dem Abhange des Hügels ins Tal sieht, gefunden,
und es ist unbegreiflich, wie er ihn in einer finstern, feuchten
Nacht, ohne zu stürzen, erstiegen hat.
Er legte sich zu Bette
und schlief lange. Der Bediente fand ihn schreibend, als er ihm den
andern Morgen auf sein Rufen den Kaffee brachte. Er schrieb
folgendes am Briefe an Lotten:
»Zum letzten Male
denn, zum letzten Male schlage ich diese Augen auf. Sie sollen, ach,
die Sonne nicht mehr sehn, ein trüber, neblichter Tag hält sie
bedeckt. So traure denn, Natur! Dein Sohn, dein Freund, dein
Geliebter naht sich seinem Ende. Lotte, das ist ein Gefühl
ohnegleichen, und doch kommt es dem dämmernden Traum am nächsten, zu
sich zu sagen: das ist der letzte Morgen. Der letzte! Lotte, ich
habe keinen Sinn für das Wort: der letzte! Stehe ich nicht da in
meiner ganzen Kraft, und morgen liege ich ausgestreckt und schlaff
am Boden. Sterben! Was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom
Tode reden. Ich habe manchen sterben sehen; aber so eingeschränkt
ist die Menschheit, dass sie für ihres Daseins Anfang und Ende
keinen Sinn hat. Jetzt noch mein, dein! Dein, o Geliebte! Und einen
Augenblick - getrennt, geschieden - vielleicht auf ewig? - Nein,
Lotte, nein - wie kann ich vergehen? Wie kannst du vergehen? Wir
sind ja! - vergehen! - Was heißt das? Das ist wieder ein Wort,
ein leerer Schall, ohne Gefühl für mein Herz. - Tot, Lotte!
Eingescharrt der kalten Erde, so eng! So finster! - Ich hatte eine
Freundin, die mein alles war meiner hülflosen Jugend; sie starb, und
ich folgte ihrer Leiche und stand an dem Grabe, wie sie den Sarg
hinunterließen und die Seile schnurrend unter ihm weg und wieder
herauf schnellten, dann die erste Schaufel hinunterschollerte, und
die ängstliche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und
immer dumpfer, und endlich bedeckt war! - Ich stürzte neben das Grab
hin - ergriffen, erschüttert, geängstigt, zerrissen mein Innerstes,
aber ich wusste nicht, wie mir geschah - wie mir geschehen wird -
Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!
O vergib mir! Vergib mir!
Gestern! Es hätte der letzte Augenblick meines Lebens sein sollen. O
du Engel! Zum ersten Male, zum ersten Male ganz ohne Zweifel durch
mein innig Innerstes durchglühte mich das Wonnegefühl: sie liebt
mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige
Feuer, das von den deinigen strömte, neue, warme Wonne ist in meinem
Herzen. Vergib mir! Vergib mir!
Ach, ich wusste, dass du
mich liebtest, wusste es an den ersten seelenvollen Blicken, an dem
ersten Händedruck, und doch, wenn ich wieder weg war, wenn ich
Alberten an deiner Seite sah, verzagte ich wieder in fieberhaften
Zweifeln.
Erinnerst du dich der
Blumen, die du mir schicktest, als du in jener fatalen Gesellschaft
mir kein Wort sagen, keine Hand reichen konntest? O, ich habe die
halbe Nacht davor gekniet, und sie versiegelten mir deine Liebe.
Aber ach! Diese Eindrücke gingen vorüber, wie das Gefühl der Gnade
seines Gottes allmählich wieder aus der Seele des Gläubigen weicht,
die ihm mit ganzer Himmelsfülle in heiligen, sichtbaren Zeichen
gereicht ward.
Alles das ist
vergänglich, aber keine Ewigkeit soll das glühende Leben auslöschen,
das ich gestern auf deinen Lippen genoss, das ich in mir fühle! Sie
liebt mich! Dieser Arm hat sie umfasst, diese Lippen haben auf ihren
Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen gestammelt. Sie ist
mein! Du bist mein! Ja, Lotte, auf ewig.
Und was ist das, dass
Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für diese Welt - und für
diese Welt Sünde, dass ich dich liebe, dass ich dich aus seinen
Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut, und ich strafe mich
dafür; ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt, diese
Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz gesaugt. Du bist von
diesem Augenblicke mein! Mein, o Lotte! Ich gehe voran! Gehe zu
meinem Vater, zu deinem Vater. Dem will ich's klagen, und er wird
mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse
dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen
Umarmungen.
Ich träume nicht, ich
wähne nicht! Nahe am Grabe wird mir es heller. Wir werden sein! Wir
werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen! Ich werde sie sehen,
werde sie finden, ach, und vor ihr mein ganzes Herz ausschütten!
Deine Mutter, dein Ebenbild."
Gegen eilfe fragte
Werther seinen Bedienten, ob wohl Albert zurückgekommen sei? Der
Bediente sagte: ja, er habe dessen Pferd dahinführen sehen. Darauf
gibt ihm der Herr ein offenes Zettelchen des Inhalts: "Wollten Sie
mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen leihen? Leben Sie
recht wohl!"
Die liebe Frau hatte die
letzte Nacht wenig geschlafen; was sie gefürchtet hatte, war
entschieden, auf eine Weise entschieden, die sie weder ahnen noch
fürchten konnte. Ihr sonst so rein und leicht fließendes Blut war in
einer fieberhaften Empörung, tausenderlei Empfindungen zerrütteten
das schöne Herz. War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie
in ihrem Busen fühlte? War es Unwille über seine Verwegenheit? War
es eine unmutige Vergleichung ihres gegenwärtigen Zustandes mit
jenen Tagen ganz unbefangener, freier Unschuld und sorglosen
Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie ihrem Manne entgegengehen,
wie ihm eine Szene bekennen, die sie so gut gestehen durfte, und die
sie sich doch zu gestehen nicht getraute? Sie hatten so lange gegen
einander geschwiegen, und sollte sie die erste sein, die das
Stillschweigen bräche und eben zur unrechten Zeit ihrem Gatten eine
so unerwartete Entdeckung machte? Schon fürchtete sie, die bloße
Nachricht von Werthers Besuch werde ihm einen unangenehmen Eindruck
machen, und nun gar diese unerwartete Katastrophe! Konnte sie wohl
hoffen, dass ihr Mann sie ganz im rechten Lichte sehen, ganz ohne
Vorurteil aufnehmen würde? Und konnte sie wünschen, dass er in ihrer
Seele lesen möchte? Und doch wieder, konnte sie sich verstellen
gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein kristallhelles Glas offen
und frei gestanden und dem sie keine ihrer Empfindungen jemals
verheimlicht noch verheimlichen können? Eins und das andre machte
ihr Sorgen und setzte sie in Verlegenheit; und immer kehrten ihre
Gedanken wieder zu Werthern, der für sie verloren war, den sie nicht
lassen konnte, den sie - leider! - sich selbst überlassen musste,
und dem, wenn er sie verloren hatte, nichts mehr übrig blieb.
Wie schwer lag jetzt, was
sie sich in dem Augenblick nicht deutlich machen konnte, die
Stockung auf ihr, die sich unter ihnen festgesetzt hatte! So
verständige, so gute Menschen fingen wegen gewisser heimlicher
Verschiedenheiten unter einander zu schweigen an, jedes dachte
seinem Recht und dem Unrechte des andern nach, und die Verhältnisse
verwickelten und verhetzten sich dergestalt, dass es unmöglich ward,
den Knoten eben in dem kritischen Momente, von dem alles abhing, zu
lösen. Hätte eine glückliche Vertraulichkeit sie früher wieder
einander näher gebracht, wäre Liebe und Nachsicht wechselsweise
unter ihnen lebendig worden und hätte ihre Herzen aufgeschlossen,
vielleicht wäre unser Freund noch zu retten gewesen.
Noch ein sonderbarer
Umstand kam dazu. Werther hatte, wie wir aus seinen Briefen wissen,
nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich diese Welt zu
verlassen sehnte. Albert hatte ihn oft bestritten, auch war zwischen
Lotten und ihrem Mann manchmal die Rede davon gewesen. Dieser, wie
er einen entschiedenen Widerwillen gegen die Tat empfand, hatte auch
gar oft mit einer Art von Empfindlichkeit, die sonst ganz außer
seinem Charakter lag, zu erkennen gegeben, dass er an dem Ernst
eines solchen Vorsatzes sehr zu zweifeln Ursach' finde, er hatte
sich sogar darüber einigen Scherz erlaubt und seinen Unglauben
Lotten mitgeteilt. Dies beruhigte sie zwar von einer Seite, wenn
ihre Gedanken ihr das traurige Bild vorführten, von der andern aber
fühlte sie sich auch dadurch gehindert, ihrem Manne die Besorgnisse
mitzuteilen, die sie in dem Augenblicke quälten.
Albert kam zurück, und
Lotte ging ihm mit einer verlegenen Hastigkeit entgegen, er war
nicht heiter, sein Geschäft war nicht vollbracht, er hatte an dem
benachbarten Amtmanne einen unbiegsamen, kleinsinnigen Menschen
gefunden. Der Üble Weg auch hatte ihn verdrießlich gemacht.
Er fragte, ob nichts
vorgefallen sei, und sie antwortete mit Übereilung: Werther sei
gestern abends dagewesen. Er fragte, ob Briefe gekommen, und er
erhielt zur Antwort, dass ein Brief und Pakete auf seiner Stube
lägen. Er ging hinüber, und Lotte blieb allein. Die Gegenwart des
Mannes, den sie liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruck in ihr
Herz gemacht. Das Andenken seines Edelmuts, seiner Liebe und Güte
hatte ihr Gemüt mehr beruhigt, sie fühlte einen heimlichen Zug, ihm
zu folgen, sie nahm ihre Arbeit und ging auf sein Zimmer, wie sie
mehr zu tun pflegte. Sie fand ihn beschäftigt, die Pakete zu
erbrechen und zu lesen. Einige schienen nicht das Angenehmste zu
enthalten. Sie tat einige Fragen an ihn, die er kurz beantwortete,
und sich an den Pult stellte, zu schreiben.
Sie waren auf diese Weise
eine Stunde nebeneinander gewesen, und es ward immer dunkler in
Lottens Gemüt. Sie fühlte, wie schwer es ihr werden würde, ihrem
Mann, auch wenn er bei dem besten Humor wäre, das zu entdecken, was
ihr auf dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut, die ihr um desto
ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Tränen zu
verschlucken suchte.
Die Erscheinung von
Werthers Knaben setzte sie in die größte Verlegenheit; er
überreichte Alberten das Zettelchen, der sich gelassen nach seiner
Frau wendete und sagte: "gib ihm die Pistolen." - "Ich lasse
ihm glückliche Reise wünschen." sagte er zum Jungen. - Das
fiel auf sie wie ein Donnerschlag, sie schwankte aufzustehen, sie
wusste nicht, wie ihr geschah. Langsam ging sie nach der Wand,
zitternd nahm sie das Gewehr herunter, putzte den Staub ab und
zauderte, und hätte noch lange gezögert, wenn nicht Albert durch
einen fragenden Blick sie gedrängt hätte. Sie gab das unglückliche
Werkzeug dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können, und als der
zum Hause hinaus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr
Zimmer, in dem Zustande der unaussprechlichsten Ungewissheit. Ihr
Herz weissagte ihr alle Schrecknisse. Bald war sie im Begriffe, sich
zu den Füßen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdecken, die
Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ihre Ahnungen. Dann
sah sie wieder keinen Ausgang des Unternehmens, am wenigsten konnte
sie hoffen, ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu bereden. Der
Tisch ward gedeckt, und eine gute Freundin, die nur etwas zu fragen
kam, gleich gehen wollte - und blieb, machte die Unterhaltung bei
Tische erträglich; man zwang sich, man redete, man erzählte, man
vergaß sich.
Der Knabe kam mit den
Pistolen zu Werthern, der sie ihm mit Entzücken abnahm, als er
hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er ließ sich Brot und Wein
bringen, hieß den Knaben zu Tische gehen und setzte sich nieder, zu
schreiben.
"Sie sind durch deine
Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt, ich küsse sie
tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist des Himmels,
begünstigst meinen Entschluss, und du, Lotte, reichst mir das
Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte,
und ach! Nun empfange. O ich habe meinen Jungen ausgefragt. Du
zittertest, als du sie ihm reichtest, du sagtest kein Lebewohl!
- Wehe! Wehe! Kein Lebewohl! - solltest du dein Herz für mich
verschlossen haben, um des Augenblicks willen, der mich ewig an dich
befestigte? Lotte, kein Jahrtausend vermag den Eindruck
auszulöschen! Und ich fühle es, du kannst den nicht hassen, der so
für dich glüht."
Nach Tische hieß er
den Knaben alles vollends einpacken, zerriss viele Papiere, ging aus
und brachte noch kleine Schulden in Ordnung. Er kam wieder nach
Hause, ging wieder aus vors Tor, ungeachtet des Regens, in den
gräflichen Garten, schweifte weiter in der Gegend umher und kam mit
anbrechender Nacht zurück und schrieb.
"Wilhelm, ich habe zum
letzten Male Feld und Wald und den Himmel gesehen. Leb wohl auch du!
Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie, Wilhelm! Gott segne euch!
Meine Sachen sind alle in Ordnung. Lebt wohl! Wir sehen uns wieder
und freudiger."
"Ich habe dir Übel
gelohnt, Albert, und du vergibst mir. Ich habe den Frieden deines
Hauses gestört, ich habe Misstrauen zwischen euch gebracht. Lebe
wohl! Ich will es enden. O dass ihr glücklich wäret durch meinen
Tod! Albert! Albert! Mache den Engel glücklich! Und so wohne Gottes
Segen über dir!"
Er kannte den Abend
noch viel in seinen Papieren, zerriss vieles und warf es in den
Ofen, versiegelte einige Päcke mit den Adressen an Wilhelm. Sie
enthielten kleine Aufsätze, abgerissene Gedanken, deren ich
verschiedene gesehen habe; und nachdem er um zehn Uhr Feuer hatte
nachlegen und sich eine Flasche Wein geben lassen, schickte er den
Bedienten, dessen Kammer wie auch die Schlafzimmer der Hausleute
weit hinten hinaus waren, zu Bette, der sich dann in seinen Kleidern
niederlegte, um frühe bei der Hand zu sein; denn sein Herr hatte
gesagt, die Postpferde würden vor sechse vors Haus kommen.
"Nach Eilfe
Alles ist so still um
mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke dir, Gott, der du
diesen letzten Augenblicken diese Wärme, diese Kraft schenkest.
Ich trete an das Fenster,
meine Beste, und sehe, und sehe noch durch die stürmenden,
vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels! Nein,
ihr werdet nicht fallen! Der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und
mich. Ich sehe die Deichselsterne des Wagens, des liebsten unter
allen Gestirnen. Wenn ich nachts von dir ging, wie ich aus deinem
Tore trat, stand er gegen mir über. Mit welcher Trunkenheit habe ich
ihn oft angesehen, oft mit aufgehabenen Händen ihn zum Zeichen, zum
heiligen Merksteine meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht! Und noch
- o Lotte, was erinnert mich nicht an dich! Umgibst du mich nicht!
Und habe ich nicht, gleich einem Kinde, ungenügsam allerlei
Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige berührt hattest!
Liebes Schattenbild! Ich
vermache dir es zurück, Lotte, und bitte dich, es zu ehren. Tausend,
tausend Küsse habe ich darauf gedrückt, tausend Grüße ihm zugewinkt,
wenn ich ausging oder nach Hause kam. Ich habe deinen Vater in einem
Zettelchen gebeten, meine Leiche zu schützen. Auf dem Kirchhofe sind
zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu; dort wünsche
ich zu ruhen. Er kann, er wird das für seinen Freund tun. Bitte ihn
auch. Ich will frommen Christen nicht zumuten, ihren Körper neben
einen armen Unglücklichen zu legen. Ach, ich wollte, ihr begrübt
mich am Wege, oder im einsamen Tale, dass Priester und Levit vor dem
bezeichneten Steine sich segnend vorübergingen und der Samariter
eine Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich schaudre
nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den
Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, und zage nicht.
All! All! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens
erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes
anzuklopfen.
Dass ich des Glückes
hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Lotte, für dich
mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn
ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder schaffen könnte.
Aber ach! Das ward nur wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die
Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod ein neues, hundertfältiges
Leben ihren Freunden anzufachen.
In diesen Kleidern,
Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt; ich
habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt über dem
Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blassrote
Schleife, die du am Busen hattest, als ich dich zum ersten Male
unter deinen Kindern fand - o küsse sie tausendmal und erzähle ihnen
das Schicksal ihres unglücklichen Freundes. Die Lieben! Sie wimmeln
um mich. Ach wie ich mich an dich schloss! Seit dem ersten
Augenblicke dich nicht lassen konnte! - Diese Schleife soll mit mir
begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir! Wie
ich das alles verschlang! - Ach, ich dachte nicht, dass mich der Weg
hierher führen sollte! - Sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!
- Sie sind geladen - es
schlägt zwölfe! So sei es denn! - Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe
wohl!"
Ein Nachbar sah den
Blick vom Pulver und hörte den Schuss fallen; da aber alles stille
blieb, achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um sechse tritt
der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der
Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er fasst ihn an; keine Antwort,
er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte
hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie
weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und
stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem
Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls
schlug, die Glieder waren alle gelähmt. über dem rechten Auge hatte
er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben.
Man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er
holte noch immer Atem.
Aus dem Blut auf der
Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem
Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat
sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das
Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung,
gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.
Das Haus, die
Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein.
Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein
Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge
röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man
erwartete sein Ende.
Von dem Weine hatte er
nur ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag auf dem Pulte
aufgeschlagen.
Von Alberts Bestürzung,
von Lottens Jammer lasst mich nichts sagen.
Der alte Amtmann kam auf
die Nachricht hereingesprengt, er küsste den Sterbenden unter den
heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße,
sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten
Schmerzens, küssten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den
er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er
verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriss. Um zwölfe
mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten
tauschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die
Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der
Leiche und die Söhne, Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für
Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn
begleitet.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024,
an die moderne Rechtschreibung behutsam angepasst