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Recherche-/Leseversion
Johann Wolfgang von
Goethe:
Die Leiden des
jungen Werther
Am 4. Mai 1771
Wie froh bin ich, dass ich weg
bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den
ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß,
du verzeihst mir's. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht
ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme
Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt' ich dafür, dass, während die
eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung
verschafften, dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und
doch - bin ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen genährt?
Hab' ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur,
die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst
ergetzt? Hab' ich nicht - o was ist der Mensch, dass er über sich klagen
darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich
bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksal vorlegt,
wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige
genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast
recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie
nicht - Gott weiß, warum sie so gemacht sind! - mit so viel Emsigkeit der
Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen
Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter
zu sagen, dass ich ihr Geschäft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht
davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das böse
Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere,
heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter
Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre
Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre, alles
herauszugeben, und mehr als wir verlangten - kurz, ich mag jetzt nichts
davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich
habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, dass
Missverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen
als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiss seltener.
Übrigens befinde ich mich hier
gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser
paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller
Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß
von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von
Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.
Die Stadt selbst ist
unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur.
Das bewog den verstorbenen Grafen von M., einen Garten auf einem der Hügel
anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die
lieblichsten Täler bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich
bei dem Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein
fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen
wollte. Schon manche Träne hab' ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen
Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und auch meines ist.
Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir zugetan, nur seit
den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei befinden.
Am 10. Mai
Eine wunderbare Heiterkeit hat
meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich
mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in
dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin
so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein
versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht
zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als
in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe
Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes
ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich
dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde
tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln
der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen
Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und
fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das
Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält;
mein Freund! Wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her
und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten -
dann sehne ich mich oft und denke : ach könntest du das wieder ausdrücken,
könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt,
dass es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des
unendlichen Gottes! - mein Freund - aber ich gehe darüber zugrunde, ich
erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
Am 12. Mai
Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob
die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings
umher so paradiesisch macht. Das ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein
Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. - Du
gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest dich vor einem Gewölbe, da
wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus
Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung
macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des
Orts; das hat alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein
Tag, dass ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen die Mädchen aus der
Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das
ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so
lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die
Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die
Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben. O der muss nie nach einer
schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der
das nicht mitempfinden kann.
Am 13. Mai
Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? - lieber, ich bitte
dich um Gottes willen, las mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus
sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle
gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich mein empörtes Blut zur Ruhe,
denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz. Lieber!
Brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich
vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen
Leidenschaft übergehen zu sehn? Auch halte ich mein Herzchen wie ein
krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter; es
gibt Leute, die mir es verübeln würden.
Am 15. Mai
Die
geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die
Kinder. Eine traurige Bemerkung hab' ich gemacht. Wie ich im Anfange mich
zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dies und das, glaubten
einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich
ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt
habe, auf das lebhafteste : Leute von einigem Stande werden sich immer in
kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch
Annäherung zu verlieren; und dann gibt's Flüchtlinge und üble Spaßvögel,
die sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto
empfindlicher zu machen.
Ich weiß wohl, dass wir nicht
gleich sind, noch sein können; aber ich halte dafür, dass der, der nötig zu
haben glaubt, vom so genannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu
erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde
verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet.
Letzthin kam ich zum Brunnen
und fand ein junges Dienstmädchen, das ihr Gefäß auf die unterste Treppe
gesetzt hatte und sich umsah, ob keine Kamerädin kommen wollte, ihr es auf
den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah sie an. - "Soll ich Ihr
helfen, Jungfer?" sagte ich. - sie ward rot über und über. - "O nein,
Herr!" sagte sie. - "Ohne Umstände". - sie legte ihren Kragen zurecht, und
ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf.
Den 17. Mai
Ich habe allerlei Bekanntschaft
gemacht, Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht, was
ich Anzügliches für die Menschen haben muss; es mögen mich ihrer so viele
und hängen sich an mich, und da tut mir's weh, wenn unser Weg nur eine
kleine Strecke miteinander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind,
muss ich dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das
Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um
zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt
sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung
des Menschen!
Aber eine recht gute Art Volks!
Wenn ich mich manchmal vergesse, manchmal mit ihnen die Freuden genieße,
die den Menschen noch gewährt sind, an einem artig besetzten Tisch mit
aller Offen - und Treuherzigkeit sich herumzuspaßen, eine Spazierfahrt,
einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das tut eine ganz
gute Wirkung auf mich; nur muss mir nicht einfallen, dass noch so viele
andere Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich
sorgfältig verbergen muss. Ach das engt das ganze Herz so ein. - Und doch!
Missverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.
Ach, dass die Freundin meiner
Jugend dahin ist, ach, dass ich sie je gekannt habe! - ich würde sagen: du
bist ein Tor! Du suchst, was hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe
sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart
ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein
konnte. Guter Gott! Blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt?
Konnt' ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem
mein Herz die Natur umfasst? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von
der feinsten Empfindung, dem schärfsten Witze, dessen Modifikationen, bis
zur Unart, alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und nun! -
ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, führten sie früher ans Grab als
mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und ihre
göttliche Duldung.
Vor wenig Tagen traf ich einen
jungen V. an, einen offnen Jungen, mit einer gar glücklichen
Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien dünkt sich eben nicht weise,
aber glaubt doch, er wisse mehr als andere. Auch war er fleißig, wie ich
an allerlei spüre, kurz, er hat hübsche Kenntnisse. Da er hörte,
dass ich
viel zeichnete und Griechisch könnte (zwei Meteore hierzulande), wandte er
sich an mich und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de
Piles zu Winckelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den
ersten Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript von Heynen über
das Studium der Antike. Ich ließ das gut sein.
Noch gar einen braven Mann habe
ich kennen lernen, den fürstlichen Amtmann, einen offenen, treuherzigen
Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn unter seinen
Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von
seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn
ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe, anderthalb
Stunden von hier, wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die
Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause
zu weh tat.
Sonst sind mir einige verzerrte
Originale in den Weg gelaufen, an denen alles unausstehlich ist, am
unerträglichsten Freundschaftsbezeigungen.
Leb' wohl! Der Brief wird dir
recht sein, er ist ganz historisch.
Am 22. Mai
Dass das Leben des Menschen nur
ein Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht
dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher
die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich
sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von
Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere
arme Existenz zu verlängern, und dann, dass alle Beruhigung über gewisse
Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich
die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und
lichten Aussichten bemalt - das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich
kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung
und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da
schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter
in die Welt.
Dass die Kinder nicht wissen,
warum sie wollen, darin sind alle hochgelahrten Schul - und Hofmeister
einig; dass aber auch Erwachsene gleich Kindern auf diesem Erdboden
herumtaumeln und wie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie
gehen, ebenso wenig nach wahren Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und
Kuchen und Birkenreiser regiert werden: das will niemand gern glauben, und
mich dünkt, man kann es mit Händen greifen.
Ich gestehe dir gern, denn ich
weiß, was du mir hierauf sagen möchtest, dass diejenigen die Glücklichsten
sind, die gleich den Kindern in den Tag hinein leben, ihre Puppen
herumschleppen, aus - und anziehen und mit großem Respekt um die Schublade
umherschleichen, wo Mama das Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn
sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und
rufen: "mehr!" - das sind glückliche Geschöpfe. Auch denen ist's wohl, die
ihren Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige
Titel geben und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu
dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben. - Wohl dem, der so sein kann! Wer
aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da sieht, wie
artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese
zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der
Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert sind, das Licht
dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn - ja, der ist still und
bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch glücklich, weil er ein
Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im
Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen
kann, wann er will.
Am 26. Mai
Du kennst von alters her meine
Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen
aufzuschlagen und da mit aller Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe
ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das mich angezogen hat.
Ungefähr eine Stunde von der
Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel ist
sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht,
übersieht man auf einmal das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefällig und
munter in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles
geht, sind zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten [Ästen den kleinen
Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, Scheunen und
Höfen eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht
leicht ein Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem
Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
meinen Homer. Das erste Mal, als ich durch einen Zufall an einem schönen
Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen so einsam. Es war
alles im Felde; nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren saß an der Erde und
hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor ihm zwischen seinen Füßen
sitzendes Kind mit beiden Armen wider seine Brust, so dass er ihm zu einer
Art von Sessel diente und ungeachtet der Munterkeit, womit er aus seinen
schwarzen Augen herumschaute, ganz ruhig saß. Mich vergnügte der Anblick:
ich setzte mich auf einen Pflug, der gegenüber stand, und zeichnete die
brüderliche Stellung mit vielem Ergetzen. Ich fügte den nächsten Zaun, ein
Scheunentor und einige gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es hinter
einander stand, und fand nach Verlauf einer Stunde, dass ich eine
wohlgeordnete, sehr interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das
mindeste von dem Meinen hinzuzutun. Das bestärkte mich in meinem Vorsatze,
mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich
reich, und sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile
der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen
Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie
etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich
durch Gesetze und Wohlstand modeln lässt, nie ein unerträglicher Nachbar,
nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle
Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren
Ausdruck derselben zerstören! Sag' du: 'das ist zu hart! Sie schränkt nur
ein, beschneidet die geilen Reben' etc. - guter Freund, soll ich dir ein
Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt
ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu,
verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick
auszudrücken, dass er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein
Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: 'feiner
junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müsst Ihr menschlich lieben! Teilet
Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet
Eurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft
übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht
zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts - und Namenstage ' etc. - folgt
der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will
selbst jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner
Liebe ist's am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. O
meine Freunde! Warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten
in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert? - liebe
Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers,
denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen
würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der künftig drohenden
Gefahr abzuwehren wissen.
Am 27. Mai
Ich bin, wie ich sehe, in
Verzückung, Gleichnisse und Deklamation verfallen und habe darüber
vergessen, dir auszuerzählen, was mit den Kindern weiter geworden ist. Ich
saß, ganz in malerische Empfindung vertieft, die dir mein gestriges Blatt
sehr zerstückt darlegt, auf meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt
gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die sich indes nicht
gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arm und ruft von weitem: "Philipps,
du bist recht brav". - Sie grüßte mich, ich dankte ihr, stand auf,
trat näher hin und fragte sie, ob sie Mutter von den Kindern wäre? Sie
bejahte es, und indem sie dem ältesten einen halben Weck gab, nahm sie das
kleine auf und küsste es mit aller mütterlichen Liebe. - "ich habe", sagte
sie, "meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem
Ältesten in die Stadt gegangen, um weiß Brot zu holen und Zucker und ein
irden Breipfännchen". - Ich sah das alles in dem Korbe, dessen Deckel
abgefallen war. - "Ich will meinem Hans (das war der Name des Jüngsten)
ein Süppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Große, hat mir gestern
das Pfännchen zerbrochen, als er sich mit Philippsen um die Scharre des
Breis zankte". - ich fragte nach dem Ältesten, und sie hatte mir kaum
gesagt, dass er sich auf der Wiese mit ein paar Gänsen herumjage, als er
gesprungen kam und dem Zweiten eine Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt
mich weiter mit dem Weibe und erfuhr, dass sie des Schulmeisters Tochter
sei, und dass ihr Mann eine Reise in die Schweiz gemacht habe, um die
Erbschaft eines Vetters zu holen. - "Sie haben ihn drum betriegen wollen",
sagte sie, "und ihm auf seine Briefe nicht geantwortet; da ist er selbst
hineingegangen. Wenn ihm nur kein Unglück widerfahren ist, ich höre nichts
von ihm". - Es ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu machen, gab
jedem der Kinder einen Kreuzer, und auch fürs jüngste gab ich ihr einen,
ihm einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge, und so
schieden wir von einander.
Ich sage dir, mein Schatz, wenn
meine Sinne gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der
Anblick eines solchen Geschöpfs, das in glücklicher Gelassenheit den engen
Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft,
die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als dass der Winter
kommt.
Seit der Zeit bin ich oft
draußen. Die Kinder sind ganz an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn
ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und die saure Milch mit mir
des Abends. Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach
der Betstunde da bin, so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
Sie sind vertraut, erzählen mir
allerhand, und besonders ergetze ich mich an ihren Leidenschaften und
simpeln Ausbrüchen des Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich
versammeln.
Viele Mühe hat mich's gekostet,
der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen, sie möchten den Herrn inkommodieren.
Am 30. Mai
Was ich dir neulich von der
Malerei sagte, gilt gewiss auch von der Dichtkunst; es ist nur, dass man das
Vortreffliche erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freilich mit
wenigem viel gesagt. Ich habe heute eine Szene gehabt, die, rein
abgeschrieben, die schönste Idylle von der Welt gäbe; doch was soll
Dichtung, Szene und Idylle? Muss es denn immer gebosselt sein, wenn wir
teil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?
Wenn du auf diesen Eingang viel
Hohes und Vornehmes erwartest, so bist du wieder übel betrogen; es ist
nichts als ein Bauerbursch, der mich zu dieser lebhaften Teilnehmung
hingerissen hat. Ich werde, wie gewöhnlich, schlecht erzählen, und du
wirst mich, wie gewöhnlich, denk' ich, übertrieben finden; es ist wieder
Wahlheim, und immer Wahlheim, das diese Seltenheiten hervorbringt.
Es war eine Gesellschaft
draußen unter den Linden, Kaffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz
anstand, so blieb ich unter einem Vorwande zurück.
Ein Bauerbursch kam aus einem
benachbarten Hause und beschäftigte sich, an dem Pfluge, den ich neulich
gezeichnet hatte, etwas zurecht zu machen. Da mir sein Wesen gefiel,
redete ich ihn an, fragte nach seinen Umständen, wir waren bald bekannt
und, wie mir's gewöhnlich mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er
erzählte mir, dass er bei einer Witwe in Diensten sei und von ihr gar wohl
gehalten werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, dass
ich bald merken konnte, er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei
nicht mehr jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann übel gehalten
worden, wolle nicht mehr heiraten, und aus seiner Erzählung leuchtete so
merklich hervor, wie schön, wie reizend sie für ihn sei, wie sehr er
wünschte, dass sie ihn wählen möchte, um das Andenken der Fehler ihres
ersten Mannes auszulöschen, dass ich Wort für Wort wiederholen
müsste, um
dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu
machen. Ja, ich müsste die Gabe des größten Dichters besitzen, um dir
zugleich den Ausdruck seiner Gebärden, die Harmonie seiner Stimme, das
heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu können. Nein, es
sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und
Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich wieder vorbringen könnte.
Besonders rührte mich, wie er fürchtete, ich möchte über sein Verhältnis
zu ihr ungleich denken und an ihrer guten Aufführung zweifeln. Wie reizend
es war, wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne
jugendliche Reize gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in
meiner innersten Seele wiederholen. Ich hab' in meinem Leben die dringende
Begierde und das heiße, sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit
gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und
geträumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, dass bei der Erinnerung
dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht, und dass mich
das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und
dass ich, wie
selbst davon entzündet, lechze und schmachte.
Ich will nun suchen, auch sie
ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn ich's recht bedenke, ich will's
vermeiden. Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers;
vielleicht erscheint sie mir vor meinen eigenen Augen nicht so, wie sie
jetzt vor mir steht, und warum soll ich mir das schöne Bild verderben?
Am 16. Junius
Warum ich dir nicht schreibe? -
Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten,
dass ich mich wohl befinde, und zwar - kurz und gut, ich habe eine
Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe - ich weiß
nicht.
Dir in der Ordnung zu erzählen,
wie's zugegangen ist, dass ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe
kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt und glücklich, und
also kein guter Historienschreiber.
Einen Engel! - pfui! Das sagt
jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir
zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat
allen meinen Sinn gefangengenommen.
So viel Einfalt bei so viel
Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei
dem wahren Leben und der Tätigkeit. - Das ist alles garstiges Gewäsch, was
ich da von ihr sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres
Selbst ausdrücken. Ein andermal - nein, nicht ein andermal, jetzt gleich
will ich dir's erzählen. Tu' ich 's jetzt nicht, so geschäh' es niemals.
Denn, unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon
dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu lassen
und hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute früh, nicht
hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick' ans Fenster, zu sehen, wie
hoch die Sonne noch steht. - Ich hab's nicht überwinden können, ich
musste
zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht
essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in
dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen! -
Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange. Höre
denn, ich will mich zwingen, ins Detail zu gehen.
Ich schrieb dir neulich, wie
ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn
bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem kleinen Königreiche zu
besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht nie hingekommen,
hätte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend
verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten
einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig
finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden
Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, dass ich eine Kutsche nehmen,
mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit
hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. - "Sie
werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen", sagte meine
Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem
Jagdhause fuhren. - "Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base, "dass
Sie sich nicht verlieben!" - "Wieso?" sagte ich. - "Sie ist schon
vergeben," antwortete jene, "an einen sehr braven Mann, der weggereist
ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist,
und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben". - Die Nachricht war
mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine
Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr
schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines
Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte
zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher
Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit
werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine
Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell
Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten
Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die
Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je
gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei
Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein
simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte.
Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem
sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit
solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!",
indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es
noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder
wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem
Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte
wegfahren sollte. - "Ich bitte um Vergebung", sagte sie, "dass ich Sie
hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und
allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen,
meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot
geschnitten haben als von mir".
Ich machte ihr ein
unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem
Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu
erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer zu
holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an,
und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten
Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam
und sagte: "Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand". - das tat der Knabe
sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet
seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu küssen.
"Vetter?" sagte ich, indem ich
ihr die Hand reichte," glauben Sie, dass ich des Glücks wert sei, mit Ihnen
verwandt zu sein?" - "O", sagte sie mit einem leichtfertigen Lächeln,
"unsere Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie
der schlimmste drunter sein sollten". - Im Gehen gab sie Sophien, der
ältesten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ungefähr elf Jahren, den
Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er
vom Spazierritte nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer
Schwester Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre, das denn auch einige
ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von
ungefähr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir haben
dich doch lieber". - die zwei ältesten Knaben waren hinten auf die Kutsche
geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald
mitzufahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken und sich recht
festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht
gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselweise über den Anzug,
vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft,
die man erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und
ihre Brüder herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen
begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von
fünfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und
Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren
weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem
Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte. - "nein", sagte
Lotte, "es gefällt mir nicht, Sie können's wiederhaben. Das vorige war auch
nicht besser". - Ich erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher wären,
und sie mir antwortete: - ich fand so viel Charakter in allem, was sie
sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus
ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu
entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, dass ich sie verstand.
"Wie ich jünger war", sagte
sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl mir's war,
wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an
dem Glück und Unstern einer Miss Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch
nicht, dass die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten
an ein Buch komme, so muss es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und
der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem
es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und
herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies,
aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist".
Ich bemühte mich, meine
Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit:
denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester von
Wakefield, vom - reden hörte, kam ich ganz außer mich, sagte ihr alles,
was ich musste, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch
an die anderen wendete, dass diese die Zeit über mit offenen Augen, als
säßen sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal
mit einem spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts gelegen war.
Das Gespräch fiel aufs
Vergnügen am Tanze. - "wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist,"
sagte
Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und
wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen
Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut".
Wie ich mich unter dem
Gespräche
in den schwarzen Augen weidete - wie die lebendigen Lippen und die
frischen, muntern Wangen meine ganze Seele anzogen - wie ich, in den
herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte,
mit denen sie sich ausdrückte - davon hast du eine Vorstellung, weil du
mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor
dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen rings in der
dämmernden Welt verloren, dass ich auf die Musik kaum achtete, die uns von
dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
Die zwei Herren Audran und ein
gewisser N. N. - wer behält alle die Namen - , die der Base und Lottens
Tänzer waren, empfingen uns am Schlage, bemächtigten sich ihrer
Frauenzimmer, und ich führte das meinige hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts
um einander herum; ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und
just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu
reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen
Englischen an, und wie wohl mir's war, als sie auch in der Reihe die Figur
mit uns anfing, magst du fühlen. Tanzen muss man sie sehen! Siehst du, sie
ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper
eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles
wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem
Augenblicke gewiss schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten
Contretanz; sie sagte mit den dritten zu, und mit der liebenswürdigsten
Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mir, dass sie herzlich gern
deutsch tanze. - "Es ist hier so Mode, "fuhr sie fort,"
dass jedes Paar,
das zusammen gehört, beim Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt
schlecht und dankt mir's, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr
Frauenzimmer kann's auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen
gesehen, dass Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche,
so gehen Sie und bitten sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer
Dame gehen". - ich gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, dass ihr
Tänzer inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.
Nun ging's an, und wir
ergetzten uns eine Weile an mannigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit
welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! Und da wir nun
gar ans Walzen kamen und wie die Sphären um einander herumrollten, ging's
freilich anfangs, weil's die wenigsten können, ein bisschen bunt
durcheinander. Wir waren klug und ließen sie austoben, und als die
Ungeschicktesten den Plan geräumt hatten, fielen wir ein und hielten mit
noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist
mir's so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das
liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen
wie Wetter, dass alles rings umher verging, und - Wilhelm, um ehrlich zu
sein, tat ich aber doch den Schwur, dass ein Mädchen, das ich liebte, auf
das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit
mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müsste. Du verstehst mich!
Wir machten einige Touren
gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die
Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die nun die einzigen noch
übrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur dass mir mit jedem
Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin ehrenhalben zuteilte,
ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz
waren wir das zweite Paar. Wie wir die Reihe durchtanzten und ich, weiß
Gott mit wie viel Wonne, an ihrem Arm und Auge hing, das voll vom wahrsten
Ausdruck des offensten, reinsten Vergnügens war, kommen wir an eine Frau,
die mit wegen ihrer liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen
Gesichte merkwürdig gewesen war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt einen
drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen
mit viel Bedeutung.
"Wer ist Albert?" sagte ich zu
Lotten, "wenn's nicht Vermessenheit ist zu fragen". - Sie war im Begriff
zu antworten, als wir uns scheiden mussten, um die große Achte zu machen,
und mich dünkte einiges Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so
vor einander vorbeikreuzten. - "Was soll ich's Ihnen leugnen," sagte sie,
indem sie mir die Hand zur Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch,
dem ich so gut als verlobt bin". - nun war mir das nichts Neues (denn die
Mädchen hatten mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu,
weil ich es noch nicht im Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich verwirrte
mich, vergaß mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein, dass alles
drunter und drüber ging und Lottens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen
nötig war, um es schnell wieder in Ordnung zu bringen.
Der Tanz war noch nicht zu
Ende, als die Blitze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn und
die ich immer für Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker zu werden
anfingen und der Donner die Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer liefen
aus der Reihe, denen ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein,
und die Musik hörte auf. Es ist natürlich, wenn uns ein Unglück oder etwas
Schreckliches im Vergnügen überrascht, dass es stärkere Eindrücke auf uns
macht als sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft
empfinden lässt, teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der
Fühlbarkeit geöffnet sind und also desto schneller einen Eindruck
annehmen. Diesen Ursachen muss ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben,
in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
eine Ecke, mit dem Rücken gegen vor ihr nieder und verbarg den Kopf in der
erster Schoß. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und
umfasste
ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige wollten nach Hause; andere,
die noch weniger wussten, was sie taten, hatten nicht so viel
Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu steuern, die
sehr beschäftigt zu sein schienen, alle die ängstlichen Gebete, die dem
Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schönen Bedrängten wegzufangen.
Einige unserer Herren hatten sich hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe
zu rauchen; und die übrige Gesellschaft schlug es nicht aus, als die
Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Läden
und Vorhänge hätte. Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschäftigt
war, einen Kreis von Stühlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf
ihre Bitte gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
Ich sah manchen, der in
Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Mäulchen spitzte und seine Glieder
reckte. - "Wir spielen Zählens!" sagte sie. "Nun gebt acht! Ich geh' im
Kreise herum von der Rechten zur Linken, und so zählt ihr auch rings
herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt, und das muss gehen wie ein
Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so bis
tausend". - nun war das lustig anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm
im Kreise herum. "Eins", fing der erste an, der Nachbar "zwei", "drei" der
folgende, und so fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer
geschwinder; da versah's einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und über das
Gelächter der folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst
kriegte zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken,
dass sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein
allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das
Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das
Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte
sie: "über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!" - ich
konnte ihr nichts antworten. - "ich war", fuhr sie fort, "eine der
Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern Mut zu
geben, bin ich mutig geworden". - Wir traten ans Fenster. Es donnerte
abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der
erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns
auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die
Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie
legte ihre Hand auf die meinige und sagte: "Klopstock!" - Ich erinnerte
mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in
dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich
ausgoss.
Ich ertrug's nicht, neigte mich auf ihre Hand und küsste sie unter den
wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder - Edler! Hättest du
deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so
oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!
Am 19. Junius
Wo ich neulich mit meiner
Erzählung geblieben bin, weiß ich nicht mehr; das weiß ich,
dass es zwei
Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und dass, wenn ich dir hätte
vorschwatzen können, statt zu schreiben, ich dich vielleicht bis an den
Morgen aufgehalten hätte.
Was auf unserer Hereinfahrt vom
Balle geschehen ist, habe ich noch nicht erzählt, habe auch heute keinen
Tag dazu.
Es war der herrlichste
Sonnenaufgang. Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere
Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von
der Partie sein wollte; ihretwegen sollt' ich unbekümmert sein. - "So
lange ich diese Augen offen sehe", sagte ich und sah sie fest an, "so lange
hat's keine Gefahr". - Und wir haben beide ausgehalten bis an ihr Tor, da
ihr die Magd leise aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, dass Vater und
Kleine wohl seien und alle noch schliefen. Da verließ ich sie mit der
Bitte, sie selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie gestand mir's zu, und
ich bin gekommen - und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig
ihre Wirtschaft treiben, ich weiß weder dass Tag noch dass Nacht ist, und
die ganze Welt verliert sich um mich her.
Am 21. Junius
Ich lebe so glückliche Tage,
wie sie Gott seinen Heiligen ausspart; und mit mir mag werden was will, so
darf ich nicht sagen, dass ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens
nicht genossen habe. - du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig
etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl' ich
mich selbst und alles Glück, das dem Menschen gegeben ist.
Hätt' ich gedacht, als ich mir
Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge wählte, dass es so nahe am Himmel
läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche
einschließt, auf meinen weiten Wanderungen, bald vom Berge, bald von der
Ebne über den Fluss gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe
allerlei nachgedacht, über die Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue
Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den inneren
Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben, in dem Gleise der
Gewohnheit so hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu
bekümmern.
Es ist wunderbar: wie ich
hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal schaute, wie es mich rings
umher anzog. - dort das Wäldchen! - ach könntest du dich in seine Schatten
mischen! - dort die Spitze des Berges! - ach könntest du von da die weite
Gegend überschauen! - die in einander geketteten Hügel und vertraulichen
Täler! - o könnte ich mich in ihnen verlieren! - ich eilte hin, und kehrte
zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne
wie mit der Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele,
unsere Empfindung verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns,
ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen,
großen, herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen. - und ach! Wenn wir
hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir
stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele
lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste
Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande und findet in seiner Hütte,
an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften
zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
Wenn ich des Morgens mit
Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir
meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädne und
dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen Küche mir einen
Topf wähle, mir Butter aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke und
mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln: da fühl' ich so lebhaft, wie
die übermütigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten,
zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen, wahren
Empfindung ausfüllte als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott
sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.
Wie wohl ist mir's, dass mein
Herz die simple, harmlose Wonne des Menschen fühlen kann, der ein
Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun nicht
den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn
pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoss, und da er an dem
fortschreitenden Wachstum seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke
wieder mitgenießt.
Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier
aus der Stadt hinaus zum Amtmann und fand mich auf der Erde unter Lottens
Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie
ich sie kitzelte und ein großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor,
der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten
in Falten legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter
der Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich
ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen
abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie
zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte,
des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der Werther verderbe
sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem
Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe und
in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie
einmal so nötig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinne künftige
Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten
Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen,
erblicke, alles so unverdorben, so ganz! - immer, immer wiederhole ich
dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: "wenn ihr nicht werdet
wie eines von diesen!" und nun, mein Bester, sie, die unseresgleichen
sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als
Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben! - haben wir denn keinen? Und
wo liegt das Vorrecht? - weil wir älter sind und gescheiter! - guter Gott
von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts
weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange
verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht - das ist auch was
Altes! - und bilden ihre Kinder nach sich und - Adieu, Wilhelm! Ich mag
darüber nicht weiter radotieren.
Am 1. Julius
Was Lotte einem Kranken sein
muss, fühl' ich an meinem eigenen Herzen, das übler dran ist als manches,
das auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt
bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich nach der Aussage der
Ärzte ihrem Ende naht und in diesen letzten Augenblicken Lotten um sich
haben will. Ich war vorige Woche mir ihr, den Pfarrer von St. zu besuchen;
ein Örtchen, das eine Stunde seitwärts im Gebirge liegt. Wir kamen gegen
vier dahin. Lotte hatte ihre zweite Schwester mitgenommen. Als wir in den
mit zwei hohen Nussbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute alte
Mann auf einer Bank vor der Haustür, und da er Lotten sah, ward er wie neu
belebt, vergaß seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen. Sie
lief hin zu ihm, nötigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich zu ihm
setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte seinen garstigen,
schmutzigen jüngsten Buben, das Quakelchen seines Alters. Du hättest sie
sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie ihre Stimme erhob,
um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie ihm von jungen,
robusten Leuten erzählte, die unvermutet gestorben wären, von der
Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie seinen Entschluss lobte,
künftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, dass er viel besser aussähe,
viel munterer sei als das letzte Mal, da sie ihn gesehn. - ich hatte indes
der Frau Pfarrerin meine Höflichkeiten gemacht. Der Alte wurde ganz
munter, und da ich nicht umhin konnte, die schönen Nussbäume zu loben, die
uns so lieblich beschatteten, fing er an, uns, wiewohl mit einiger
Beschwerlichkeit, die Geschichte davon zu geben. - "den alten", sagte
er, "wissen wir nicht, wer den gepflanzt hat; einige sagen dieser, andere
jener Pfarrer. Der jüngere aber dort hinten ist so alt als meine Frau, im
Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen
Abend geboren wurde. Er war mein Vorfahr im Amt, und wie lieb ihm der Baum
war, ist nicht zu sagen; mir ist er's gewiss nicht weniger. Meine Frau saß
darunter auf einem Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig Jahren
als ein armer Student zum ersten Male hier in den Hof kam". - Lotte fragte
nach seiner Tochter; es hieß, sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese
hinaus zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort: wie
sein Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein
Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht lange zu
Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn Schmidt durch
den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit herzlicher Wärme, und ich
muss sagen, sie gefiel mir nicht übel; eine rasche, wohlgewachsene
Brünette, die einen die kurze Zeit über auf dem Lande wohl unterhalten
hätte. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte sich Herr Schmidt gleich
dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht in unsere Gespräche
mischen wollte, ob ihn gleich Lotte immer hereinzog. Was mich am meisten
betrübte, war, dass ich an seinen Gesichtszügen zu bemerken schien, es sei
mehr Eigensinn und übler Humor als Eingeschränktheit des Verstandes, der
ihn sich mitzuteilen hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu
deutlich; denn als Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und
gelegentlich auch mit mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies
einer bräunlichen Farbe war, so sichtlich verdunkelt, dass es Zeit war,
dass
Lotte mich beim Ärmel zupfte und mir zu verstehn gab, dass ich mit
Friederiken zu artig getan. Nun verdrießt mich nichts mehr, als wenn die
Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Blüte des
Lebens, da sie am offensten für alle Freuden sein könnten, einander die
paar guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spät das
Unersetzliche ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das, und ich
konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurückkehrten und
an einem Tische Milch aßen und das Gespräch auf Freude und Leid der Welt
sich wendete, den Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen die üble
Laune zu reden. - "wir Menschen beklagen uns oft", fing ich an, "dass der
guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und, wie mich dünkt,
meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu
genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden alsdann auch
Kraft genug haben, das Übel zu tragen, wenn es kommt". - "Wir haben
aber unser Gemüt nicht in unserer Gewalt", versetzte die Pfarrerin, "wie
viel hängt vom Körper ab! Wenn einem nicht wohl ist, ist's einem überall
nicht recht". - Ich gestand ihr das ein. - "Wir wollen es also", fuhr ich
fort, "als eine Krankheit ansehen und fragen, ob dafür kein Mittel ist?" -
"Das lässt sich hören", sagte Lotte, "ich glaube wenigstens,
dass viel von
uns abhängt. Ich weiß es an mir. Wenn mich etwas neckt und mich
verdrießlich machen will, spring' ich auf und sing' ein paar Contretänze
den Garten auf und ab, gleich ist's weg". - "das war's, was ich sagen
wollte," versetzte ich, "es ist mit der üblen Laune völlig wie mit der
Trägheit, denn es ist eine Art von Trägheit. Unsere Natur hängt sehr
dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu ermannen,
geht uns die Arbeit frisch von der Hand, und wir finden in der Tätigkeit
ein wahres Vergnügen". - Friederike war sehr aufmerksam, und der
junge Mensch wandte mir ein, dass man nicht Herr über sich selbst sei und
am wenigsten über seine Empfindungen gebieten könne. - "es ist hier die
Frage von einer unangenehmen Empfindung", versetzte ich, "die doch
jedermann gerne los ist; und niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen,
bis er sie versucht hat. Gewiß, wer krank ist, wird bei allen Ärzten
herumfragen, und die größten Resignationen, die bittersten Arzeneien wird
er nicht abweisen, um seine gewünschte Gesundheit zu erhalten". - ich
bemerkte, dass der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte, um an unserm
Diskurse teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn
wandte". Man predigt gegen so viele Laster", sagte ich, "ich habe noch nie
gehört, dass man gegen die üble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hätte. -
"Das müssten die Stadtpfarrer tun", sagte er, "die Bauern haben keinen
bösen Humor; doch könnte es auch zuweilen nicht schaden, es wäre eine
Lektion für seine Frau wenigstens und für den Herrn Amtmann". - Die
Gesellschaft lachte, und er herzlich mit, bis er in einen Husten verfiel,
der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach; darauf denn der junge Mensch
wieder das Wort nahm: "Sie nannten den bösen Humor ein Laster; mich
deucht, das ist übertrieben". - "Mitnichten", gab ich zur Antwort, "wenn
das, womit man sich selbst und seinem Nächsten schadet, diesen Namen
verdient. Ist es nicht genug, dass wir einander nicht glücklich machen
können, müssen wir auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz
sich noch manchmal selbst gewähren kann? Und nennen Sie mir den Menschen,
der übler Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu
tragen, ohne die Freude um sich her zu zerstören! Oder ist sie nicht
vielmehr ein innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein
Missfallen
an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine
törichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glückliche Menschen, die wir
nicht glücklich machen, und das ist unerträglich". - Lotte lächelte mich
an, da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und eine Träne in
Friederikens Auge spornte mich fortzufahren. - "Wehe denen", sagte ich,
"die sich der Gewalt bedienen, die sie über ein Herz haben, um ihm die
einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle
Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick
Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit unsers
Tyrannen vergällt hat".
Mein ganzes Herz war voll in
diesem Augenblicke; die Erinnerung so manches Vergangenen drängte sich an
meine Seele, und die Tränen kamen mir in die Augen.
"Wer sich das nur täglich
sagte", rief ich aus, "du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre
Freuden zu lassen und ihr Glück zu vermehren, indem du es mit ihnen
genießest. Vermagst du, wenn ihre innere Seele von einer ängstigenden
Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen
Linderung zu geben?
Und wenn die letzte, bangste
Krankheit dann über das Geschöpf herfällt, das du in blühenden Tagen
untergraben hast, und sie nun daliegt in dem erbärmlichsten Ermatten, das
Auge gefühllos gen Himmel sieht, der Todesschweiß auf der blassen Stirne
abwechselt, und du vor dem Bette stehst wie ein Verdammter, in dem
innigsten Gefühl, dass du nichts vermagst mit deinem ganzen Vermögen, und
die Angst dich inwendig krampft, dass du alles hingeben möchtest, dem
untergehenden Geschöpfe einen Tropfen Stärkung, einen Funken Mut einflößen
zu können".
Die Erinnerung einer solchen
Szene, wobei ich gegenwärtig war, fiel mit ganzer Gewalt bei diesen Worten
über mich. Ich nahm das Schnupftuch vor die Augen und verließ die
Gesellschaft, und nur Lottens Stimme, die mir rief, wir wollten fort,
brachte mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt über den
zu warmen Anteil an allem, und dass ich drüber zugrunde gehen würde!
Dass
ich mich schonen sollte! - O der Engel! Um deinetwillen muss ich leben!
Am 6. Julius
Sie ist immer um ihre sterbende
Freundin, und ist immer dieselbe, immer das gegenwärtige, holde Geschöpf,
das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht. Sie ging
gestern abend mit Marianen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wusste es
und traf sie an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb
Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen, der mir so wert
und nun tausendmal werter ist. Lotte setzte sich aufs Mäuerchen, wir
standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da mein Herz so allein
war, lebte wieder vor mir auf. - "Lieber Brunnen", sagte ich, "seither
hab' ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, hab' in eilendem Vorübergehn
dich manchmal nicht angesehn". - Ich blickte hinab und sah, dass Malchen
mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. - Ich sah Lotten an
und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen mit einem
Glase. Mariane wollt' es ihr abnehmen: "nein!" rief das Kind mit dem
süßesten Ausdrucke, "nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!" - ich ward
über die Wahrheit, über die Güte, womit sie das ausrief, so entzückt,
dass
ich meine Empfindung mit nichts ausdrücken konnte, als ich nahm das Kind
von der Erde und küsste es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen
anfing. - "Sie haben übel getan", sagte Lotte. - Ich war betroffen. -
"komm, Malchen, "fuhr sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die
Stufen hinabführte, "da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind,
geschwind, da tut's nichts". - Wie ich so dastand und zusah, mit welcher
Emsigkeit das Kleine seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem
Glauben, dass durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült und die
Schmach abgetan würde, einen hässlichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte:
"es ist genug!" und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel
mehr täte als Wenig - ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie
einer Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte heraufkam, hätte ich mich
gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden
einer Nation weggeweiht hat.
Des Abends konnte ich nicht
umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzählen,
dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat; aber wie kam ich an!
Er sagte, das sei sehr übel von Lotten gewesen; man solle den Kindern
nichts weis machen; dergleichen gebe zu unzähligen Irrtümern und
Aberglauben Anlass, wovor man die Kinder frühzeitig bewahren müsse. - nun
fiel mir ein, dass der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum ließ
ich's vorbeigehen und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir
sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns, der uns am
glücklichsten macht, wenn er uns in freundlichem Wahne so hintaumeln
lässt.
Am 8. Julius
Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man ein
Kind ist! - Wir waren nach Wahlheim gegangen. Die Frauenzimmer fuhren
hinaus, und während unserer Spaziergänge glaubte ich in Lottens schwarzen
Augen - ich bin ein Tor, verzeih mir's! Du solltest sie sehen, diese
Augen. - Dass ich kurz bin (denn die Augen fallen mir zu vor Schlaf):
siehe, die Frauenzimmer stiegen ein, da standen um die Kutsche der junge
W., Selstadt und Audran und ich. Da ward aus dem Schlage geplaudert mit
den Kerlchen, die freilich leicht und lüftig genug waren. - ich suchte
Lottens Augen: ach, sie gingen von einem zum andern! Aber auf mich! Mich!
Mich! Der ganz allein auf sie resigniert dastand, fielen sie nicht! - Mein
Herz sagte ihr tausend Adieu! Und sie sah mich nicht! Die Kutsche fuhr
vorbei, und eine Träne stand mir im Auge. Ich sah ihr nach und sah Lottens
Kopfputz sich zum Schlage herauslehnen, und sie wandte sich um zu sehen,
ach! Nach mir? - Lieber! In dieser Ungewissheit schwebe ich; das ist mein
Trost: vielleicht hat sie sich nach mir umgesehen! Vielleicht! - Gute
Nacht! O, was ich ein Kind bin!
Am 10. Julius
Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr
gesprochen wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie sie
mir gefällt? - gefällt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muss das für
ein Mensch sein, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinne, alle
Empfindungen ausfüllt! Gefällt! Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie
mir Ossian gefiele!
Am 11. Julius
Frau M. ist sehr schlecht; ich
bete für ihr Leben, weil ich mit Lotten dulde. Ich sehe sie selten bei
einer Freundin, und heute hat sie mir einen wunderbaren Vorfall erzählt. -
der alte M. ist ein geiziger, rangiger Filz, der seine Frau im Leben was
Rechts geplagt und eingeschränkt hat; doch hat sich die Frau immer
durchzuhelfen gewusst. Vor wenigen Tagen, als der Arzt ihr das Leben
abgesprochen hatte, ließ sie ihren Mann kommen (Lotte war im Zimmer) und
redete ihn also an: "ich muss dir eine Sache gestehen, die nach meinem Tode
Verwirrung und Verdruss machen könnte. Ich habe bisher die Haushaltung
geführt, so ordentlich und sparsam als möglich; allein du wirst mir
verzeihen, dass ich dich diese dreißig Jahre her hintergangen habe. Du
bestimmtest im Anfange unserer Heirat ein Geringes für die Bestreitung der
Küche und anderer häuslichen Ausgaben. Als unsere Haushaltung stärker
wurde, unser Gewerbe größer, warst du nicht zu bewegen, mein Wochengeld
nach dem Verhältnisse zu vermehren; kurz, du weißt, dass du in den Zeiten,
da sie am größten war, verlangtest, ich solle mit sieben Gulden die Woche
auskommen.
Die habe ich denn ohne
Widerrede genommen und mir den Überschuss wöchentlich aus der Losung
geholt, da niemand vermutete, dass die Frau die Kasse bestehlen würde. Ich
habe nichts verschwendet und wäre auch, ohne es zu bekennen, getrost der
Ewigkeit entgegengegangen, wenn nicht diejenige, die nach mir das
Hauswesen zu führen hat, sich nicht zu helfen wissen würde, und du doch
immer darauf bestehen könntest, deine erste Frau sei damit ausgekommen".
Ich redete mit Lotten über die
unglaubliche Verblendung des Menschensinns, dass einer nicht argwohnen
soll, dahinter müsse was anders stecken, wenn eins mit sieben Gulden
hinreicht, wo man den Aufwand vielleicht um zweimal so viel sieht. Aber
ich habe selbst Leute gekannt, die des Propheten ewiges Ölkrüglein ohne
Verwunderung in ihrem Hause angenommen hätten.
Am 13. Julius
Nein, ich betrüge mich nicht!
Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem
Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen,
dass sie
- o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? - dass sie
mich liebt!
Mich liebt! - und wie wert ich
mir selbst werde, wie ich - dir darf ich's wohl sagen, du hast Sinn für so
etwas - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!
Ob das Vermessenheit ist oder
Gefühl des wahren Verhältnisses? - ich kenne den Menschen nicht, von dem
ich etwas in Lottens Herzen fürchtete. Und doch - wenn sie von ihrem
Bräutigam spricht, mit solcher Wärme, solcher Liebe von ihm spricht - da
ist mir's wie einem, der aller seiner Ehren und Würden entsetzt und dem
der Degen genommen wird.
Am 16. Julius
Ach wie mir das durch alle
Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere
Füße sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und
eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts - mir wird's so schwindelig
vor allen Sinnen. - O! Und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt
nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar
im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt und im Interesse der
Unterredung näher zu mir rückt, dass der himmlische Atem ihres Mundes meine
Lippen erreichen kann: - ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt.
- und, Wilhelm! Wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses
Vertrauen - ! Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht!
Schwach! Schwach genug! - und ist das nicht Verderben? - sie ist mir
heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiß nie, wie mir
ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen
Nerven umkehrte. - sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klaviere spielet
mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr
Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her,
wenn sie nur die erste Note davon greift.
Kein Wort von der Zauberkraft
der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der einfache Gesang
angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir eine
Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele
zerstreut sich, und ich atme wieder freier.
Am 18. Julius
Wilhelm,
was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ist
ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen dir die
buntesten Bilder an deine weiße Wand! Und wenn's nichts wäre als das, als
vorübergehende Phantome, so macht's doch immer unser Glück, wenn wir wie
frische Jungen davor stehen und uns über die Wundererscheinungen
entzücken. Heute konnte ich nicht zu Lotten, eine unvermeidliche
Gesellschaft hielt mich ab. Was war zu tun? Ich schickte meinen Diener
hinaus, nur um einen Menschen um mich zu haben, der ihr heute nahe
gekommen wäre. Mit welcher Ungeduld ich ihn erwartete, mit welcher Freude
ich ihn wiedersah! Ich hätte ihn gern beim Kopfe genommen und geküsst, wenn
ich mich nicht geschämt hätte.
Man erzählt von dem Bononischen
Steine, dass er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strahlen anzieht und
eine Weile bei Nacht leuchtet. So war mir's mit dem Burschen. Das Gefühl,
dass ihre Augen auf seinem Gesichte, seinen Backen, seinen Rockknöpfen und
dem Kragen am Surtout geruht hatten, machte mir das alles so heilig, so
wert! Ich hätte in dem Augenblick den Jungen nicht um tausend Taler
gegeben. Es war mir so wohl in seiner Gegenwart. - bewahre dich Gott, dass
du darüber lachest. Wilhelm, sind das Phantome, wenn es uns wohl ist?
Den 19. Julius
"Ich werde sie sehen!" ruf' ich
morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schönen
Sonne entgegenblicke; "ich werde sie sehen!" und da habe ich für den
ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser
Aussicht.
Eure Idee will noch nicht die
meinige werden, dass ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe
die Subordination nicht sehr, und wir wissen alle, dass der Mann noch dazu
ein widriger Mensch ist. Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben,
sagst du, das hat mich zu lachen gemacht. Bin ich jetzt nicht auch aktiv,
und ist's im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen? Alles
in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um
anderer willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes
Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer
ein Tor.
Am 24. Julius
Da dir so sehr daran gelegen
ist, dass ich mein Zeichnen nicht vernachlässige, möchte ich lieber die
ganze Sache übergehen als dir sagen, dass zeither wenig getan wird.
Noch nie war ich glücklicher,
noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs
Gräschen herunter, voller und inniger, und doch - ich weiß nicht, wie ich
mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles
schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, dass ich keinen Umriss packen
kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Ton hätte oder Wachs, so wollte
ich's wohl herausbilden. Ich werde auch Ton nehmen, wenn's länger währt,
und kneten, uns sollten's Kuchen werden!
Lottens Porträt habe ich
dreimal angefangen, und habe mich dreimal prostituiert; das mich um so
mehr verdrießt, weil ich vor einiger Zeit sehr glücklich im Treffen war.
Darauf habe ich denn ihren Schattenriss gemacht, und damit soll mir g'nügen.
Ja, liebe Lotte, ich will alles
besorgen und bestellen; geben Sie mir nur mehr Aufträge, nur recht oft. Um
eins bitte ich Sie: keinen Sand mehr auf die Zettelchen, die Sie mir
schreiben. Heute führte ich es schnell nach der Lippe, und die Zähne
knisterten mir.
Am 26. Julius
Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja
wer das halten könnte! Alle Tage unterlieg' ich der Versuchung und
verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn der
Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und ehe
ich mich's versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des Abends gesagt:
"Sie kommen doch morgen?" - wer könnte da wegbleiben? Oder sie gibt mir
einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr selbst die Antwort zu
bringen; oder der Tag ist gar zu schön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn
ich nun da bin, ist's nur noch eine halbe Stunde zu ihr! - ich bin zu nah
in der Atmosphäre - zuck! So bin ich dort. Meine Großmutter hatte ein
Märchen vom Magnetenberg: die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf
einmal alles Eisenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die
armen Elenden scheiterten zwischen den übereinander stürzenden Brettern.
Am 30. Julius
Albert ist angekommen, und ich
werde gehen; und wenn er der beste, der edelste Mensch wäre, unter den ich
mich in jeder Betrachtung zu stellen bereit wäre, so wär's unerträglich,
ihn vor meinem Angesicht im Besitz so vieler Vollkommenheit zu sehen. -
Besitz! - genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da! Ein braver, lieber Mann,
dem man gut sein muss. Glücklicherweise war ich nicht beim Empfange! Das
hätte mir das Herz zerrissen. Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in
meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal geküsst. Das lohn' ihm Gott! Um
des Respekts willen, den er vor dem Mädchen hat, muss ich ihn lieben. Er
will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr als seiner
eigenen Empfindung; denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn
sie zwei Verehrer in gutem Vernehmen mit einander erhalten können, ist der
Vorteil immer ihr, so selten es auch angeht.
Indes kann ich Alberten meine
Achtung nicht versagen. Seine gelassene Außenseite sticht gegen die Unruhe
meines Charakters sehr lebhaft ab, die sich nicht verbergen lässt. Er hat
viel Gefühl und weiß, was er an Lotten hat. Erscheint wenig üble Laune zu
haben, und du weißt, das ist die Sünde, die ich ärger hasse am Menschen
als alle andre.
Er hält mich für einen Menschen
von Sinn; und meine Anhänglichkeit zu Lotten, meine warme Freude, die ich
an allen ihren Handlungen habe, vermehrt seinen Triumph, und er liebt sie
nur desto mehr. Ob er sie nicht einmal mit keiner Eifersüchtelei peinigt,
das lasse ich dahingestellt sein, wenigstens würd' ich an seinem Platz
nicht ganz sicher vor diesem Teufel bleiben.
Dem sei nun wie ihm wolle,
meine Freude, bei Lotten zu sein, ist hin. Soll ich das Torheit nennen
oder Verblendung? - was braucht's Namen! Erzählt die Sache an sich! - ich
wusste alles, was ich jetzt weiß, ehe Albert kam; ich wusste, dass ich keine
Prätension an sie zu machen hatte, machte auch keine - das heißt, insofern
es möglich ist, bei so viel Liebenswürdigkeit nicht zu begehren - und
jetzt macht der Fratze große Augen, da der andere nun wirklich kommt und
ihm das Mädchen wegnimmt.
Ich beiße die Zähne auf
einander und spott über mein Elend, und spottete derer doppelt und
dreifach, die sagen könnten, ich sollte mich resignieren, und weil es nun
einmal nicht anders sein könnte. - schafft mir diese Strohmänner vom
Halse! - ich laufe in den Wäldern herum, und wenn ich zu Lotten komme, und
Albert bei ihr sitzt im Gärtchen unter der Laube, und ich nicht weiter
kann, so bin ich ausgelassen närrisch und fange viel Possen, viel
verwirrtes Zeug an. - "um Gottes willen", sagte mir Lotte heut, "ich
bitte Sie, keine Szene wie die von gestern abend! Sie sind fürchterlich,
wenn Sie so lustig sind". - Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu
tun hat; wutsch! Bin ich drauß, und da ist mir's immer wohl, wenn ich sie
allein finde.
Am 8. August
Ich bitte dich, lieber Wilhelm,
es war gewiss nicht auf dich geredet, wenn ich die Menschen unerträglich
schalt, die von uns Ergebung in unvermeidliche Schicksale fordern. Ich
dachte wahrlich nicht daran, dass du von ähnlicher Meinung sein könntest.
Und im Grunde hast du recht. Nur eins, mein Bester! In der Welt ist es
sehr selten mit dem Entweder-Oder getan; die Empfindungen und
Handlungsweisen schattieren sich so mannigfaltig, als Abfälle zwischen
einer Habichts - und Stumpfnase sind.
Du wirst mir also nicht
übelnehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einräume und mich doch
zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche.
Entweder, sagst du, hast du
Hoffnung auf Lotten, oder du hast keine. Gut, im ersten Fall suche sie
durchzutreiben, suche die Erfüllung deiner Wünsche zu umfassen: im anderen
Fall ermanne dich und suche einer elenden Empfindung los zu werden, die
alle deine Kräfte verzehren muss. - Bester! Das ist wohl gesagt, und - bald
gesagt.
Und kannst du von dem
Unglücklichen, dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit
unaufhaltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm verlangen, er solle
durch einen Dolchstoß der Qual auf einmal ein Ende machen? Und raubt das
Übel, das ihm die Kräfte verzehrt, ihm nicht auch zugleich den Mut, sich
davon zu befreien?
Zwar könntest du mir mit einem
verwandten Gleichnisse antworten: wer ließe sich nicht lieber den Arm
abnehmen, als dass er durch Zaudern und Zagen sein Leben aufs Spiel setzte?
- Ich weiß nicht! - Und wir wollen uns nicht in Gleichnissen herumbeißen.
Genug - ja, Wilhelm, ich habe manchmal so einen Augenblick aufspringenden,
abschüttelnden Muts, und da - wenn ich nur wüsste wohin, ich ginge wohl.
Abends
Mein Tagebuch, das ich seit
einiger Zeit vernachlässiget, fiel mir heut wieder in die Hände, und ich
bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das alles, Schritt vor Schritt,
hineingegangen bin! Wie ich über meinen Zustand immer so klar gesehen und
doch gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar sehe, und es noch
keinen Anschein zur Besserung hat.
Am 10. August
Ich könnte das beste,
glücklichste Leben führen, wenn ich nicht ein Tor wäre. So schöne Umstände
vereinigen sich nicht leicht, eines Menschen Seele zu ergetzen, als die
sind, in denen ich mich jetzt befinde. Ach so gewiss ist's, dass unser Herz
allein sein Glück macht. - ein Glied der liebenswürdigen Familie zu
sein, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie
ein Vater, und von Lotten! - dann der ehrliche Albert, der durch
keine launische Unart mein Glück stört; der mich mit herzlicher
Freundschaft umfasst; dem ich nach Lotten das Liebste auf der Welt bin! -
Wilhelm, es ist eine Freude, uns zu hören, wenn wir spazieren gehen und uns
einander von Lotten unterhalten: es ist in der Welt nichts Lächerlichers
erfunden worden als dieses Verhältnis, und doch kommen mir oft darüber die
Tränen in die Augen.
Wenn er mir von ihrer
rechtschaffenen Mutter erzählt: wie sie auf ihrem Todbette Lotten ihr Haus
und ihre Kinder übergeben und ihm Lotten anbefohlen habe, wie seit der
Zeit ein ganz anderer Geist Lotten belebt habe, wie sie, in der Sorge für
ihre Wirtschaft und in dem Ernste, eine wahre Mutter geworden, wie kein
Augenblick ihrer Zeit ohne tätige Liebe, ohne Arbeit verstrichen, und
dennoch ihre Munterkeit, ihr leichter Sinn sie nie dabei verlassen habe. -
Ich gehe so neben ihm hin und pflücke Blumen am Wege, füge sie sehr
sorgfältig in einen Strauß und - werfe sie in den vorüberfließenden Strom
und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen. - Ich weiß nicht, ob
ich dir geschrieben habe, dass Albert hier bleiben und ein Amt mit einem
artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist. In
Ordnung und Emsigkeit in Geschäften habe ich wenig seinesgleichen gesehen.
Am 12. August
Gewiß,
Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine
wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von ihm zu
nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten, von woher
ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe,
fallen mir seine Pistolen in die Augen. - "Borge mir die Pistolen", sagte
ich, "zu meiner Reise". - "Meinetwegen", sagte er, "wenn du dir die Mühe
nehmen willst, sie zu laden; bei mir hängen sie nur pro forma". - Ich nahm
eine herunter, und er fuhr fort: "seit mir meine Vorsicht einen so
unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun
haben". - Ich war neugierig, die Geschichte zu wissen. - "Ich hielt mich",
erzählte er, "wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf,
hatte ein paar Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem
regnichten Nachmittage, da ich müßig sitze, weiß ich nicht, wie mir
einfällt: wir könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerolen nötig
haben und könnten - du weißt ja, wie das ist. - ich gab sie dem Bedienten,
sie zu putzen und zu laden; und der dahlt mit den Mädchen, will sie
schrecken, und Gott weiß wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch
drin steckt, und schießt den Ladstock einem Mädchen zur Maus herein an der
rechten Hand und zerschlägt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentieren,
und die Kur zu bezahlen obendrein, und seit der Zeit lass' ich alles
Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht? Die Gefahr lässt sich
nicht auslernen! Zwar. - Nun weißt du, dass ich den Menschen sehr lieb habe
bis auf seine Zwar; denn versteht sich's nicht von selbst, dass jeder
allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch! Wenn
er glaubt, etwas Übereiltes, Allgemeines, Halbwahres gesagt zu haben, so
hört er dir nicht auf zu limitieren, zu modifizieren und ab - und zuzutun,
bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist.
Und bei diesem Anlass kam er
sehr tief in Text: ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in
Grillen, und mit einer auffahrenden Gebärde drückte ich mir die Mündung
der Pistole übers rechte Aug' an die Stirn. - "Pfui!" sagte Albert, indem
er mir die Pistole herabzog, "was soll das?" - "Sie ist nicht geladen",
sagte ich. - "Und auch so, was soll's?" versetzte er ungeduldig. "Ich kann
mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht sein kann, sich zu
erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen".
"Dass ihr Menschen", rief ich
aus, "um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müsst: 'das ist töricht,
das ist klug, das ist gut, das ist bös!' und was will das alles heißen?
Habt ihr deswegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht?
Wisst
ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum
sie geschehen musste? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit
euren Urteilen sein". "Du wirst mir zugeben", sagte Albert, "dass gewisse
Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen geschehen, aus welchem
Beweggrunde sie wollen". Ich zuckte die Achseln und gab's ihm zu. - "Doch,
mein Lieber", fuhr ich fort, "finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es
ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich und
die Seinigen vom gegenwärtigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht,
verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen
den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren
nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädchen, das in einer
wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert?
Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten, lassen sich rühren und
halten ihre Strafe zurück".
"Das ist ganz was anders",
versetzte Albert, "weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreißen,
alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger
angesehen wird". "Ach ihr vernünftigen Leute!" rief ich lächelnd aus.
"Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne
Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut
den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der
Pharisäer, dass er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin
mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom
Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem Maße
begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas
Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und
Wahnsinnige ausschreiten musste. Aber auch im gemeinen Leben ist's
unerträglich, fast einem jeden bei halbweg einer freien, edlen,
unerwarteten Tat nachrufen zu hören: ' der Mensch ist trunken, der ist
närrisch!' Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen!" "Das
sind nun wieder von deinen Grillen", sagte Albert, "du überspannst alles
und hast wenigstens hier gewiss unrecht, dass du den Selbstmord, wovon jetzt
die Rede ist, mit großen Handlungen vergleichst: da man es doch für nichts
anders als eine Schwäche halten kann. Denn freilich ist es leichter zu
sterben, als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen". Ich war im
Begriff abzubrechen; denn kein Argument bringt mich so aus der Fassung,
als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, wenn
ich aus ganzem Herzen rede.
Doch fasste ich mich, weil ich's
schon oft gehört und mich öfter darüber geärgert hatte, und versetzte ihm
mit einiger Lebhaftigkeit: "Du nennst das Schwäche? Ich bitte dich,
las
dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk, das unter dem unerträglichen
Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen, wenn es endlich
aufgärt und seine Ketten zerreißt? Ein Mensch, der über dem Schrecken,
dass
Feuer sein Haus ergriffen hat, alle Kräfte gespannt fühlt und mit
Leichtigkeit Lasten wegträgt, die er bei ruhigem Sinne kaum bewegen kann;
einer, der in der Wut der Beleidigung es mit sechsen aufnimmt und sie
überwältig, sind die schwach zu nennen? Und, mein Guter, wenn Anstrengung
Stärke ist, warum soll die Überspannung das Gegenteil sein?" - Albert sah
mich an und sagte: "nimm mir's nicht übel, die Beispiele, die du gibst,
scheinen hieher gar nicht zu gehören". - "Es mag sein", sagte ich, "man
hat mir schon öfters vorgeworfen, dass meine Kombinationsart manchmal an
Radotage grenze. Lasst uns denn sehen, ob wir uns auf eine andere Weise
vorstellen können, wie dem Menschen zu Mute sein mag, der sich
entschließt, die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Denn nur
insofern wir mitempfinden, haben wir die Ehre, von einer Sache zu reden".
"Die menschliche Natur", fuhr
ich fort, "hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf
einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen
ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist,
sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch
oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der
Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den
einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt".
"Paradox! Sehr paradox!" rief
Albert aus. - "Nicht so sehr, als du denkst", versetzte ich. "Du gibst mir
zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so
angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung
gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine
glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder
herzustellen fähig ist.
Nun, mein Lieber, las uns das
auf den Geist anwenden. Sich den Menschen an in seiner Eingeschränktheit,
wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich
eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn
zugrunde richtet.
Vergebens, dass der gelassene,
vernünftige Mensch den Zustand Unglücklichen übersieht, vergebens,
dass er
ihm zuredet! Ebenso wie ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm
von seinen Kräften nicht das geringste einflößen kann".
Alberten war das zu allgemein
gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit im
Wasser tot gefunden, und wiederholte ihm ihre Geschichte. - "Ein gutes,
junges Geschöpf, das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen,
wöchentlicher bestimmter Arbeit herangewachsen war, das weiter keine
Aussicht von Vergnügen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach
zusammengeschafften Putz mit ihresgleichen um die Stadt spazieren zu gehen,
vielleicht alle hohen Feste einmal zu tanzen und übrigens mit aller
Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils manche Stunde über den Anlass eines
Gezänkes, einer übeln Nachrede mit einer Nachbarin zu verplaudern - deren
feurige Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die
Schmeicheleien der Männer vermehrt werden; ihre vorigen Freuden werden ihr
nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu
dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun
alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich vergisst, nichts hört,
nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm,
dem Einzigen. Durch die leeren Vergnügungen einer unbeständigen Eitelkeit
nicht verdorben, zieht ihr Verlangen gerade nach dem Zweck, sie will die
Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all das Glück antreffen, das
ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genießen, nach denen sie sich
sehnte. Wiederholtes Versprechen, das ihr die Gewissheit aller Hoffnungen
versiegelt, kühne Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen
ganz ihre Seele; sie schwebt in einem dumpfen Bewusstsein, in einem
Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt, sie
streckt endlich ihre Arme aus, all ihre Wünsche zu umfassen - und ihr
Geliebter verlässt sie. - Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem
Abgrunde; alles ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost,
keine Ahnung! Denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein
fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die
vielen, die ihr de Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein,
verlassen von aller Welt, - und blind, in die Enge gepresst von der
entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem
rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken. - Sieh, Albert, das
ist die Geschichte so manches Menschen! Und sag', ist das nicht der Fall
der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der
verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muss sterben. Wehe
dem, der zusehen und sagen könnte: 'die Törin! Hätte sie gewartet, hätte
sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung würde sich schon gelegt, es
würde sich schon ein anderer sie zu trösten vorgefunden haben.' - Das ist
eben, als wenn einer sagte: 'der Tor, stirbt am Fieber! Hätte er gewartet,
bis seine Kräfte sich erholt, seine Säfte sich verbessert, der Tumult
seines Blutes sich gelegt hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte
bis auf den heutigen Tag! '"
Albert, dem die Vergleichung
noch nicht anschaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich
hätte nur von einem einfältigen Mädchen gesprochen; wie aber ein Mensch
von Verstande, der nicht so eingeschränkt sei, der mehr Verhältnisse
übersehe, zu entschuldigen sein möchte, könne er nicht begreifen. - "Mein
Freund", rief ich aus, "der Mensch ist Mensch, und das bisschen Verstand,
das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft
wütet und die Grenzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr - ein
andermal davon", sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz
so voll - und wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben.
Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.
Am 15. August
Es ist doch gewiss, dass in der Welt den Menschen nichts notwendig macht
als die Liebe. Ich fühl's an Lotten, dass sie mich ungern verlöre, und die
Kinder haben keinen andern Begriff, als dass ich immer morgen wiederkommen
würde. Heute war ich hinausgegangen, Lottens Klavier zu stimmen, ich
konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein
Märchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte ihnen den Willen tun. Ich
schnitt ihnen das Abendbrot, das sie nun fast so gern von mir als von
Lotten annehmen, und erzählte ihnen das Hauptstückchen von der Prinzessin,
die von Händen bedient wird. Ich lerne viel dabei, das versichre ich dich,
und ich bin erstaunt, was es auf sie für Eindrücke macht. Weil ich
manchmal einen Inzidentpunkt erfinden muss, den ich beim zweiten Mal
vergesse, sagen sie gleich, das vorige Mal wär' es anders gewesen, so
dass
ich mich jetzt übe, sie unveränderlich in einem singenden Silbenfall an
einem Schnürchen weg zu rezitieren. Ich habe daraus gelernt, wie ein Autor
durch eine zweite, veränderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie
poetisch noch so besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden
muss.
Der erste Eindruck findet uns willig, und der Mensch ist gemacht, dass man
ihn das Abenteuerlichste überreden kann; das haftet aber auch gleich so
fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!
Am 18. August
Musste denn das so sein, dass
das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines
Elendes würde?
Das volle, warme Gefühl meines
Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte,
das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu
einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf
allen Wegen verfolgt. Wenn ich sonst vom Felsen über den Fluss bis zu jenen
Hügeln das fruchtbare Tal überschaute und alles um mich her keimen und
quellen sah; wenn ich jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen,
dichten Bäumen bekleidet, jene Täler in ihren mannigfaltigen Krümmungen
von den lieblichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluss zwischen
den lispelnden Rohren dahingleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die
der sanfte Abendwind am Himmel herüberwiegte; wenn ich dann die Vögel um
mich den Wald beleben hörte, und die Millionen Mückenschwärme im letzten
roten Strahle der Sonne mutig tanzten, und ihr letzter zuckender Blick den
summenden Käfer aus seinem Grase befreite, und das Schwirren und Weben um
mich her mich auf den Boden aufmerksam machte, und das Moos, das meinem
harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das Geniste, das den dürren
Sandhügel hinunter wächst, mir das innere, glühende, heilige Leben der
Natur eröffnete: wie fasste ich das alles in mein warmes Herz, fühlte mich
in der überfließenden Fülle wie vergöttert, und die herrlichen Gestalten
der unendlichen Welt bewegten sich allbelebend in meiner Seele. Ungeheure
Berge umgaben mich, Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche stürzten
herunter, die Flüsse strömten unter mir, und Wald und Gebirg erklang; und
ich sah sie wirken und schaffen ineinander in den Tiefen der Erde, alle
die unergründlichen Kräfte; und nun über der Erde und unter dem Himmel
wimmeln die Geschlechter der mannigfaltigen Geschöpfe. Alles, alles
bevölkert mit tausendfachen Gestalten; und die Menschen dann sich in
Häuslein zusammen sichern und sich annisten und herrschen in ihrem Sinne
über die weite Welt! Armer Tor! Der du alles so gering achtest, weil du so
klein bist. - vom unzugänglichen Gebirge über die Einöde, die kein Fuß
betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der Geist des
Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn vernimmt und lebt. -
ach damals, wie oft habe ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der über
mich hin flog, zu dem Ufer des ungemessenen Meeres gesehnt, aus dem
schäumenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken
und nur einen Augenblick in der eingeschränkten Kraft meines Busens einen
Tropfen der Seligkeit des Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch
sich hervorbringt.
Bruder, nur die Erinnerung
jener Stunden macht mir wohl. Selbst diese Anstrengung, jene unsäglichen
Gelüste zurückzurufen, wieder auszusprechen, hebt meine Seele über sich
selbst und lässt mich dann das Bange des Zustandes doppelt empfinden, der
mich jetzt umgibt.
Es hat sich vor meiner Seele
wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens
verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du
sagen: Das ist! Da alles vorübergeht? Da alles mit der Wetterschnelle
vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in
den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da
ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich
her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein musst; der
harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es
zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine
kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! Nicht die große, seltne Not der
Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure
Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende
Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat,
das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich
beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe
nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.
Am 21. August
Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von
schweren Träumen aufdämmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem
Bette, wenn mich ein glücklicher, unschuldiger Traum getäuscht hat, als
säß' ich neben ihr auf der Wiese und hielt' ihre Hand und deckte sie mit
tausend Küssen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des Schlafes nach
ihr tappe und drüber mich ermuntere - ein Strom von Tränen bricht aus
meinem gepressten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft
entgegen.
Am 22. August
Es ist ein Unglück, Wilhelm, meine tätigen Kräfte sind zu einer
unruhigen Lässigkeit verstimmt, ich kann nicht müßig sein und kann doch
auch nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der
Natur, und die Bücher ekeln mich an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns
doch alles. Ich schwöre dir, manchmal wünschte ich, ein Tagelöhner zu
sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den künftigen
Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Oft beneide ich Alberten, den
ich über die Ohren in Akten begraben sehe, und bilde mir ein, mir wäre
wohl, wenn ich an seiner Stelle wäre! Schon etliche Mal ist mir's so
aufgefahren, ich wollte dir schreiben und dem Minister, um die Stelle bei
der Gesandtschaft anzuhalten, die, wie du versicherst, mir nicht versagt
werden würde. Ich glaube es selbst. Der Minister liebt mich seit langer
Zeit, hatte lange mir angelegen, ich sollte mich irgendeinem Geschäfte
widmen; und eine Stunde ist mir's auch wohl drum zu tun. Hernach, wenn ich
wieder dran denke und mir die Fabel vom Pferde einfällt, das, seiner
Freiheit ungeduldig, sich Sattel und Zeug auflegen lässt und zuschanden
geritten wird - ich weiß nicht, was ich soll. - und, mein Lieber! Ist
nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine
innere, unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird?
Am 28. August
Es ist wahr, wenn meine
Krankheit zu heilen wäre, so würden diese Menschen es tun. Heute ist mein
Geburtstag, und in aller Frühe empfange ich ein Päckchen von Alberten. Mir
fällt beim Eröffnen sogleich eine der blassroten Schleifen in die Augen,
die Lotte vor hatte, als ich sie kennen lernte, und um die ich sie seither
etliche Mal gebeten hatte. Es waren zwei Büchelchen in Duodez dabei, der
kleine Wetsteinische Homer, eine Ausgabe, nach der ich so oft verlangt, um
mich auf dem Spaziergange mit dem Ernestischen nicht zu schleppen. Sieh!
So kommen sie meinen Wünschen zuvor, so suchen sie alle die kleinen
Gefälligkeiten der Freundschaft auf, die tausendmal werter sind als jene
blendenden Geschenke, wodurch uns die Eitelkeit des Gebers erniedrigt. Ich
küsse diese Schleife tausendmal, und mit jedem Atemzuge schlürfe ich die
Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit denen mich jene wenigen,
glücklichen, unwiederbringlichen Tage überfüllten. Wilhelm, es ist so, und
ich murre nicht, die Blüten des Lebens sind nur Erscheinungen! Wie viele
gehn vorüber, ohne eine Spur hinter sich zu lassen, wie wenige setzen
Frucht an, und wie wenige dieser Früchte werden reif! Und doch sind deren
noch genug da; und doch - o mein Bruder! - können wir gereifte Früchte
vernachlässigen, verachten, ungenossen verfaulen lassen?
Lebe wohl! Es ist ein
herrlicher Sommer; ich sitze oft auf den Obstbäumen in Lottens Baumstück
mit dem Obstbrecher, der langen Stange, und hole die Birnen aus dem
Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab, wenn ich sie ihr herunterlasse.
Am 30. August
Unglücklicher! Bist du nicht
ein Tor? Betriegst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose
Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft
erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um
mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so
manche glückliche Stunde - bis ich mich wieder von ihr losreißen
muss! Ach
Wilhelm! Wozu mich mein Herz oft drängt! - wenn ich bei ihr gesessen bin,
zwei, drei Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem
himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun nach und nach alle
meine Sinne aufgespannt werden, mir es düster vor den Augen wird, ich kaum
noch höre, und es mich an die Gurgel fasst wie ein Meuchelmörder, dann mein
Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen sucht und
ihre Verwirrung nur vermehrt - Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der
Welt bin! Und - wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt und
Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung
auszuweinen, - so muss ich fort, muss hinaus, und schweife dann weit im
Felde umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch
einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die
mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir's etwas
besser! Etwas! Und wenn ich vor Müdigkeit und Durst manchmal unterwegs
liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über
mir steht, im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze,
um meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und dann
in einer ermattenden Ruhe in dem Dämmerschein hinschlummre! O Wilhelm! Die
einsame Wohnung einer Zelle, das härene Gewand und der Stachelgürtel wären
Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu! Ich sehe dieses Elendes
kein Ende als das Grab.
Am 3. September
Ich muss fort! Ich danke dir,
Wilhelm, dass du meinen wankenden Entschluss bestimmt hast. Schon vierzehn
Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muss fort. Sie ist
wieder in der Stadt bei einer Freundin. Und Albert - und - ich muss fort!
Am 10. September
Das war eine Nacht! Wilhelm!
Nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn! O dass ich nicht
an deinen Hals fliegen, dir mit tausend Tränen und Entzückungen ausdrücken
kann, mein Bester, die Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sitze
ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen,
und mit Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.
Ach, sie schläft ruhig und
denkt nicht, dass sie mich nie wieder sehen wird. Ich habe mich
losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem Gespräch von zwei Stunden
mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott, welch ein Gespräch!
Albert hatte mir versprochen,
gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im Garten zu sein. Ich stand auf der
Terrasse unter den hohen Kastanienbäumen und sah der Sonne nach, die mir
nun zum letzten Male über dem lieblichen Tale, über dem sanften
Fluss
unterging. So oft hatte ich hier gestanden mit ihr und eben dem herrlichen
Schauspiele zugesehen, und nun - ich ging in der Allee auf und ab, die mir
so lieb war; ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft
gehalten, ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als wir im
Anfang unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem
Plätzchen entdeckten, das wahrhaftig eins von den romantischsten ist, die
ich von der Kunst hervorgebracht gesehen habe.
Erst hast du zwischen den
Kastanienbäumen die weite Aussicht - Ach, ich erinnere mich, ich habe dir,
denk' ich, schon viel davon geschrieben, wie hohe Buchenwände einen
endlich einschließen und durch ein daranstoßendes Boskett die Allee immer
düsterer wird, bis zuletzt alles sich in ein geschlossenes Plätzchen
endigt, das alle Schauer der Einsamkeit umschweben. Ich fühle es noch, wie
heimlich mir's ward, als ich zum ersten Male an einem hohen Mittage
hineintrat; ich ahnete ganz leise, was für ein Schauplatz das noch werden
sollte von Seligkeit und Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe
Stunde in den schmachtenden, süßen Gedanken des Abscheidens, des
Wiedersehens geweidet, als ich sie die Terrasse heraufsteigen hörte. Ich
lief ihnen entgegen, mit einem Schauer fasste ich ihre Hand und küsste sie.
Wir waren eben heraufgetreten, als der Mond hinter dem buschigen Hügel
aufging; wir redeten mancherlei und kamen unvermerkt dem düstern Kabinette
näher. Lotte trat hinein und setzte sich, Albert neben sie, ich auch; doch
meine Unruhe ließ mich nicht lange sitzen; ich stand auf, trat vor sie,
ging auf und ab, setzte mich wieder: es war ein ängstlicher Zustand. Sie
machte uns aufmerksam auf die schöne Wirkung des Mondenlichtes, das am
Ende der Buchenwände die ganze Terrasse vor uns erleuchtete: ein
herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns rings eine
tiefe Dämmerung einschloss. Wir waren still, und sie fing nach einer Weile
an: "niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals, dass mir nicht
der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, dass nicht das Gefühl von Tod,
von Zukunft über mich käme". "Wir werden sein!" fuhr sie mit der Stimme
des herrlichsten Gefühls fort; "aber, Werther, sollen wir uns wieder
finden? Wieder erkennen? Was ahnen Sie? Was sagen Sie?"
"Lotte", sagte ich, indem ich
ihr die Hand reichte und mir die Augen voll Tränen wurden, "wir werden uns
wiedersehn! Hier und dort wiedersehn!" - ich konnte nicht weiter reden -
Wilhelm, musste sie mich das fragen, da ich diesen ängstlichen Abschied im
Herzen hatte!
"Und ob die lieben
Abgeschiednen von uns wissen", fuhr sie fort, "ob sie fühlen, wann's uns
wohl geht, dass wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern? O! Die Gestalt
meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn ich am stillen Abend unter ihren
Kindern, unter meinen Kindern sitze und sie um mich versammelt sind, wie
sie um sie versammelt waren. Wenn ich dann mit einer sehnenden Träne gen
Himmel sehe und wünsche, dass sie hereinschauen könnte einen Augenblick,
wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der des Todes gab: die Mutter
ihrer Kinder zu sein. Mit welcher Empfindung rufe ich aus: 'verzeihe mir's,
Teuerste, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! Tue ich doch
alles, was ich kann; sind sie doch gekleidet, genährt, ach, und, was mehr
ist als das alles, gepflegt und geliebt. Könntest du unsere Eintracht
sehen, liebe Heilige! Du würdest mit dem heißesten Danke den Gott
verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Tränen um die Wohlfahrt
deiner Kinder batest.'" - Sie sagte das! O Wilhelm, wer kann wiederholen,
was sie sagte! Wie kann der kalte, tote Buchstabe diese himmlische Blüte
des Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft in die Rede: "es greift zu
stark an, liebe Lotte! Ich weiß, Ihre Seele hängt sehr nach diesen Ideen,
aber ich bitte Sie". - "O Albert", sagte sie, "ich weiß, du vergissest
nicht die Abende, da wir zusammensaßen an dem kleinen, runden Tischchen,
wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten.
Du hattest oft ein gutes Buch und kannst so selten dazu, etwas zu lesen -
war der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles? Die schöne,
sanfte, muntere und immer tätige Frau! Gott kennt meine Tränen, mit denen
ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er möchte mich ihr gleich
machen".
"Lotte!" rief ich aus, indem
ich mich vor sie hinwarf, ihre Hand nahm und mit tausend Tränen netzte,
"Lotte! Der Segen Gottes ruht über dir und der Geist deiner Mutter!" "Wenn
Sie sie gekannt hätten", sagte sie, indem sie mir die Hand drückte, - "sie
war wert, von Ihnen gekannt zu sein!" - ich glaubte zu vergehen.
Nie war ein größeres, stolzeres
Wort über mich ausgesprochen worden - und sie fuhr fort: "und diese Frau
musste in der Blüte ihrer Jahre dahin, da ihr jüngster Sohn nicht sechs
Monate alt war! Ihre Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig,
hingegeben, nur ihre Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie es
gegen das Ende ging und sie zu mir sagte: 'bringe mir sie herauf!' und wie
ich sie hereinführte, die kleinen, die nicht wussten, und die ältesten, die
ohne Sinne waren, wie sie ums Bette standen, und wie sie die Hände aufhob
und über sie betete, und sie küsste nach einander und sie wegschickte und
zu mir sagte: 'sei ihre Mutter!' - Ich gab ihr die Hand drauf! - 'Du
versprichst viel, meine Tochter', sagte sie, 'das Herz einer Mutter und
das Aug' einer Mutter. Ich habe oft an deinen dankbaren Tränen gesehen,
dass du fühlst, was das sei. Habe es für deine Geschwister, und für deinen
Vater die Treue und den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trösten.' - Sie
fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu
verbergen, den er fühlte, der Mann war ganz zerrissen.
Albert, du warst im Zimmer. Sie
hörte jemand gehn und fragte und forderte dich zu sich, und wie sie dich
ansah und mich, mit dem getrösteten, ruhigen Blicke, dass wir glücklich
sein, zusammen glücklich sein würden". - Albert fiel ihr um den Hals und
küsste sie und rief: "wir sind es! Wir werden es sein!" - der ruhige Albert
war ganz aus seiner Fassung, und ich wusste nichts von mir selber.
"Werther", fing sie an, "und diese Frau sollte dahin sein! Gott! Wenn ich
manchmal denke, wie man das Liebste seines Lebens wegtragen lässt, und
niemand als die Kinder das so scharf fühlt, die sich noch lange beklagten,
die schwarzen Männer hätten die Mama weggetragen! "sie stand auf, und ich
ward erweckt und erschüttert, blieb sitzen und hielt ihre Hand. - "Wir
wollen fort", sagte sie, "es wird Zeit". - Sie wollte ihre Hand
zurückziehen, und ich hielt sie fester. - "wir werden uns wieder sehen"
rief ich, "wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns
erkennen. Ich gehe", fuhr ich fort, "ich gehe willig, und doch, wenn ich
sagen sollte auf ewig, ich würde es nicht aushalten. Leb' wohl, Lotte!
Leb' wohl, Albert! Wir sehn uns wieder". - "Morgen, denke ich", versetzte
sie scherzend. - Ich fühlte das Morgen! Ach, sie wusste nicht, als sie ihre
Hand aus der meinen zog - Sie gingen die Allee hinaus, ich stand, sah
ihnen nach im Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus
und sprang auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im
Schatten der hohen Lindenbäume ihr weißes Kleid nach der Gartentür
schimmern, ich streckte meine Arme aus, und es verschwand.
Am 20. Oktober 1771
Gestern sind wir hier
angelangt. Der Gesandte ist unpass und wird sich also einige Tage
einhalten. Wenn er nur nicht so unhold wäre, wär' alles gut. Ich
merke, ich merke, das Schicksal hat mir harte Prüfungen zugedacht.
Doch guten Muts! Ein leichter Sinn trägt alles! Ein leichter Sinn?
Das macht mich zu lachen, wie das Wort in meine Feder kommt. O ein
bisschen leichteres Blut würde mich zum Glücklichsten unter der
Sonne machen. Was! Da, wo andere mit ihrem bisschen Kraft und Talent
vor mir in behaglicher Selbstgefälligkeit herumschwadronieren,
verzweifle ich an meiner Kraft, an meinen Gaben? Guter Gott, der du
mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht die Hälfte zurück
und gabst mir Selbstvertrauen und Genügsamkeit?
Geduld! Geduld! Es wird
besser werden. Denn ich sage dir, Lieber, du hast recht. Seit ich
unter dem Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was sie tun
und wie sie's treiben, stehe ich viel besser mit mir selbst. Gewiß,
weil wir doch einmal so gemacht sind, dass wir alles mit uns und uns
mit allem vergleichen, so liegt Glück oder Elend in den
Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts
gefährlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch ihre
Natur gedrungen sich zu erheben, durch die phantastischen Bilder der
Dichtkunst genährt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das
unterste sind und alles außer uns herrlicher erscheint, jeder andere
vollkommner ist. Und das geht ganz natürlich zu. Wir fühlen so oft,
dass uns manches mangelt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft
ein anderer zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir
haben, und noch eine gewisse idealistische Behaglichkeit dazu. Und
so ist der Glückliche vollkommen fertig, das Geschöpf unserer
selbst.
Dagegen, wenn wir mit all
unserer Schwachheit und Mühseligkeit nur gerade fortarbeiten, so
finden wir gar oft, dass wir mit unserem Schlendern und Lavieren es
weiter bringen als andere mit ihrem Segeln und Rudern - und - das
ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man andern gleich
oder gar vorläuft.
Am 26. November
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier zu befinden. Das
beste ist, dass es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei
Menschen, die allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes
Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den Grafen C... kennen lernen,
einen Mann, den ich jeden Tag mehr verehren muss, einen weiten,
großen Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel
übersieht; aus dessen Umgange so viel Empfindung für Freundschaft
und Liebe hervorleuchtet. Er nahm teil an mir, als ich einen
Geschäftsauftrag an ihn ausrichtete und er bei den ersten Worten
merkte, dass wir uns verstanden, dass er mit mir reden konnte wie
nicht mit jedem. Auch kann ich sein offnes Betragen gegen mich nicht
genug rühmen. So eine wahre, warme Freude ist nicht in der Welt, als
eine große Seele zu sehen, die sich gegen einen öffnet.
Am 24. Dezember
Der Gesandte macht mir
viel Verdruss, ich habe es vorausgesehn. Er ist der pünktlichste
Narr, den es nur geben kann; Schritt vor Schritt und umständlich wie
eine Base; ein Mensch, der nie mit sich selbst zufrieden ist, und
dem es daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern leicht
weg, und wie es steht, so steht es; da ist er imstande, mir einen
Aufsatz zurückzugeben und zu sagen: "er ist gut, aber sehen Sie ihn
durch, man findet immer ein besseres Wort, eine reinere Partikel." -
Da möchte ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindewörtchen darf
außen bleiben, und von allen Inversionen, die mir manchmal
entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Period nicht nach
der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts
drin. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen
von C... ist noch das einzige, was mich schadlos hält. Er sagte mir
letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden er mit der Langsamkeit und
Bedenklichkeit meines Gesandten sei. Die Leute erschweren es sich
und andern. "Doch," sagte er, "man muss sich darein resignieren wie
ein Reisender, der über einen Berg muss; freilich, wäre der Berg
nicht da, so wär der Weg viel bequemer und kürzer; er ist nun aber
da, und man soll hinüber!"
Mein Alter spürt auch
wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm gibt, und das ärgert ihn,
und er ergreift jede Gelegenheit, Übels gegen mich vom Grafen zu
reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die
Sache nur schlimmer. Gestern gar brachte er mich auf, denn ich war
mit gemeint: zu so Weltgeschäften sei der Graf ganz gut, er habe
viele Leichtigkeit zu arbeiten und führe eine gute Feder, doch an
gründlicher Gelehrsamkeit mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu
machte er eine Miene, als ob er sagen wollte: "fühlst du den Stich?"
Aber es tat bei mir nicht die Wirkung; ich verachtete den Menschen,
der so denken und sich so betragen konnte. Ich hielt ihm stand und
focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich sagte, der Graf sei ein Mann,
vor dem man Achtung haben müsse, wegen seines Charakters sowohl als
wegen seiner Kenntnisse." "Ich habe," sagt' ich, "niemand gekannt,
dem es so geglückt wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über
unzählige Gegenstände zu verbreiten und doch diese Tätigkeit fürs
gemeine Leben zu behalten." - das waren dem Gehirne spanische
Dörfer, und ich empfahl mich, um nicht über ein weiteres
Deraisonnement noch mehr Galle zu schlucken.
Und daran seid ihr alle
schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt und mir so viel von
Aktivität vorgesungen habt. Aktivität! Wenn nicht der mehr tut, der
Kartoffeln legt und in die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als
ich, so will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere abarbeiten,
auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend,
die Langeweile unter dem garstigen Volke, das sich hier neben
einander sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und
aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen; die elendesten,
erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen. Da ist ein Weib,
zum Exempel, die jedermann von ihrem Adel und ihrem Lande unterhält,
so dass jeder Fremde denken muss: das ist eine Närrin, die sich auf
das bisschen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche
einbildet. - Aber es ist noch viel Ärger: eben das Weib ist hier aus
der Nachbarschaft eine Amtschreiberstochter. - Sieh, ich kann das
Menschengeschlecht nicht begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich
so platt zu prostituieren.
Zwar ich merke täglich
mehr, mein Lieber, wie töricht man ist, andere nach sich zu
berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu tun habe und
dieses Herz so stürmisch ist - ach ich lasse gern die andern ihres
Pfades gehen, wenn sie mich auch nur könnten gehen lassen.
Was mich am meisten
neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weiß ich so
gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wie viel
Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade
im Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Glück auf dieser Erde genießen könnte. Ich lernte neulich auf dem
Spaziergange ein Fräulein von B. kennen, ein liebenswürdiges
Geschöpf, das sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben erhalten
hat. Wir gefielen uns in unserem Gespräche, und da wir schieden, bat
ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen zu dürfen. Sie gestattete
mir das mit so vieler Freimütigkeit, dass ich den schicklichen
Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von
hier und wohnt bei einer Tante im Hause. Die Physiognomie der Alten
gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein
Gespräch war meist an sie gewandt, und in minder als einer halben
Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräulein nachher
selbst gestand: dass die liebe Tante in ihrem Alter Mangel von
allem, kein anständiges Vermögen, keinen Geist und keine Stütze hat
als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als den Stand, in den
sie sich verpalisadiert, und kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk
herab über die bürgerlichen Häupter wegzusehen. In ihrer Jugend soll
sie schön gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst mit ihrem
Eigensinne manchen armen Jungen gequält, und in den reifern Jahren
sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben, der
gegen diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne
Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb. Nun sieht sie im eisernen
sich allein und würde nicht angesehn, wär' ihre Nichte nicht so
liebenswürdig.
Den 8. Januar 1772
Was das für Menschen
sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht, deren Dichten und
Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen Stuhl weiter hinauf
bei Tische Angelegenheit hätten: nein, vielmehr häufen sich die
Arbeiten, eben weil man über den kleinen Verdrießlichkeiten von
Beförderung der wichtigen Sachen abgehalten wird. Vorige Woche gab
es bei der Schlittenfahrt Händel, und der ganze Spaß wurde
verdorben.
Die Toren, die nicht
sehen, dass es eigentlich auf den Platz gar nicht ankommt, und dass
der, der den ersten hat, so selten die erste Rolle spielt! Wie
mancher König wird durch seinen Minister, wie mancher Minister durch
seinen Sekretär regiert! Und wer ist dann der Erste? Der, dünkt
mich, der die andern übersieht und so viel Gewalt oder List hat,
ihre Kräfte und Leidenschaften zu Ausführung seiner Plane
anzuspannen.
Am 20. Januar
Ich muss Ihnen schreiben,
liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen Bauernherberge, in die
ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet habe. Solange ich in
dem traurigen Nest D..., unter dem fremden, meinem Herzen ganz
fremden Volke herumziehe, habe ich keinen Augenblick gehabt, keinen,
an dem mein Herz mich geheißen hätte, Ihnen zu schreiben; und jetzt
in dieser Hütte, in dieser Einsamkeit, in dieser Einschränkung, da
Schnee und Schloßen wider mein Fensterchen wüten, hier waren Sie
mein erster Gedanke. Wie ich hereintrat, überfiel mich Ihre Gestalt,
Ihr Andenken, o Lotte! So heilig, so warm! Guter Gott! Der erste
glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich sähen,
meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetrocknet meine
Sinne werden! Nicht einen Augenblick der Fülle des Herzens, nicht
eine selige Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe wie vor einem
Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen vor mir
herumrücken, und frage mich oft, ob es nicht optischer Betrug ist.
Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette und
fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere
zurück. Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genießen,
und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des
Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht
recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen gehe.
Der Sauerteig, der mein
Leben in Bewegung setzte, fehlt; der Reiz, der mich in tiefen
Nächten munter erhielt, ist hin, der mich des Morgens aus dem
Schlafe weckte, ist weg.
Ein einzig weibliches
Geschöpf habe ich hier gefunden, eine Fräulein von B..., sie gleicht
Ihnen, liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann." "Ei!" werden Sie
sagen, "der Mensch legt sich auf niedliche Komplimente!" ganz unwahr
ist es nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr artig, weil ich doch
nicht anders sein kann, habe viel Witz, und die Frauenzimmer sagen,
es wüsste niemand so fein zu loben als ich (und zu lügen, setzen Sie
hinzu, denn ohne das geht es nicht ab, verstehen Sie?). Ich wollte
von Fräulein B... reden. Sie hat viel Seele, die voll aus ihren
blauen Augen hervorblickt. Ihr Stand ist ihr zur Last, der keinen
der Wünsche ihres Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus dem
Getümmel, und wir verphantasieren manche Stunde in ländlichen Szenen
von ungemischter Glückseligkeit; ach! und von Ihnen! Wie oft muss
sie Ihnen huldigen, muss nicht, tut es freiwillig, hört so gern von
Ihnen, liebt Sie. - O säß' ich zu Ihren Füßen in dem lieben,
vertraulichen Zimmerchen, und unsere kleinen Lieben wälzten sich mit
einander um mich herum, und wenn sie Ihnen zu laut würden, wollte
ich sie mit einem schauerlichen Märchen um mich zur Ruhe versammeln.
Die Sonne geht herrlich
unter über der schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist hinüber
gezogen, und ich - muss mich wieder in meinen Käfig sperren. -
Adieu! Ist Albert bei Ihnen? Und wie - ? Gott verzeihe mir diese
Frage!
Den 8. Februar
Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste Wetter, und mir ist
es wohltätig. Denn so lang ich hier bin, ist mir noch kein schöner
Tag am Himmel erschienen, den mir nicht jemand verdorben oder
verleidet hätte. Wenn's nun recht regnet und stöbert und fröstelt
und taut: ha! Denk' ich, kann's doch zu Hause nicht schlimmer
werden, als es draußen ist, oder umgekehrt, und so ist's gut. Geht
die Sonne des Morgens auf und verspricht einen feinen Tag, erwehr'
ich mir niemals auszurufen: da haben sie doch wieder ein himmlisches
Gut, worum sie einander bringen können! Es ist nichts, worum sie
einander nicht bringen. Gesundheit, guter Name, Freudigkeit,
Erholung! Und meist aus Albernheit, Unbegriff und Enge und, wenn man
sie anhört, mit der besten Meinung. Manchmal möcht' ich sie auf den
Knien bitten, nicht so rasend in ihre eigenen Eingeweide zu wüten.
Am 17. Februar
Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht mehr
lange aus. Der Mann ist ganz und gar unerträglich. Seine Art zu
arbeiten und Geschäfte zu treiben ist so lächerlich, dass ich mich
nicht enthalten kann, ihm zu widersprechen und oft eine Sache nach
meinem Kopf und meiner Art zu machen, das ihm denn, wie natürlich,
niemals recht ist. Darüber hat er mich neulich bei Hofe verklagt,
und der Minister gab mir einen zwar sanften Verweis, aber es war
doch ein Verweis, und ich stand im Begriffe, meinen Abschied zu
begehren, als ich einen Privatbrief von ihm erhielt, einen Brief,
vor dem ich niedergekniet, und den hohen, edlen, weisen Sinn
angebetet habe. Wie er meine allzu große Empfindlichkeit
zurechtweiset, wie er meine überspannten Ideen von Wirksamkeit, von
Einfluss auf andere, von Durchdringen in Geschäften als jugendlichen
guten Mut zwar ehrt, sie nicht auszurotten, nur zu mildern und dahin
zu leiten sucht, wo sie ihr wahres Spiel haben, ihre kräftige
Wirkung tun können. Auch bin ich auf acht Tage gestärkt und in mir
selbst einig geworden. Die Ruhe der Seele ist ein herrliches Ding
und die Freude an sich selbst. Lieber Freund, wenn nur das Kleinod
nicht eben so zerbrechlich wäre, als es schön und kostbar ist.
Am 20. Februar
Gott segne euch, meine
Lieben, geb' euch alle die guten Tage, die er mir abzieht!
Ich danke dir, Albert,
dass du mich betrogen hast: ich wartete auf Nachricht, wann euer
Hochzeitstag sein würde, und hatte mir vorgenommen, feierlichst an
demselben Lottens Schattenriss von der Wand zu nehmen und ihn unter
andere Papiere zu begraben. Nun seid ihr ein Paar, und ihr Bild ist
noch hier! Nun, so soll es bleiben! Und warum nicht? Ich weiß, ich
bin ja auch bei euch, bin dir unbeschadet in Lottens Herzen, habe,
ja ich habe den zweiten Platz darin und will und muss ihn behalten.
O ich würde rasend werden, wenn sie vergessen könnte - Albert, in
dem Gedanken liegt eine Hölle. Albert, leb' wohl! Leb' wohl, Engel
des Himmels! Leb' wohl, Lotte!
Den 15. März
Ich habe einen Verdruss
gehabt, der mich von hier wegtreiben wird. Ich knirsche mit den
Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersetzen, und ihr seid doch allein
schuld daran, die ihr mich sporntet und treibt und quältet, mich in
einen Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war. Nun habe
ich's! Nun habt ihr's! Und dass du nicht wieder sagst, meine
überspannten Ideen verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr,
eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das
aufzeichnen würde.
Der Graf von C... liebt
mich, distinguiert mich, das ist bekannt, das habe ich dir schon
hundertmal gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu Tafel, eben an dem
Tage, da abends die noble Gesellschaft von Herren und Frauen bei ihm
zusammenkommt, an die ich nie gedacht habe, auch mir nie aufgefallen
ist, dass wir Subalternen nicht hineingehören. Gut. Ich speise bei
dem Grafen, und nach Tische gehn wir in dem großen Saal auf und ab,
ich rede mit ihm, mit dem Obristen B..., der dazu kommt, und so
rückt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weiß, an
nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S... mit ihrem
Herrn Gemahl und wohl ausgebrüteten Gänslein Tochter mit der flachen
Brust und niedlichem Schnürleibe, machen en passant ihre
hergebrachten, hochadeligen Augen und Naslöcher, und wie mir die
Nation von Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und
wartete nur, bis der Graf vom garstigen Gewäsche frei wäre, als
meine Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer ein bisschen
aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter
ihren Stuhl und bemerkte erst nach einiger Zeit, dass sie mit
weniger Offenheit als sonst, mit einiger Verlegenheit mit mir
redete. Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all das Volk, dacht' ich,
und war angestochen und wollte gehen, und doch blieb ich, weil ich
sie gerne entschuldigt hätte und es nicht glaubte und noch ein gut
Wort von ihr hoffte und - was du willst. Unterdessen füllte sich die
Gesellschaft. Der Baron F. mit der ganzen Garderobe von den
Krönungszeiten Franz des Ersten her, der Hofrat R..., hier aber in
qualitate Herr von R... genannt, mit seiner tauben Frau etc., den
Übel fournierten J... nicht zu vergessen, der die Lücken seiner
altfränkischen Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt, das
kommt zu Hauf, und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft, die
alle sehr lakonisch sind. Ich dachte - und gab nur auf meine B...
acht. Ich merkte nicht, dass die Weiber am Ende des Saales sich in
die Ohren flüsterten, dass es auf die Männer zirkulierte, dass Frau
von S. mit dem Grafen redete (das alles hat mir Fräulein B. nachher
erzählt), bis endlich der Graf auf mich losging und mich in ein
Fenster nahm. - "Sie wissen", sagt' er, "unsere wunderbaren
Verhältnisse; die Gesellschaft ist unzufrieden, merkte ich, Sie hier
zu sehn. Ich wollte nicht um alles" - "Ihro Exzellenz," fiel ich
ein, "ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich hätte eher dran denken
sollen, und ich weiß, Sie vergeben mir diese Inkonsequenz; ich
wollte schon vorhin mich empfehlen. Ein böser Genius hat mich
zurückgehalten." Setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich neigte.
- Der Graf drückte meine Hände mit einer Empfindung, die alles
sagte. Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging,
setzte mich in ein Kabriolett und fuhr nach M., dort vom Hügel die
Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer den herrlichen
Gesang zu lesen, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten
bewirtet wird. Das war alles gut.
Des Abends komm' ich
zurück zu Tische, es waren noch wenige in der Gaststube; die
würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch zurückgeschlagen. Da
kommt der ehrliche Adelin hinein, legt seinen Hut nieder, indem er
mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise: "du hast Verdruss
gehabt?" - "Ich?" sagt' ich. - "Der Graf hat dich aus der
Gesellschaft gewiesen." - "Hol' sie der Teufel!" sagt' ich, "mir
war's lieb, dass ich in die freie Luft kam." - "Gut," sagt' er,
"dass du's auf die leichte Achsel nimmst. Nur verdrießt mich's, es
ist schon überall herum." - Da fing mich das Ding erst an zu wurmen.
Alle, die zu Tisch kamen und mich ansahen, dachte ich, die sehen
dich darum an! Das gab böses Blut.
Und da man nun heute gar,
wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre, dass meine Neider nun
triumphieren und sagen: da sähe man's, wo es mit den Übermütigen
hinausginge, die sich ihres bisschen Kopfs überhöben und glaubten,
sich darum über alle Verhältnisse hinaussetzen zu dürfen, und was
des Hundegeschwätzes mehr ist - da möchte man sich ein Messer ins
Herz bohren; denn man rede von Selbständigkeit was man will, den
will ich sehen, der dulden kann, dass Schurken über ihn reden, wenn
sie einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr Geschwätze leer ist, ach
da kann man sie leicht lassen.
Am 16. März
Es hetzt mich alles.
Heut' treff' ich die Fräulein B... in der Allee, ich konnte mich
nicht enthalten, sie anzureden und ihr, sobald wir etwas entfernt
von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr neuliches
Betragen zu zeigen. - "O Werther," sagte sie mit einem innigen Tone,
"konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie mein Herz kennen?
Was ich gelitten habe um Ihretwillen, von dem Augenblicke an, da ich
in den Saal trat! Ich sah alles voraus, hundertmal saß mir's auf der
Zunge, es Ihnen zu sagen. Ich wusste, dass die von S... und T... mit
ihren Männern eher aufbrechen würden, als in Ihrer Gesellschaft zu
bleiben; ich wusste, dass der Graf es mit ihnen nicht verderben
darf, - und jetzt der Lärm!" - "wie, Fräulein?" sagt' ich und
verbarg meinen Schrecken; denn alles, was Adelin mir ehe gestern
gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch die Adern in diesem
Augenblicke. - "Was hat mich es schon gekostet!" sagte das süße
Geschöpf, indem ihr die Tränen in den Augen standen. - Ich war
nicht Herr mehr von mir selbst, war im Begriffe, mich ihr zu Füßen
zu werfen. - "Erklären Sie sich!" rief ich. - Die Tränen liefen ihr
die Wangen herunter. Ich war außer mir. Sie trocknete sie ab, ohne
sie verbergen zu wollen. - "Meine Tante kennen Sie," fing sie an,
"sie war gegenwärtig und hat - o, mit was für Augen hat sie das
angesehen! Werther, ich habe gestern Nacht ausgestanden und heute
früh eine Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müssen
zuhören Sie herabsetzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur
halb verteidigen." Jedes Wort, das sie sprach, ging mir wie ein
Schwert durchs Herz. Sie fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es
gewesen wäre, mir das alles zu verschweigen, und nun fügte sie noch
hinzu, was weiter würde geträtscht werden, was eine Art Menschen
darüber triumphieren würde.
Wie man sich nunmehr über
die Strafe meines Übermuts und meiner Geringschätzung anderer, die
sie mir schon lange vorwerfen, kitzeln und freuen würde. Das alles,
Wilhelm, von ihr zu hören, mit der Stimme der wahrsten Teilnehmung -
ich war zerstört und bin noch wütend in mir. Ich wollte, dass sich
einer unterstünde, mir's vorzuwerfen, dass ich ihm den Degen durch
den Leib stoßen könnte; wenn ich Blut sähe, würde mir's besser
werden. Ach, ich hab' hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem
gedrängten Herzen Luft zu machen. Man erzählt von einer edlen Art
Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich
selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen.
So ist mir's oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige
Freiheit schaffte.
Am 24. März
Ich habe meine Entlassung vom Hofe verlangt und werde sie, hoffe
ich, erhalten, und ihr werdet mir verzeihen, dass ich nicht erst
Erlaubnis dazu bei euch geholt habe. Ich musste nun einmal fort, und
was ihr zu sagen hattet, um mir das Bleiben einzureden, weiß ich
alles, und also - bringe das meiner Mutter in einem Säftchen bei,
ich kann mir selbst nicht helfen, und sie mag sich gefallen lassen,
wenn ich ihr auch nicht helfen kann. Freilich muss es ihr wehe tun.
Den schönen Lauf, den ihr Sohn gerade zum Geheimenrat und Gesandten
ansetzte, so auf einmal Halte zu sehen, und rückwärts mit dem
Tierchen in den Stall! Macht nun daraus, was ihr wollt, und
kombiniert die möglichen Fälle, unter denen ich hätte bleiben können
und sollen; genug, ich gehe, und damit ihr wisst, wo ich hinkomme,
so ist hier der Fürst **, der vielen Geschmack an meiner
Gesellschaft findet; der hat mich gebeten, da er von meiner Absicht
hörte, mit ihm auf seine Güter zu gehen und den schönen Frühling da
zuzubringen. Ich soll ganz mir selbst gelassen sein, hat er mir
versprochen, und da wir uns zusammen bis auf einen gewissen Punkt
verstehn, so will ich es denn auf gut Glück wagen und mit ihm gehen.
Zur Nachricht.
Am 19. April
Danke für deine beiden Briefe. Ich antwortete nicht, weil ich
dieses Blatt liegen ließ, bis mein Abschied vom Hofe da wäre; ich
fürchtete, meine Mutter möchte sich an den Minister wenden und mir
mein Vorhaben erschweren. Nun aber ist es geschehen, mein Abschied
ist da. Ich mag euch nicht sagen, wie ungern man mir ihn gegeben
hat, und was mir der Minister schreibt - ihr würdet in neue
Lamentationen ausbrechen. Der Erbprinz hat mir zum Abschiede
fünfundzwanzig Dukaten geschickt, mit einem Wort, das mich bis zu
Tränen gerührt hat; also brauche ich von der Mutter das Geld nicht,
um das ich neulich schrieb.
Am 5. Mai
Morgen gehe ich von hier ab, und weil mein Geburtsort nur sechs
Meilen vom Wege liegt, so will ich den auch wiedersehen, will mich
der alten, glücklich verträumten Tage erinnern. Zu eben dem Tore
will ich hinein gehn, aus dem meine Mutter mit mir heraus fuhr, als
sie nach dem Tode meines Vaters den lieben, vertraulichen Ort
verließ, um sich in ihre unerträgliche Stadt einzusperren. Adieu,
Wilhelm, du sollst von meinem Zuge hören.
Am 9. Mai
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwarteten Gefühle haben mich
ergriffen. An der großen Linde, die eine Viertelstunde vor der Stadt
nach S... zu steht, ließ ich halten, stieg aus und hieß den
Postillon fortfahren, um zu Fuße jede Erinnerung ganz neu, lebhaft,
nach meinem Herzen zu kosten. Da stand ich nun unter der Linde, die
ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze meiner Spaziergänge
gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher
Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein Herz so
viele Nahrung, so vielen Genuss hoffte, meinen strebenden, sehnenden
Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus der
weiten Welt - o mein Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen
Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Planen! - Ich sah das Gebirge
vor mir liegen, das tausendmal der Gegenstand meiner Wünsche gewesen
war. Stundenlang konnt' ich hier sitzen und mich hinüber sehnen, mit
inniger Seele mich in den Wäldern, den Tälern verlieren, die sich
meinen Augen so freundlich-dämmernd darstellten; und wenn ich dann
um die bestimmte Zeit wieder zurück musste, mit welchem Widerwillen
verließ ich nicht den lieben Platz! - Ich kam der Stadt näher, alle
die alten, bekannten Gartenhäuschen wurden von mir gegrüßt, die
neuen waren mir zuwider, so auch alle Veränderungen, die man sonst
vorgenommen hatte. Ich trat zum Tor hinein und fand mich doch gleich
und ganz wieder. Lieber, ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend,
als es mir war, so einförmig würde es in der Erzählung werden. Ich
hatte beschlossen, auf dem Markte zu wohnen, gleich neben unserem
alten Haus. Im Hingehen bemerkte ich, dass die Schulstube, wo ein
ehrliches altes Weib unsere Kindheit zusammengepfercht hatte, in
einen Kramladen verwandelt war. Ich erinnere mich der Unruhe, der
Tränen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem
Loche ausgestanden hatte. - Ich tat keinen Schritt, der nicht
merkwürdig war. Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viele
Stätten religiöser Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich
so voll heiliger Bewegung. - Noch eins für tausend. Ich ging den
Fluss hinab, bis an einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg,
und die Plätzchen, wo wir Knaben uns übten, die meisten Sprünge der
flachen Steine im Wasser hervorzubringen. Ich erinnerte mich so
lebhaft, wenn ich manchmal stand und dem Wasser nachsah, mit wie
wunderbaren Ahnungen ich es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die
Gegenden vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da sobald
Grenzen meiner Vorstellungskraft fand; und doch musste das weiter
gehen, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer
unsichtbaren Ferne verlor. - Sieh, mein Lieber, so beschränkt
und so glücklich waren die herrlichen Altväter! So kindlich ihr
Gefühl, ihre Dichtung! Wenn Ulyß von dem ungemessnen Meer und von
der unendlichen Erde spricht, das ist so wahr, menschlich, innig,
eng und geheimnisvoll. Was hilft mich's, dass ich jetzt mit jedem
Schulknaben nachsagen kann, dass sie rund sei? Der Mensch braucht
nur wenige Erdschollen, um drauf zu genießen, weniger, um drunter zu
ruhen. Nun bin ich hier, auf dem fürstlichen Jagdschloss. Es lässt
sich noch ganz wohl mit dem Herrn leben, er ist wahr und einfach.
Wunderliche Menschen sind um ihn herum, die ich gar nicht begreife.
Sie scheinen keine Schelmen und haben doch auch nicht das Ansehen
von ehrlichen Leuten. Manchmal kommen sie mir ehrlich vor, und ich
kann ihnen doch nicht trauen. Was mir noch leid tut, ist, dass er
oft von Sachen redet, die er nur gehört und gelesen hat, und zwar
aus eben dem Gesichtspunkte, wie sie ihm der andere vorstellen
mochte. Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als
dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz und alles
Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen - mein Herz habe ich
allein.
Am 25. Mai
Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts sagen wollte, bis
es ausgeführt wäre: jetzt, da nichts draus wird, ist es ebenso gut.
Ich wollte in den Krieg; das hat mir lange am Herzen gelegen.
Vornehmlich darum bin ich dem Fürsten hierher gefolgt, der General
in ***schen Diensten ist. Auf einem Spaziergang entdeckte ich ihm
mein Vorhaben; er widerriet mir es, und es müsste bei mir mehr
Leidenschaft als Grille gewesen sein, wenn ich seinen Gründen nicht
hätte Gehör geben wollen.
Am 11. Junius
Sage was du willst, ich kann nicht länger bleiben. Was soll ich
hier? Die Zeit wird mir lang. Der Fürst hält mich, so gut man nur
kann, und doch bin ich nicht in meiner Lage. Wir haben im Grunde
nichts gemein mit einander. Er ist ein Mann von Verstande, aber von
ganz gemeinem Verstande; sein Umgang unterhält mich nicht mehr, als
wenn ich ein wohl geschriebenes Buch lese. Noch acht Tage bleibe
ich, und dann ziehe ich wieder in der Irre herum. Das Beste, was ich
hier getan habe, ist mein Zeichnen. Der Fürst fühlt in der Kunst und
würde noch stärker fühlen, wenn er nicht durch das garstige
wissenschaftliche Wesen und durch die gewöhnliche Terminologie
eingeschränkt wäre. Manchmal knirsche ich mit den Zähnen, wenn ich
ihn mit warmer Imagination an Natur und Kunst herumführe und er es
auf einmal recht gut zu machen denkt, wenn er mit einem gestempelten
Kunstworte dreinstolpert.
Am 16. Junius
Ja wohl bin ich nur ein Wandrer, ein Waller auf der Erde! Seid
ihr denn mehr?
Am 16. Junius
Wo ich hin will? Das las dir im Vertrauen eröffnen. Vierzehn Tage
muss ich doch noch hier bleiben, und dann habe ich mir weisgemacht,
dass ich die Bergwerke im ***schen besuchen wollte; ist aber im
Grunde nichts dran, ich will nur Lotten wieder näher, das ist alles.
Und ich lache über mein eigenes Herz - und tu' ihm seinen Willen.
Am 29. Julius
Nein, es ist gut! Es ist
alles gut! - Ich - ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du
mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein
anhaltendes Gebet sein. Ich will nicht rechten, und verzeihe mir
diese Tränen, verzeihe mir meine vergeblichen Wünsche! - Sie meine
Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf unter der Sonne in meine Arme
geschlossen hätte - es geht mir ein Schauder durch den ganzen
Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib fasst.
Und, darf ich es sagen?
Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit
ihm! O er ist nicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu
füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein Mangel - nimm es,
wie du willst; dass sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei - O! -
bei der Stelle eines lieben Buches, wo mein Herz und Lottens in
einem zusammentreffen; in hundert andern Vorfällen, wenn es kommt,
dass unsere Empfindungen über eine Handlung eines Dritten laut
werden. Lieber Wilhelm! - Zwar er liebt sie von ganzer Seele, und so
eine Liebe, was verdient die nicht!
- Ein unerträglicher
Mensch hat mich unterbrochen. Meine Tränen sind getrocknet. Ich bin
zerstreut. Adieu, Lieber!
Am 4. August
Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen werden in ihren
Hoffnungen getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen. Ich besuchte
mein gutes Weib unter der Linde. Der älteste Junge lief mir
entgegen, sein Freudengeschrei führte die Mutter herbei, die sehr
niedergeschlagen aussah. Ihr erstes Wort war: "guter Herr, ach, mein
Hans ist mir gestorben!" - Es war der jüngste ihrer Knaben. Ich war
stille. "Und mein Mann," sagte sie, "ist aus der Schweiz zurück und
hat nichts mitgebracht, und ohne gute Leute hätte er sich heraus
betteln müssen, er hatte das Fieber unterwegs gekriegt." - Ich
konnte ihr nichts sagen und schenkte dem Kleinen was; sie bat mich,
einige Äpfel anzunehmen, das ich tat und den Ort des traurigen
Andenkens verließ.
Am 21. August
Wie man eine Hand
umwendet, ist es anders mit mir. Manchmal will wohl ein freudiger
Blick des Lebens wieder aufdämmern, ach, nur für einen Augenblick! -
Wenn ich mich so in Träumen verliere, kann ich mich des Gedankens
nicht erwehren: wie, wenn Albert stürbe? Du würdest! Ja, sie würde -
und dann laufe ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an Abgründe
führet, vor denen ich zurückbebe.
Wenn ich zum Tor
hinausgehe, den Weg, den ich zum ersten Mal fuhr, Lotten zum Tanze
zu holen, wie war das so ganz anders! Alles, alles ist
vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines
damaligen Gefühles. Mir ist es, wie es einem Geiste sein müsste, der
in das ausgebrannte, zerstörte Schloss zurückkehrte, das er als
blühender Fürst einst gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit
ausgestattet, sterbend seinem geliebten Sohne hoffnungsvoll
hinterlassen hätte.
Am 3. September
Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann,
lieb haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe,
nichts anders kenne, noch weiß, noch habe als sie!
Am 4. September
Ja, es ist so. Wie die
Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her.
Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der
benachbarten Bäume abgefallen. Hab' ich dir nicht einmal von einem
Bauerburschen geschrieben, gleich da ich herkam? Jetzt erkundigte
ich mich wieder nach ihm in Wahlheim; es hieß, er sei aus dem
Dienste gejagt worden, und niemand wollte was weiter von ihm wissen.
Gestern traf ich ihn von ungefähr auf dem Wege nach einem andern
Dorfe, ich redete ihn an, und er erzählte mir seine Geschichte, die
mich doppelt und dreifach gerührt hat, wie du leicht begreifen
wirst, wenn ich dir sie wiedererzähle. Doch wozu das alles? Warum
behalt' ich nicht für mich, was mich ängstigt und kränkt? Warum
betrüb' ich noch dich? Warum geb' ich dir immer Gelegenheit, mich zu
bedauern und mich zu schelten? Sei's denn, auch das mag zu meinem
Schicksal gehören!
Mit einer stillen
Traurigkeit, in der ich ein wenig scheues Wesen zu bemerken schien,
antwortete der Mensch mir erst auf meine Fragen; aber gar bald
offner, als wenn er sich und mich auf einmal wiedererkennte, gestand
er mir seine Fehler, klagte er mir sein Unglück. Könnt' ich dir,
mein Freund, jedes seiner Worte vor Gericht stellen! Er bekannte, ja
er erzählte mit einer Art von Genuss und Glück der Wiedererinnerung,
dass die Leidenschaft zu seiner Hausfrau sich in ihm tagtäglich
vermehrt, dass er zuletzt nicht gewusst habe, was er tue, nicht, wie
er sich ausdrückte, wo er mit dem Kopfe hingesollt. Er habe weder
essen noch trinken noch schlafen können, es habe ihm an der Kehle
gestockt, er habe getan, was er nicht tun sollen; was ihm
aufgetragen worden, hab' er vergessen, er sei als wie von einem
bösen Geist verfolgt gewesen, bis er eines Tages, als er sie in
einer obern Kammer gewusst, ihr nachgegangen, ja vielmehr ihr
nachgezogen worden sei; da sie seinen Bitten kein Gehör gegeben,
hab' er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen; er wisse nicht,
wie ihm geschehen sei, und nehme Gott zum Zeugen, dass seine
Absichten gegen sie immer redlich gewesen, und dass er nichts
sehnlicher gewünscht, als dass sie ihn heiraten, dass sie mit ihm
ihr Leben zubringen möchte. Da er eine Zeitlang geredet hatte, fing
er an zu stocken, wie einer, der noch etwas zu sagen hat und sich es
nicht herauszusagen getraut; endlich gestand er mir auch mit
Schüchternheit, was sie ihm für kleine Vertraulichkeiten erlaubt,
und welche Nähe sie ihm vergönnet. Er brach zwei-, dreimal ab und
wiederholte die lebhaftesten Protestationen, dass er das nicht sage,
um sie schlecht zu machen, wie er sich ausdrückte, dass er sie liebe
und schätze wie vorher, dass so etwas nicht über seinen Mund
gekommen sei und dass er es mir nur sage, um mich zu überzeugen,
dass er kein ganz verkehrter und unsinniger Mensch sei.
- Und hier, mein Bester,
fang' ich mein altes Lied wieder an, das ich ewig anstimmen werde:
könnt' ich dir den Menschen vorstellen, wie er vor mir stand, wie er
noch vor mir steht! Könnt' ich dir alles recht sagen, damit du
fühltest, wie ich an seinem Schicksale teilnehme, teilnehmen muss!
Doch genug, da du auch mein Schicksal kennst, auch mich kennst, so
weißt du nur zu wohl, was mich zu allen Unglücklichen, was mich
besonders zu diesem Unglücklichen hinzieht.
Da ich das Blut wieder
durchlese, seh' ich, dass ich das Ende der Geschichte zu erzählen
vergessen habe, das sich aber leicht hinzudenken lässt. Sie erwehrte
sich sein; ihr Bruder kam dazu, der ihn schon lange gehasst, der ihn
schon lange aus dem Hause gewünscht hatte, weil er fürchtet, durch
eine neue Heirat der Schwester werde seinen Kindern die Erbschaft
entgehn, die ihnen jetzt, da sie kinderlos ist, schöne Hoffnungen
gibt; dieser habe ihn gleich zum Hause hinausgestoßen und einen
solchen Lärm von der Sache gemacht, dass die Frau, auch selbst wenn
sie gewollt, ihn nicht wieder hätte aufnehmen können. Jetzt habe sie
wieder einen andern Knecht genommen, auch über den, sage man, sei
sie mit dem Bruder zerfallen, und man behaupte für gewiss, sie werde
ihn heiraten, aber er sei fest entschlossen, das nicht zu erleben.
Was ich dir erzähle, ist
nicht übertrieben, nichts verzärtelt, ja ich darf wohl sagen,
schwach, schwach hab' ich's erzählt, und vergröbert hab' ich's,
indem ich's mit unsern hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen
habe.
Diese Liebe, diese Treue,
diese Leidenschaft ist also keine dichterische Erfindung. Sie lebt,
sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von Menschen, die
wir ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten - zu Nichts
Verbildeten! Lies die Geschichte mit Andacht, ich bitte dich. Ich
bin heute still, indem ich das hinschreibe; du siehst an meiner
Hand, dass ich nicht so strudele und sudele wie sonst. Lies, mein
Geliebter, und denke dabei, dass es auch die Geschichte deines
Freundes ist. Ja so ist mir's gegangen, so wird mir's gehn, und ich
bin nicht halb so brav, nicht halb so entschlossen als der arme
Unglückliche, mit dem ich mich zu vergleichen mich fast nicht
getraue.
Am 5. September
Sie hatte ein Zettelchen an ihren Mann aufs Land geschrieben, wo
er sich Geschäfte wegen aufhielt. Es fing an: "Bester, Liebster,
komme, sobald du kannst, ich erwarte dich mit tausend Freuden." -
Ein Freund, der hereinkam, brachte Nachricht, dass er wegen gewisser
Umstände so bald noch nicht zurückkehren würde. Das Billett blieb
liegen und fiel mir abends in die Hände. Ich las es und lächelte;
sie fragte worüber? - "Was die Einbildungskraft für ein göttliches
Geschenk ist," rief ich aus, "ich konnte mir einen Augenblick
vorspiegeln, als wäre es an mich geschrieben." - Sie brach ab, es
schien ihr zu missfallen, und ich schwieg.
Am 6. September
Es hat schwer gehalten, bis ich mich entschloss, meinen blauen
einfachen Frack, in dem ich mit Lotten zum ersten Male tanzte,
abzulegen, er ward aber zuletzt gar unscheinbar. Auch habe ich mir
einen machen lassen ganz wie den vorigen, Kragen und Aufschlag, und
auch wieder so gelbe Weste und Beinkleider dazu. Ganz will es doch
die Wirkung nicht tun. Ich weiß nicht - ich denke, mit der Zeit soll
mir der auch lieber werden.
Am 12. September
Sie war einige Tage
verreist, Alberten abzuholen. Heute trat ich in ihre Stube, sie kam
mir entgegen, und ich küsste ihre Hand mit tausend Freuden.
Ein Kanarienvogel flog
von dem Spiegel ihr auf die Schulter. - "Einen neuen Freund,"
sagte sie und lockte ihn auf ihre Hand, "er ist meinen Kleinen
zugedacht. Er tut gar zu lieb! Sehen Sie ihn! Wenn ich ihm Brot
gebe, flattert er mit den Flügeln und pickt so artig. Er küsst mich
auch, sehen Sie!"
Als sie dem Tierchen den
Mund hinhielt, drückte es sich so lieblich in die süßen Lippen, als
wenn es die Seligkeit hätte fühlen können, die es genoss.
"Er soll Sie auch
küssen," sagte sie und reichte den Vogel herüber. - Das
Schnäbelchen machte den Weg von ihrem Munde zu dem meinigen, und die
pickende Berührung war wie ein Hauch, eine Ahnung liebevollen
Genusses.
"Sein Kuss," sagte ich,
"ist nicht ganz ohne Begierde, er sucht Nahrung und kehrt
unbefriedigt von der leeren Liebkosung zurück."
"Er isst mir auch aus dem
Munde." sagte sie. - Sie reichte ihm einige Brosamen mit ihren
Lippen, aus denen die Freuden unschuldig teilnehmender Liebe in
aller Wonne lächelten.
Ich kehrte das Gesicht
weg. Sie sollte es nicht tun, sollte nicht meine Einbildungskraft
mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen und
mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die Gleichgültigkeit
des Lebens wiegt, nicht wecken! - Und warum nicht? - Sie traut mir
so! Sie weiß, wie ich sie liebe!
Am 15. September
Man möchte rasend werden, Wilhelm, dass es Menschen geben soll
ohne Sinn und Gefühl an dem wenigen, was auf Erden noch einen Wert
hat. Du kennst die Nussbäume, unter denen ich bei dem ehrlichen
Pfarrer zu St... mit Lotten gesessen, die herrlichen Nussbäume, die
mich, Gott weiß, immer mit dem größten Seelenvergnügen füllten! Wie
vertraulich sie den Pfarrhof machten, wie kühl! Und wie herrlich die
Äste waren! Und die Erinnerung bis zu den ehrlichen Geistlichen, die
sie vor vielen Jahren pflanzten. Der Schulmeister hat uns den einen
Namen oft genannt, den er von seinem Großvater gehört hatte; und so
ein braver Mann soll er gewesen sein, und sein Andenken war immer
heilig unter den Bäumen. Ich sage dir, dem Schulmeister standen die
Tränen in den Augen, da wir gestern davon redeten, dass sie
abgehauen worden - abgehauen! Ich möchte toll werden, ich
könnte den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat. Ich, der ich
mich vertrauern könnte, wenn so ein paar Bäume in meinem Hofe
stünden und einer davon stürbe vor Alter ab, ich muss zusehen.
Lieber Schatz, eins ist doch dabei: was Menschengefühl ist! Das
ganze Dorf murrt, und ich hoffe, die Frau Pfarrerin soll es an
Butter und Eiern und übrigem Zutrauen spüren, was für eine Wunde sie
ihrem Orte gegeben hat. Denn sie ist es, die Frau des neuen Pfarrers
(unser alter ist auch gestorben), ein hageres, kränkliches Geschöpf,
das sehr Ursache hat, an der Welt keinen Anteil zu nehmen, denn
niemand nimmt Anteil an ihr. Eine Närrin, die sich abgibt, gelehrt
zu sein, sich in die Untersuchung des Kanons meliert, gar viel an
der neumodischen, moralisch-kritischen Reformation des Christentumes
arbeitet und über Lavaters Schwärmereien die Achseln zuckt, eine
ganz zerrüttete Gesundheit hat und deswegen auf Gottes Erdboden
keine Freude. So einer Kreatur war es auch allein möglich, meine
Nussbäume abzuhauen. Siehst du, ich komme nicht zu mir! Stelle dir
vor: die abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig,
die Bäume nehmen ihr das Tageslicht, und wenn die Nüsse reif sind,
so werfen die Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die
Nerven, das stört sie in ihren tiefen Überlegungen, wenn sie
Kennikot, Semler und Michaelis gegen einander abwiegt. Da ich die
Leute im Dorfe, besonders die alten, so unzufrieden sah, sagte ich:
"warum habt ihr es gelitten?" - "wenn der Schulze will, hier zu
Lande," sagten sie, "was kann man machen?" - Aber eins ist recht
geschehen. Der Schulze und der Pfarrer, der doch auch von seiner
Frauen Grillen, die ihm ohnedies die Suppen nicht fett machen, was
haben wollte, dachten es mit einander zu teilen; da erfuhr es die
Kammer und sagte: "hier herein!" denn sie hatte noch alte
Prätensionen an den Teil des Pfarrhofes, wo die Bäume standen, und
verkaufte sie an den Meistbietenden. Sie liegen! O, wenn ich Fürst
wäre! Ich wollte die Pfarrerin, den Schulzen und die Kammer -
Fürst! - ja wenn ich Fürst wäre, was kümmerten mich die Bäume in
meinem Lande!
Am 10. Oktober
Wenn ich nur ihre schwarzen Augen sehe, ist mir es schon wohl!
Sieh, und was mich verdrießt, ist, dass Albert nicht so beglückt zu
sein scheinet, als er - hoffte - als ich - zu sein glaubte - wenn -
ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht
anders ausdrücken - und mich dünkt deutlich genug.
Am 10. Oktober
Ossian hat in meinem Herzen den Humor verdrängt. Welch eine Welt,
in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide, umsaust
vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im
dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her, im
Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren
Höhlen, und die Wehklagen des zu Tode sich jammernden Mädchens, um
die vier moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des Edelgefallnen,
ihres Geliebten. Wenn ich ihn dann finde, den wandelnden grauen
Barden, der auf der weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter sucht
und, ach, ihre Grabsteine findet und dann jammernd nach dem lieben
Sterne des Abends hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt,
und die Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele lebendig
werden, da noch der freundliche Strahl den Gefahren der Tapferen
leuchtete und der Mond ihr bekränztes, siegrückkehrendes Schiff
beschien. Wenn ich den tiefen Kummer auf seiner Stirn lese, den
letzten verlassenen Herrlichen in aller Ermattung dem Grabe zuwanken
sehe, wie er immer neue, schmerzlich glühende Freuden in der
kraftlosen Gegenwart der Schatten seiner Abgeschiedenen einsaugt und
nach der kalten Erde, dem hohen, wehenden Grase niedersieht und
ausruft: "Der Wanderer wird kommen, kommen, der mich kannte in
meiner Schönheit, und fragen: 'wo ist der Sänger, Fingals
trefflicher Sohn?' Sein Fußtritt geht über mein Grab hin, und er
fragt vergebens nach mir auf der Erde." - O Freund! Ich möchte
gleich einem edlen Waffenträger das Schwert ziehen, meinen Fürsten
von der zückenden Qual des langsam absterbenden Lebens auf einmal
befreien und dem befreiten Halbgott meine Seele nachsenden.
Am 19. Oktober
Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem
Busen fühle! - Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an
dieses Herz drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt
sein.
Am 19. Oktober
Ja es wird mir gewiss, Lieber, gewiss und immer gewisser, dass an
dem Dasein eines Geschöpfes wenig gelegen ist, ganz wenig. Es kam
eine Freundin zu Lotten, und ich ging herein ins Nebenzimmer, ein
Buch zu nehmen, und konnte nicht lesen, und dann nahm ich eine
Feder, zu schreiben. Ich hörte sie leise reden; sie erzählten
einander unbedeutende Sachen, Stadtneuigkeiten: wie diese heiratet,
wie jene krank, sehr krank ist. - "Sie hat einen trocknen Husten,
die Knochen stehn ihr zum Gesichte heraus, und kriegt Ohnmachten;
ich gebe keinen Kreuzer für ihr Leben." Sagte die eine. - "Der N. N.
ist auch so Übel dran," sagte Lotte. - "Er ist schon geschwollen,"
sagte die andere. - Und meine lebhafte Einbildungskraft versetzte
mich ans Bett dieser Armen; ich sah sie, mit welchem Widerwillen sie
dem Leben den Rücken wandten, wie sie - Wilhelm! Und meine Weibchen
redeten davon, wie man eben davon redet - dass ein Fremder stirbt. -
Und wenn ich mich umsehe und sehe das Zimmer an, und rings um mich
Lottens Kleider und Alberts Skripturen und diese Möbeln, denen ich
nun so befreundet bin, sogar diesem Dintenfaß, und denke: siehe, was
du nun diesem Hause bist! Alles in allem. Deine Freunde ehren dich!
Du machst oft ihre Freude, und deinem Herzen scheint es, als wenn es
ohne sie nicht sein könnte; und doch - wenn du nun gingst, wenn du
aus diesem Kreise schiedest? Würden sie, wie lange würden sie die
Lücke fühlen, die dein Verlust in ihr Schicksal reißt? Wie lange? -
O, so vergänglich ist der Mensch, dass er auch da, wo er seines
Daseins eigentliche Gewissheit hat, da, wo er den einzigen wahren
Eindruck seiner Gegenwart macht, in dem Andenken, in der Seele
seiner Lieben, dass er auch da verlöschen, verschwinden muss, und
das so bald!
Am 27. Oktober
Ich möchte mir oft die
Brust zerreißen und das Gehirn einstoßen, dass man einander so wenig
sein kann. Ach die Liebe, Freude, Wärme und Wonne, die ich nicht
hinzubringe, wird mir der andere nicht geben, und mit einem ganzen
Herzen voll Seligkeit werde ich den andern nicht beglücken, der kalt
und kraftlos vor mir steht.
Ich habe so viel, und die
Empfindung an ihr verschlingt alles; ich habe so viel, und ohne sie
wird mir alles zu Nichts.
Am 27. Oktober
abends
Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte gestanden bin, ihr
um den Hals zu fallen! Weiß der große Gott, wie einem das tut, so
viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht
zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste
Trieb der Menschheit. Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen
in den Sinn fällt? - Und ich?
Am 30. Oktober
Weiß Gott! Ich lege mich
so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht
wieder zu erwachen: und morgens schlage ich die Augen auf, sehe die
Sonne wieder, und bin elend. O dass ich launisch sein könnte, könnte
die Schuld aufs Wetter, auf einen Dritten, auf eine fehlgeschlagene
Unternehmung schieben, so würde die unerträgliche Last des Unwillens
doch nur halb auf mir ruhen. Wehe mir! Ich fühle zu wahr, dass an
mir alle Schuld liegt - nicht Schuld! Genug, dass in mir die Quelle
alles Elendes verborgen ist, wie ehemals die Quelle aller
Seligkeiten. Bin ich nicht noch ebenderselbe, der ehemals in aller
Fülle der Empfindung herumschwebte, dem auf jedem Tritte ein
Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu
umfassen? Und dies Herz ist jetzt tot, aus ihm fließen keine
Entzückungen mehr, meine Augen sind trocken, und meine Sinne, die
nicht mehr von erquickenden Tränen gelabt werden, ziehen ängstlich
meine Stirn zusammen. Ich leide viel, denn ich habe verloren, was
meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit
der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin! - Wenn ich zu meinem
Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über
ihn her den Nebel durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint,
und der sanfte Fluss zwischen seinen entblätterten Weiden zu mir
herschlängelt, - o! Wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir
steht wie ein lackiertes Bildchen, und alle die Wonne keinen Tropfen
Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann, und
der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie ein versiegter
Brunnen, wie ein verlechter Eimer. Ich habe mich oft auf den Boden
geworfen und Gott um Tränen gebeten, wie ein Ackersmann um Regen,
wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdürstet.
Aber, ach, ich fühle es,
Gott gibt Regen und Sonnenschein nicht unserm ungestümen Bitten, und
jene Zeiten, deren Andenken mich quält, warum waren sie so selig,
als weil ich mit Geduld seinen Geist erwartete und die Wonne, die er
über mich ausgoss, mit ganzem, innig dankbarem Herzen aufnahm!
Am 8. November
Sie hat mir meine Exzesse vorgeworfen! Ach, mit so viel
Liebenswürdigkeit! Meine Exzesse, dass ich mich manchmal von einem
Glase Wein verleiten lasse, eine Bouteille zu trinken. - "Tun Sie es
nicht!" sagte sie, "denken Sie an Lotten!" - "Denken!" sagte ich,
"brauchen Sie mir das zu heißen? Ich denke! - Ich denke nicht! Sie
sind immer vor meiner Seele. Heute saß ich an dem Flecke, wo Sie
neulich aus der Kutsche stiegen." - Sie redete was anders, um mich
nicht tiefer in den Text kommen zu lassen. Bester, ich bin dahin!
Sie kann mit mir machen, was sie will.
Am 15. November
Ich danke dir, Wilhelm, für deinen herzlichen Anteil, für deinen
wohlmeinenden Rat und bitte dich, ruhig zu sein. Las mich ausdulden,
ich habe bei aller meiner Müdseligkeit noch Kraft genug
durchzusetzen. Ich ehre die Religion, das weißt du, ich fühle, dass
sie manchem Ermatteten Stab, manchem Verschmachtenden Erquickung
ist. Nur - kann sie denn, muss sie denn das einem jeden sein? Wenn
du die große Welt ansiehst, so siehst du Tausende, denen sie es
nicht war, Tausende, denen sie es nicht sein wird, gepredigt oder
ungepredigt, und muss sie mir es denn sein? Sagt nicht selbst der
Sohn Gottes, dass die um ihn sein würden, die ihm der Vater gegeben
hat? Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin? Wenn mich nun der Vater für
sich behalten will, wie mir mein Herz sagt? - Ich bitte dich, lege
das nicht falsch aus; sieh nicht etwa Spott in diesen unschuldigen
Worten; es ist meine ganze Seele, die ich dir vorlege; sonst wollte
ich lieber, ich hätte geschwiegen: wie ich denn über alles das,
wovon jedermann so wenig weiß als ich, nicht gern ein Wort verliere.
Was ist es anders als Menschenschicksal, sein Maß auszuleiden,
seinen Becher auszutrinken? - Und ward der Kelch dem Gott vom
Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter, warum soll ich großtun
und mich stellen, als schmeckte er mir süß? Und warum sollte ich
mich schämen, in dem schrecklichen Augenblick, da mein ganzes Wesen
zwischen Sein und Nichtsein zittert, da die Vergangenheit wie ein
Blitz über dem finstern Abgrunde der Zukunft leuchtet und alles um
mich her versinkt und mit mir die Welt untergeht? Ist es da nicht
die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden und
unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur, in den innern Tiefen ihrer
vergebens aufarbeitenden Kräfte zu knirschen: "mein Gott! Mein Gott!
Warum hast du mich verlassen?" und sollt' ich mich des Ausdruckes
schämen, sollte mir es vor dem Augenblicke bange sein, da ihm der
nicht entging, der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch?
Am 21. November
Sie sieht nicht, sie
fühlt nicht, dass sie ein Gift bereitet, das mich und sie zugrunde
richten wird; und ich mit voller Wollust schlürfe den Becher aus,
den sie mir zu meinem Verderben reicht. Was soll der gütige Blick,
mit dem sie mich oft - oft? - nein, nicht oft, aber doch manchmal
ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen Ausdruck
meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich
auf ihrer Stirne zeichnet?
Gestern, als ich wegging,
reichte sie mir die Hand und sagte: "Adieu, lieber Werther!" -
Lieber Werther! Es war das erste Mal, dass sie mich Lieber hieß, und
es ging mir durch Mark und Bein. Ich habe es mir hundertmal
wiederholt, und gestern Nacht, da ich zu Bette gehen wollte und mit
mir selbst allerlei schwatzte, sagte ich so auf einmal: "gute Nacht,
lieber Werther!" und musste hernach selbst über mich lachen.
Am 22. November
Ich kann nicht beten: "las mir sie!" und doch kommt sie mir oft
als die Meine vor. Ich kann nicht beten: "gib mir sie!" denn sie ist
eines andern. Ich witzle mich mit meinen Schmerzen herum; wenn ich
mir's nachließe, es gäbe eine ganze Litanei von Antithesen.
Am 24. November
Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs
Herz gedrungen. Ich fand sie allein; ich sagte nichts, und sie sah
mich an. Und ich sah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit,
nicht mehr das Leuchten des trefflichen Geistes, das war alles vor
meinen Augen verschwunden. Ein weit herrlicherer Blick wirkte auf
mich, voll Ausdruck des innigsten Anteils, des süßesten Mitleidens.
Warum durft' ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? Warum durft' ich
nicht an ihrem Halse mit tausend Küssen antworten? Sie nahm ihre
Zuflucht zum Klavier und hauchte mit süßer, leiser Stimme
harmonische Laute zu ihrem Spiele. Nie habe ich ihre Lippen so
reizend gesehn; es war, als wenn sie sich lechzend öffneten, jene
süßen Töne in sich zu schlürfen, die aus dem Instrument
hervorquollen, und nur der heimliche Widerschall aus dem reinen
Munde zurückklänge - ja wenn ich dir das so sagen könnte! - Ich
widerstand nicht länger, neigte mich und schwur: nie will ich es
wagen, einen Kuss euch aufzudrücken, Lippen, auf denen die Geister
des Himmels schweben. - Und doch - ich will - ha! Siehst du, das
steht wie eine Scheidewand vor meiner Seele - diese Seligkeit - und
dann untergegangen, diese Sünde abzubüßen - Sünde?
Am 26. November
Manchmal sag' ich mir: dein Schicksal ist einzig; preise die
übrigen glücklich - so ist noch keiner gequält worden. - Dann lese
ich einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir, als säh' ich in mein
eignes Herz. Ich habe so viel auszustehen! Ach, sind denn Menschen
vor mir schon so elend gewesen?
Am 30. November
Ich soll, ich soll nicht
zu mir selbst kommen! Wo ich hintrete, begegnet mir eine
Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heute! O Schicksal!
O Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser
hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war
Öde, ein nasskalter Abendwind blies vom Berge, und die grauen
Regenwolken zogen das Tal hinein. Von fern seh' ich einen Menschen
in einem grünen, schlechten Rocke, der zwischen den Felsen
herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm
kam und er sich auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah
ich eine gar interessante Physiognomie, darin eine stille Trauer den
Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen geraden guten Sinn
ausdrückte; seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwei Rollen
gesteckt, und die übrigen in einen starken Zopf geflochten, der ihm
den Rücken herunter hing. Da mir seine Kleidung einen Menschen von
geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubte ich, er würde es nicht
übelnehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung aufmerksam wäre, und
daher fragte ich ihn, was er suchte? - "Ich suche," antwortete er
mit einem tiefen Seufzer, "Blumen - und finde keine." - "Das ist
auch die Jahreszeit nicht." sagte ich lächelnd. - "Es gibt so
viele Blumen," sagte er, indem er zu mir herunterkam. "In meinem
Garten sind Rosen und Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine hat
mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie Unkraut; ich suche schon
zwei Tage darnach und kann sie nicht finden. Da haußen sind auch
immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und das Tausendgüldenkraut
hat ein schönes Blümchen. Keines kann ich finden." - Ich
merkte was Unheimliches, und drum fragte ich durch einen Umweg: "Was
will er denn mit den Blumen?" - Ein wunderbares, zuckendes Lächeln
verzog sein Gesichte. "Wenn er mich nicht verraten will," sagte er,
indem er den Finger auf den Mund drückte, "ich habe meinem Schatz
einen Strauß versprochen." - "Das ist brav," sagte ich. - "O! "
sagte er, "sie hat viel andere Sachen, sie ist reich." - "Und doch
hat sie seinen Strauß lieb," versetzte ich. - "O!" fuhr er fort,
"sie hat Juwelen und eine Krone." - "Wie heißt sie denn?" - "Wenn
mich die Generalstaaten bezahlen wollten," versetzte er, "ich wär'
ein anderer Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl
war! Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun." Ein nasser Blick zum
Himmel drückte alles aus. - "Er war also glücklich?" fragte ich. -
"Ach ich wollte, ich wäre wieder so!" sagte er "Da war mir es so
wohl, so lustig, so leicht wie einem Fisch im Wasser!" - "Heinrich!"
rief eine alte Frau, die den Weg herkam, "Heinrich, wo steckst du?
Wir haben dich überall gesucht, komm zum Essen." - "Ist das euer
Sohn?" fragt' ich, zu ihr tretend. - "Wohl, mein armer Sohn!"
versetzte sie. "Gott hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt." - "Wie
lange ist er so?" fragte ich. - "So stille," sagte sie, "ist er nun
ein halbes Jahr. Gott sei Dank, dass er nur so weit ist, vorher war
er ein ganzes Jahr rasend, da hat er an Ketten im Tollhause gelegen.
Jetzt tut er niemand nichts, nur hat er immer mit Königen und
Kaisern zu schaffen. Er war ein so guter, stiller Mensch, der mich
ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er
tiefsinnig, fällt in ein hitziges Fieber, daraus in Raserei, und nun
ist er, wie Sie ihn sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr." -
Ich unterbrach den Strom ihrer Worte mit der Frage: "was war denn
das für eine Zeit, von der er rühmt, dass er so glücklich, so wohl
darin gewesen sei?" - "Der törichte Mensch!" rief sie mit
mitleidigem Lächeln, "da meint er die Zeit, da er von sich war, das
rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im Tollhause war, wo er
nichts von sich wusste." - Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag,
ich drückte ihr ein Stück Geld in die Hand und verließ sie eilend.
Da du glücklich warst! Rief ich aus, schnell vor mich hin nach der
Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem Fisch im Wasser! -
Gott im Himmel! Hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht,
dass sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen
und wenn sie ihn wieder verlieren! - Elender! Und auch wie beneide
ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du
verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu
pflücken - im Winter - und trauerst, da du keine findest, und
begreifst nicht, warum du keine finden kannst. Und ich - und ich
gehe ohne Hoffnung, ohne Zweck heraus und kehre wieder heim, wie ich
gekommen bin. - Du wähnst, welcher Mensch du sein würdest, wenn die
Generalstaaten dich bezahlten. Seliges Geschöpf, das den Mangel
seiner Glückseligkeit einer irdischen Hindernis zuschreiben kann! Du
fühlst nicht, du fühlst nicht, dass in deinem zerstörten Herzen, in
deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der
Erde dir nicht helfen können. Müsse der trostlos umkommen, der eines
Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist, die seine
Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird! Der
sich über das bedrängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse
loszuwerden und die Leiden seiner Seele abzutun, eine Pilgrimschaft
nach dem heiligen Grabe tut. Jeder Fußtritt, der seine Sohlen auf
ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein Linderungstropfen der
geängsteten Seele, und mit jeder ausgedauerten Tagereise legt sich
das Herz um viele Bedrängnisse leichter nieder. - Und dürft ihr das
Wahn nennen, ihr Wortkrämer auf euren Polstern? - Wahn! - o Gott! Du
siehst meine Tränen! Musstest du, der du den Menschen arm genug
erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bisschen Armut, das
bisschen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du
Allliebender! Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den
Tränen des Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, dass du in
alles, was uns umgibt, Heil - und Linderungskraft gelegt hast, der
wir so stündlich bedürfen? Vater, den ich nicht kenne! Vater, der
sonst meine ganze Seele füllte und nun sein Angesicht von mir
gewendet hat, rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein
Schweigen wird diese dürstende Seele nicht aufhalten - und würde ein
Mensch, ein Vater, zürnen können, dem sein unvermutet rückkehrender
Sohn um den Hals fiele und riefe: "ich bin wieder da, mein Vater!
Zürne nicht, dass ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem
Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerlei, auf
Mühe und Arbeit Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur
wohl, wo du bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und
genießen." - Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir
weisen?
Am 1. Dezember
Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb, der glückliche
Unglückliche, war Schreiber bei Lottens Vater, und eine Leidenschaft
zu ihr, die er nährte, verbarg, entdeckte und worüber er aus dem
Dienst geschickt wurde, hat ihn rasend gemacht. Fühle bei diesen
trocknen Worten, mit welchem Unsinn mich die Geschichte ergriffen
hat, da mir sie Albert ebenso gelassen erzählte, als du sie
vielleicht liesest.
Am 4. Dezember
Ich bitte dich - siehst du, mit mir ist's aus, ich trag' es nicht
länger! Heute saß ich bei ihr - saß, sie spielte auf ihrem Klavier,
mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck! All! - All! - Was
willst du? - Ihr Schwesterchen putzte ihre Puppe auf meinem Knie.
Mir kamen die Tränen in die Augen. Ich neigte mich, und ihr Trauring
fiel mir ins Gesicht - meine Tränen flossen - und auf einmal fiel
sie in die alte, himmelsüße Melodie ein, so auf einmal, und mir
durch die Seele gehn ein Trostgefühl und eine Erinnerung des
Vergangenen, der Zeiten, da ich das Lied gehört, der düstern
Zwischenräume des Verdrusses, der fehlgeschlagenen Hoffnungen, und
dann - ich ging in der Stube auf und nieder, mein Herz erstickte
unter dem Zudringen. - "Um Gottes willen," sagte ich, mit
einem heftigen Ausbruch hin gegen sie fahrend, "um Gottes willen,
hören Sie auf!" - Sie hielt und sah mich starr an." Werther, "sagte
sie mit einem Lächeln, das mir durch die Seele ging, "Werther, Sie
sind sehr krank, Ihre Lieblingsgerichte widerstehen Ihnen. Gehen
Sie! Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich." - Ich riss mich von
ihr weg und - Gott! Du siehst mein Elend und wirst es enden.
Am 6. Dezember
Wie mich die Gestalt
verfolgt! Wachend und träumend füllt sie meine ganze Seele! Hier,
wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne, wo die innere
Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! Ich kann
dir es nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen zu, so sind sie da;
wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die
Sinne meiner Stirn.
Was ist der Mensch, der
gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er
sie am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt
oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da
aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewusstsein wieder
zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren
sehnte?
Der
Herausgeber an den Leser
Wie sehr wünscht' ich,
dass uns von den letzten merkwürdigen Tagen unsers Freundes so viel
eigenhändige Zeugnisse übrig geblieben wären, dass ich nicht nötig
hätte, die Folge seiner hinterlassnen Briefe durch Erzählung zu
unterbrechen.
Ich habe mir angelegen
sein lassen, genaue Nachrichten aus dem Munde derer zu sammeln, die
von seiner Geschichte wohl unterrichtet sein konnten; sie ist
einfach, und es kommen alle Erzählungen davon bis auf wenige
Kleinigkeiten miteinander überein; nur über die Sinnesarten der
handelnden Personen sind die Meinungen verschieden und die Urteile
geteilt.
Was bleibt uns übrig, als
dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe erfahren können,
gewissenhaft zu erzählen, die von dem Abscheidenden hinterlassnen
Briefe einzuschalten und das kleinste aufgefundene Blättchen nicht
gering zu achten; zumal da es so schwer ist, die eigensten, wahren
Triebfedern auch nur einer einzelnen Handlung zu entdecken, wenn sie
unter Menschen vorgeht, die nicht gemeiner Art sind.
Unmut und Unlust hatten
in Werthers Seele immer tiefer Wurzel geschlagen, sich fester
untereinander verschlungen und sein ganzes Wesen nach und nach
eingenommen. Die Harmonie seines Geistes war völlig zerstört, eine
innerliche Hitze und Heftigkeit, die alle Kräfte seiner Natur
durcheinander arbeitete, brachte die widrigsten Wirkungen hervor und
ließ ihm zuletzt nur eine Ermattung übrig, aus der er noch
ängstlicher empor strebte, als er mit allen Übeln bisher gekämpft
hatte. Die Beängstigung seines Herzens zehrte die übrigen Kräfte
seines Geistes, seine Lebhaftigkeit, seinen Scharfsinn auf, er ward
ein trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher, und immer
ungerechter, je unglücklicher er ward. Wenigstens sagen dies Alberts
Freunde; sie behaupten, dass Werther einen reinen, ruhigen Mann, der
nun eines lang gewünschten Glückes teilhaftig geworden, und sein
Betragen, sich dieses Glück auch auf die Zukunft zu erhalten, nicht
habe beurteilen können, er, der gleichsam mit jedem Tage sein ganzes
Vermögen verzehrte, um an dem Abend zu leiden und zu darben. Albert,
sagen sie, hatte sich in so kurzer Zeit nicht verändert, er war noch
immer derselbige, den Werther so vom Anfang her kannte, so sehr
schätzte und ehrte. Er liebte Lotten über alles, er war stolz auf
sie und wünschte sie auch von jedermann als das herrlichste Geschöpf
anerkannt zu wissen. War es ihm daher zu verdenken, wenn er auch
jeden Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte, wenn er in dem
Augenblicke mit niemand diesen köstlichen Besitz auch auf die
unschuldigste Weise zu teilen Lust hatte? Sie gestehen ein, dass
Albert oft das Zimmer seiner Frau verlassen, wenn Werther bei ihr
war, aber nicht aus Hass noch Abneigung gegen seinen Freund, sondern
nur weil er gefühlt habe, dass dieser von seiner Gegenwart gedrückt
sei.
Lottens Vater war von
einem Übel befallen worden, das ihn in der Stube hielt, er schickte
ihr seinen Wagen, und sie fuhr hinaus. Es war ein schöner Wintertag,
der erste Schnee war stark gefallen und deckte die ganze Gegend.
Werther ging ihr den
andern Morgen nach, um, wenn Albert sie nicht abzuholen käme, sie
hereinzubegleiten.
Das klare Wetter konnte
wenig auf sein trübes Gemüt wirken, ein dumpfer Druck auf seiner
Seele, die traurigen Bilder hatten sich bei ihm festgesetzt, und
sein Gemüt kannte keine Bewegung als von einem schmerzlichen
Gedanken zum andern.
Wie er mit sich in ewigem
Unfrieden lebte, schien ihm auch der Zustand andrer nur bedenklicher
und verworrner, er glaubte, das schöne Verhältnis zwischen Albert
und seiner Gattin gestört zu haben, er machte sich Vorwürfe darüber,
in die sich ein heimlicher Unwille gegen den Gatten mischte.
Seine Gedanken fielen
auch unterwegs auf diesen Gegenstand. "Ja, ja," sagte er zu sich
selbst, mit heimlichem Zähneknirschen, "das ist der vertraute,
freundliche, zärtliche, an allem teilnehmende Umgang, die ruhige,
dauernde Treue! Sattigkeit ist's und Gleichgültigkeit! Zieht ihn
nicht jedes elende Geschäft mehr an als die teure, köstliche Frau?
Weiß er sein Glück zu schätzen? Weiß er sie zu achten, wie sie es
verdient? Er hat sie, nun gut, er hat sie - ich weiß das, wie ich
was anders auch weiß, ich glaube an den Gedanken gewöhnt zu sein, er
wird mich noch rasend machen, er wird mich noch umbringen - und hat
denn die Freundschaft zu mir Stich gehalten? Sieht er nicht in
meiner Anhänglichkeit an Lotten schon einen Eingriff in seine
Rechte, in meiner Aufmerksamkeit für sie einen Stillen Vorwurf? Ich
weiß es wohl, ich fühl' es, er sieht mich ungern, er wünscht meine
Entfernung, meine Gegenwart ist ihm beschwerlich."
Oft hielt er seinen
raschen Schritt an, oft stand er stille und schien umkehren zu
wollen; allein er richtete seinen Gang immer wieder vorwärts und war
mit diesen Gedanken und Selbstgesprächen endlich gleichsam wider
Willen bei dem Jagdhause angekommen.
Er trat in die Tür,
fragte nach dem Alten und nach Lotten, er fand das Haus in einiger
Bewegung. Der älteste Knabe sagte ihm, es sei drüben in Wahlheim ein
Unglück geschehn, es sei ein Bauer erschlagen worden! - Es machte
das weiter keinen Eindruck auf ihn. - Er trat in die Stube und fand
Lotten beschäftigt, dem Alten zuzureden, der ungeachtet seiner
Krankheit hinüber wollte, um an Ort und Stelle die Tat zu
untersuchen. Der Täter war noch unbekannt, man hatte den
Erschlagenen des Morgens vor der Haustür gefunden, man hatte
Mutmaßungen: der Entleibte war Knecht einer Witwe, die vorher einen
andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem Hause gekommen
war.
Da Werther dieses hörte,
fuhr er mit Heftigkeit auf. - "Ist's möglich!" rief er aus, "ich
muss hinüber, ich kann nicht einen Augenblick ruhn." - Er eilte nach
Wahlheim zu, jede Erinnerung ward ihm lebendig, und er zweifelte
nicht einen Augenblick, dass jener Mensch die Tat begangen, den er
so manchmal gesprochen, der ihm so wert geworden war.
Da er durch die Linden
musste, um nach der Schenke zu kommen, wo sie den Körper hingelegt
hatten, entsetzt' er sich vor dem sonst so geliebten Platze. Jene
Schwelle, worauf die Nachbarskinder so oft gespielt hatten, war mit
Blut besudelt. Liebe und Treue, die schönsten menschlichen
Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt. Die starken
Bäume standen ohne Laub und bereift, die schönen Hecken, die sich
über die niedrige Kirchhofmauer wölbten, waren entblättert, und die
Grabsteine sahen mit Schnee bedeckt durch die Lücken hervor.
Als er sich der Schenke
näherte, vor welcher das ganze Dorf versammelt war, entstand auf
einmal ein Geschrei. Man erblickte von fern einen Trupp bewaffneter
Männer, und ein jeder rief, dass man den Täter herbeiführe. Werther
sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft. Ja, es war der Knecht,
der jene Witwe so sehr liebte, den er vor einiger Zeit mit dem
stillen Grimme, mit der heimlichen Verzweiflung umhergehend
angetroffen hatte.
"Was hast du begangen,
Unglücklicher!" rief Werther aus, indem er auf den Gefangenen
losging. - Dieser sah ihn still an, schwieg und versetzte endlich
ganz gelassen: "keiner wird sie haben, sie wird keinen haben." - Man
brachte den Gefangnen in die Schenke, und Werther eilte fort.
Durch die entsetzliche,
gewaltige Berührung war alles, was in seinem Wesen lag,
durcheinandergeschüttelt worden. Aus seiner Trauer, seinem Missmut,
seiner gleichgültigen Hingegebenheit wurde er auf einen Augenblick
herausgerissen; unüberwindlich bemächtigte sich die Teilnehmung
seiner, und es ergriff ihn eine unsägliche Begierde, den Menschen zu
retten. Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher
selbst so schuldlos, er setzte sich so tief in seine Lage, dass er
gewiss glaubte, auch andere davon zu überzeugen. Schon wünschte er
für ihn sprechen zu können, schon drängte sich der lebhafteste
Vortrag nach seinen Lippen, er eilte nach dem Jagdhause und konnte
sich unterwegs nicht enthalten, alles das, was er dem Amtmann
vorstellen wollte, schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat,
fand er Alberten gegenwärtig, dies verstimmte ihn einen Augenblick;
doch fasste er sich bald wieder und trug dem Amtmann feurig seine
Gesinnungen vor. Dieser schüttelte einige Mal den Kopf, und obgleich
Werther mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit
alles vorbrachte, was ein Mensch zur Entschuldigung eines Menschen
sagen kann, so war doch, wie sich's leicht denken lässt, der Amtmann
dadurch nicht gerührt. Er ließ vielmehr unsern Freund nicht
ausreden, widersprach ihm eifrig und tadelte ihn, dass er einen
Meuchelmörder in Schutz nehme; er zeigte ihm, dass auf diese Weise
jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des Staats zugrunde
gerichtet werde; auch setzte er hinzu, dass er in einer solchen
Sache nichts tun könne, ohne sich die größte Verantwortung
aufzuladen, es müsse alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen
Gang gehen.
Werther ergab sich noch
nicht, sondern bat nur, der Amtmann möchte durch die Finger sehn,
wenn man dem Menschen zur Flucht behülflich wäre! Auch damit wies
ihn der Amtmann ab. Albert, der sich endlich ins Gespräch mischte,
trat auch auf des Alten Seite. Werther wurde überstimmt, und mit
einem entsetzlichen Leiden machte er sich auf den Weg, nachdem ihm
der Amtmann einige Mal gesagt hatte: "nein, er ist nicht zu retten!"
Wie sehr ihm diese Worte
aufgefallen sein müssen, sehn wir aus einem Zettelchen, das sich
unter seinen Papieren fand und das gewiss an dem nämlichen Tage
geschrieben worden:
"Du bist nicht zu retten,
Unglücklicher! Ich sehe wohl, dass wir nicht zu retten sind."
Was Albert zuletzt über
die Sache des Gefangenen in Gegenwart des Amtmanns gesprochen, war
Werthern höchst zuwider gewesen: er glaubte einige Empfindlichkeit
gegen sich darin bemerkt zu haben, und wenn gleich bei mehrerem
Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging, dass beide Männer recht
haben möchten, so war es ihm doch, als ob er seinem innersten Dasein
entsagen müsste, wenn er es gestehen, wenn er es zugeben sollte.
Ein Blättchen, das sich
darauf bezieht, das vielleicht sein ganzes Verhältnis zu Albert
ausdrückt, finden wir unter seinen Papieren: "Was hilft es, dass ich
mir's sage und wieder sage, er ist brav und gut, aber es zerreißt
mir mein inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht sein."
Weil es ein gelinder
Abend war und das Wetter anfing, sich zum Tauen zu neigen, ging
Lotte mit Alberten zu Fuße zurück. Unterwegs sah sie sich hier und
da um, eben als wenn sie Werthers Begleitung vermisste. Albert fing
von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm Gerechtigkeit
widerfahren ließ. Er berührte seine unglückliche Leidenschaft und
wünschte, dass es möglich sein möchte, ihn zu entfernen. - "Ich
wünsch' es auch um unsertwillen," sagt' er, "und ich bitte dich,"
fuhr er fort, "siehe zu, seinem Betragen gegen dich eine andere
Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern. Die Leute
werden aufmerksam, und ich weiß, dass man hier und da drüber
gesprochen hat." - Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen
empfunden zu haben, wenigstens seit der Zeit erwähnte er Werthers
nicht mehr gegen sie, und wenn sie seiner erwähnte, ließ er das
Gespräch fallen oder lenkte es woanders hin.
Der vergebliche Versuch,
den Werther zur Rettung des Unglücklichen gemacht hatte, war das
letzte Auflodern der Flamme eines verlöschenden Lichtes; er versank
nur desto tiefer in Schmerz und Untätigkeit; besonders kam er fast
außer sich, als er hörte, dass man ihn vielleicht gar zum Zeugen
gegen den Menschen, der sich nun aufs Leugnen legte, auffordern
könnte.
Alles was ihm
Unangenehmes jeweils in seinem wirksamen Leben begegnet war, der
Verdruss bei der Gesandtschaft, alles was ihm sonst misslungen war,
was ihn je gekränkt hatte, ging in seiner Seele auf und nieder. Er
fand sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit berechtigt, er fand
sich abgeschnitten von aller Aussicht, unfähig, irgendeine Handhabe
zu ergreifen, mit denen man die Geschäfte des gemeinen Lebens
anfasst; und so rückte er endlich, ganz seiner wunderbaren
Empfindung, Denkart und einer endlosen Leidenschaft hingegeben, in
dem ewigen Einerlei eines traurigen Umgangs mit dem liebenswürdigen
und geliebten Geschöpfe, dessen Ruhe er störte, in seine Kräfte
stürmend, sie ohne Zweck und Aussicht abarbeitend, immer einem
traurigen Ende näher.
Von seiner Verworrenheit,
Leidenschaft, von seinem rastlosen Treiben und Streben, von seiner
Lebensmüde sind einige hinterlassne Briefe die stärksten Zeugnisse,
die wir hier einrücken wollen.
Am 12. Dezember
Lieber Wilhelm, ich bin
in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen,
von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste
umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's; es ist nicht Angst, nicht
Begier - es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu
zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst! Wehe! Wehe! Und dann
schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser
menschenfeindlichen Jahrszeit.
Gestern abend musste ich
hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte gehört,
der Fluss sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim
herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach eilfe rannte ich
hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die
wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und
Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine
stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder
hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus
die Flut in fürchterlich herrlichem Widerschein rollte und klang: da
überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen
Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab! Hinab! Und
verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da
hinabzustürmen! Dahinzubrausen wie die Wellen! O! - Und den Fuß vom
Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden!
- Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen, ich fühle es! O Wilhelm! Wie
gern hätte ich mein Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde
sie Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht
vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zuteil?
- Und wie ich wehmütig
hinabsah auf ein Plätzchen, wo ich mit Lotten unter einer Weide
geruht, auf einem heißen Spaziergange, - das war auch überschwemmt,
und kaum dass ich die Weide erkannte! Wilhelm! Und ihre Wiesen,
dachte ich, die Gegend um ihr Jagdhaus! Wie verstört jetzt vom
reißenden Strome unsere Laube! Dacht' ich. Und der Vergangenheit
Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen ein Traum von
Herden, Wiesen und Ehrenämtern. Ich stand! - Ich schelte mich nicht,
denn ich habe Mut zu sterben. - Ich hätte - nun sitze ich hier wie
ein altes Weib, das ihr Holz von Zäunen stoppelt und ihr Brot an den
Türen, um ihr hinsterbendes, freudeloses Dasein noch einen
Augenblick zu verlängern und zu erleichtern.
Am 14. Dezember
Was ist das, mein Lieber?
Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die
heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen
strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt? - Ich will nicht beteuern
- und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so
widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben! Diese Nacht!
Ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an
meinen Busen gedrückt, und deckte ihren Lebe lispelnden Mund mit
unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des
ihrigen! Gott! Bin ich strafbar, dass ich auch jetzt noch eine
Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit
zurückzurufen? Lotte! Lotte! - Und mit mir ist es aus! Meine Sinne
verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr,
meine Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall
wohl. Ich wünsche nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich
ginge.
Der Entschluss, die
Welt zu verlassen, hatte in dieser Zeit, unter solchen Umständen in
Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit der Rückkehr zu
Lotten war es immer seine letzte Aussicht und Hoffnung gewesen; doch
hatte er sich gesagt, es solle keine übereilte, keine rasche Tat
sein, er wolle mit der besten Überzeugung, mit der möglichst ruhigen
Entschlossenheit diesen Schritt tun.
Seine Zweifel, sein
Streit mit sich selbst blicken aus einem Zettelchen hervor, das
wahrscheinlich ein angefangener Brief an Wilhelm ist und ohne Datum
unter seinen Papieren gefunden worden:
Ihre Gegenwart, ihr
Schicksal, ihre Teilnehmung an dem meinigen presst noch die letzten
Tränen aus meinem versengten Gehirne. Den Vorhang aufzuheben und
dahinter zu treten! Das ist alles! Und warum das Zaudern und Zagen?
Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht? Und man nicht
wiederkehrt? Und dass das nun die Eigenschaft unseres Geistes ist,
da Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts Bestimmtes
wissen.
Endlich ward er mit dem
traurigen Gedanken immer mehr verwandt und befremdet und sein
Vorsatz fest und unwiderruflich, wovon folgender zweideutige Brief,
den er an seinen Freund schrieb, ein Zeugnis abgibt.
Am 20. Dezember
Ich danke deiner Liebe, Wilhelm, dass du das Wort so aufgefangen
hast. Ja, du hast recht: mir wäre besser, ich ginge. Der Vorschlag,
den du zu einer Rückkehr zu euch tust, gefällt mir nicht ganz;
wenigstens möchte ich noch gern einen Umweg machen, besonders da wir
anhaltenden Frost und gute Wege zu hoffen haben. Auch ist mir es
sehr lieb, dass du kommen willst, mich abzuholen; verziehe nur noch
vierzehn Tage, und erwarte noch einen Brief von mir mit dem
Weiteren. Es ist nötig, dass nichts gepflückt werde, ehe es reif
ist. Und vierzehn Tage auf oder ab tun viel. Meiner Mutter sollst du
sagen: dass sie für ihren Sohn beten soll, und dass ich sie um
Vergebung bitte wegen alles Verdrusses, den ich ihr gemacht habe.
Das war nun mein Schicksal, die zu betrüben, denen ich Freude
schuldig war. Leb' wohl, mein Teuerster! Allen Segen des Himmels
über dich! Leb' wohl!"
Was in dieser Zeit in
Lottens Seele vorging, wie ihre Gesinnungen gegen ihren Mann, gegen
ihren unglücklichen Freund gewesen, getrauen wir uns kaum mit Worten
auszudrücken, ob wir uns gleich davon, nach der Kenntnis ihres
Charakters, wohl einen stillen Begriff machen können, und eine
schöne weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr
empfinden kann.
So viel ist gewiss, sie
war fest bei sich entschlossen, alles zu tun, um Werthern zu
entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine herzliche,
freundschaftliche Schonung, weil sie wusste, wie viel es ihm kosten,
ja dass es ihm beinahe unmöglich sein würde. Doch ward sie in dieser
Zeit mehr gedrängt, Ernst zu machen; es schwieg ihr Mann ganz über
dies Verhältnis, wie sie auch immer darüber geschwiegen hatte, und
um so mehr war ihr angelegen, ihm durch die Tat zu beweisen, wie
ihre Gesinnungen der seinigen wert seien.
An demselben Tage, als
Werther den zuletzt eingeschalteten Brief an seinen Freund
geschrieben, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er abends zu
Lotten und fand sie allein. Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke
in Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern zum
Christgeschenke zurecht gemacht hatte. Er redete von dem Vergnügen,
das die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen die
unerwartete Öffnung der Tür und die Erscheinung eines aufgeputzten
Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und Äpfeln in paradiesische
Entzückung setzte. - "Sie sollen," sagte Lotte, indem sie ihre
Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, "Sie sollen auch
beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind; ein Wachsstöckchen
und noch was." - "Und was heißen Sie geschickt sein?" rief er aus;
"wie soll ich sein? Wie kann ich sein? Beste Lotte!" - "Donnerstag
abend," sagte sie, "ist Weihnachtsabend, da kommen die Kinder, mein
Vater auch, da kriegt jedes das Seinige, da kommen Sie auch - aber
nicht eher." - Werther stutzte. - "Ich bitte Sie," fuhr sie fort,
"es ist nun einmal so, ich bitte um meiner Ruhe willen, es kann
nicht, es kann nicht so bleiben." - Er wendete seine Augen von ihr
und ging in der Stube auf und ab und murmelte das "es kann nicht so
bleiben!" zwischen den Zähnen. - Lotte, die den schrecklichen
Zustand fühlte, worein ihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch
allerlei Fragen seine Gedanken abzulenken, aber vergebens. - "Nein,
Lotte," rief er aus, "ich werde Sie nicht wiedersehen!" - "Warum
das?" versetzte sie, "Werther, Sie können, Sie müssen uns
wiedersehen, nur mäßigen Sie sich. O warum mussten Sie mit dieser
Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles,
was Sie einmal anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie," fuhr sie
fort, indem sie ihn bei der Hand nahm, "mäßigen Sie sich! Ihr Geist,
Ihre Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für
mannigfaltige Ergetzungen dar! Sein Sie ein Mann, wenden Sie diese
traurige Anhänglichkeit von einem Geschöpf, das nichts tun kann als
Sie bedauern." - Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an. -
Sie hielt seine Hand. "Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther!"
sagte sie. Fühlen Sie nicht, dass Sie sich betriegen, sich mit
Willen zugrunde richten! Warum denn mich, Werther? Just mich, das
Eigentum eines andern? Just das? Ich fürchte, ich fürchte, es ist
nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so
reizend macht." - Er zog seine Hand aus der ihrigen, indem er sie
mit einem starren, unwilligen Blick ansah. "Weise!" rief er, "sehr
weise! Hat vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht? Politisch!
Sehr politisch!" - "Es kann sie jeder machen," versetzte sie
drauf, "und sollte denn in der weiten Welt kein Mädchen sein, das
die Wünsche Ihres Herzens erfüllte? Gewinnen Sie's über sich, suchen
Sie darnach, und ich schwöre Ihnen, Sie werden sie finden; denn
schon lange ängstigt mich, für Sie und uns, die Einschränkung, in
die Sie sich diese Zeit her selbst gebannt haben. Gewinnen Sie über
sich, eine Reise wird Sie, muss Sie zerstreuen! Suchen Sie, finden
Sie einen werten Gegenstand Ihrer Liebe, und kehren Sie zurück, und
lassen Sie uns zusammen die Seligkeit einer wahren Freundschaft
genießen." "Das könnte man," sagte er mit einem kalten Lachen,
"drucken lassen und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! Lassen
Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden!" - "Nur das,
Werther, dass Sie nicht eher kommen als Weihnachtsabend!" - Er
wollte antworten, und Albert trat in die Stube. Man bot sich einen
frostigen Guten Abend und ging verlegen im Zimmer neben einander auf
und nieder. Werther fing einen unbedeutenden Diskurs an, der bald
aus war, Albert desgleichen, der sodann seine Frau nach gewissen
Aufträgen fragte und, als er hörte, sie seien noch nicht
ausgerichtet, ihr einige Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart
vorkamen. Er wollte gehen, er konnte nicht und zauderte bis acht, da
sich denn sein Unmut und Unwillen immer vermehrte, bis der Tisch
gedeckt wurde, und er Hut und Stock nahm. Albert lud ihn zu bleiben,
er aber, der nur ein unbedeutendes Kompliment zu hören glaubte,
dankte kalt dagegen und ging weg.
Er kam nach Hause, nahm
seinem Burschen, der ihm leuchten wollte, das Licht aus der Hand und
ging allein in sein Zimmer, weinte laut, redete aufgebracht mit sich
selbst, ging heftig die Stube auf und ab und warf sich endlich in
seinen Kleidern aufs Bette, wo ihn der Bediente fand, der es gegen
eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob er dem Herrn die Stiefeln
ausziehen sollte, das er denn zuließ und dem Bedienten verbot, den
andern Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen würde.
Montags früh, den
einundzwanzigsten Dezember, schrieb er folgenden Brief an Lotten,
den man nach seinem Tode versiegelt auf seinem Schreibtische
gefunden und ihr überbracht hat, und den ich absatzweise hier
einrücken will, so wie aus den Umständen erhellet, dass er ihn
geschrieben habe.
"Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe
ich dir ohne romantische Überspannung, gelassen, an dem Morgen des
Tages, an dem ich dich zum letzten Male sehen werde. Wenn du dieses
liesest, meine Beste, deckt schon das kühle Grab die erstarrten
Reste des Unruhigen, Unglücklichen, der für die letzten Augenblicke
seines Lebens keine größere Süßigkeit weiß, als sich mit dir zu
unterhalten. Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt und, ach, eine
wohltätige Nacht. Sie ist es, die meinen Entschluss befestiget,
bestimmt hat: ich will sterben! Wie ich mich gestern von dir riss,
in der fürchterlichen Empörung meiner Sinne, wie sich alles das nach
meinem Herzen drängte und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein
neben dir in grässlicher Kälte mich anpackte - ich erreichte kaum
mein Zimmer, ich warf mich außer mir auf meine Knie, und o Gott! Du
gewährtest mir das letzte Labsal der bittersten Tränen! Tausend
Anschläge, tausend Aussichten wüteten durch meine Seele, und zuletzt
stand er da, fest, ganz, der letzte, einzige Gedanke: ich will
sterben! - ich legte mich nieder, und morgens, in der Ruhe des
Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in meinem Herzen: ich
will sterben! - es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, dass
ich ausgetragen habe, und dass ich mich opfere für dich. Ja, Lotte!
Warum sollte ich es verschweigen? Eins von uns dreien muss hinweg,
und das will ich sein! O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen
ist es wütend herumgeschlichen, oft - deinen Mann zu ermorden! -
dich! - mich! - so sei es denn! - wenn du hinaufsteigst auf
den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner,
wie ich so oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe
hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der
sinkenden Sonne hin und her wiegt. - Ich war ruhig, da ich anfing,
nun, nun weine ich wie ein Kind, da alles das so lebhaft um mich
wird. - "
Gegen zehn Uhr rief
Werther seinem Bedienten, und unter dem Anziehen sagte er ihm, wie
er in einigen Tagen verreisen würde, er solle daher die Kleider
auskehren und alles zum Einpacken zurecht machen; auch gab er ihm
Befehl, überall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene Bücher
abzuholen und einigen Armen, denen er wöchentlich etwas zu geben
gewohnt war, ihr Zugeteiltes auf zwei Monate voraus zu bezahlen.
Er ließ sich das Essen
auf die Stube bringen, und nach Tische ritt er hinaus zum Amtmanne,
den er nicht zu Hause antraf. Er ging tiefsinnig im Garten auf und
ab und schien noch zuletzt alle Schwermut der Erinnerung auf sich
häufen zu wollen.
Die Kleinen ließen ihn
nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an ihm hinauf,
erzählen ihm, dass, wenn morgen, und wieder morgen, und noch ein Tag
wäre, sie die Christgeschenke bei Lotten holten, und erzählten ihm
Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft versprach. - "morgen!"
rief er aus, "und wieder morgen! Und noch ein Tag!" - und küsste sie
alle herzlich und wollte sie verlassen, als ihm der Kleine noch
etwas in das Ohr sagen wollte. Der verriet ihm, die großen Brüder
hätten schöne Neujahrswünsche geschrieben, so groß! Und einen für
den Papa, für Albert und Lotten einen und auch einen für Herrn
Werther; die wollten sie am Neujahrstage früh überreichen. Das
übermannte ihn, er schenkte jedem etwas, setzte sich zu Pferde, ließ
den Alten grüßen und ritt mit Tränen in den Augen davon.
Gegen fünf kam er nach
Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu sehen und es bis in die
Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hieß er Bücher und Wäsche unten
in den Koffer packen und die Kleider einnähen. Darauf schrieb er
wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten Briefes an Lotten.
"Du erwartest mich
nicht! Du glaubst, ich würde gehorchen und erst Weihnachtsabend dich
wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr. Weihnachtsabend hältst du
dieses Papier in deiner Hand, zitterst und benetzest es mit deinen
lieben Tränen. Ich will, ich muss! O wie wohl ist es mir, dass ich
entschlossen bin."
Lotte war indes in
einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der letzten Unterredung mit
Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen werde, sich
von ihm zu trennen, was er leiden würde, wenn er sich von ihr
entfernen sollte.
Es war wie im Vorübergehn
in Alberts Gegenwart gesagt worden, dass Werther vor Weihnachtsabend
nicht wieder kommen werde, und Albert war zu einem Beamten in der
Nachbarschaft geritten, mit dem er Geschäfte abzutun hatte, und wo
er über Nacht ausbleiben musste.
Sie saß nun allein, keins
von ihren Geschwistern war um sie, sie überließ sich ihren Gedanken,
die stille über ihren Verhältnissen herumschweiften. Sie sah sich
nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue sie
kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen Ruhe, dessen
Zuverlässigkeit recht vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, dass
eine wackere Frau das Glück ihres Lebens darauf gründen sollte; sie
fühlte, was er ihr und ihren Kindern auf immer sein würde. Auf der
andern Seite war ihr Werther so teuer geworden, gleich von dem
ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die
Übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der lange dauernde
Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen
unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Alles, was sie
Interessantes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen,
und seine Entfernung drohte in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu
reißen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie ihn
in dem Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glücklich wäre
sie gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer Freundinnen verheiraten
dürfen, hätte sie hoffen können, auch sein Verhältnis gegen Albert
ganz wieder herzustellen!
Sie hatte ihre
Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei einer jeglichen
etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt hätte.
Über allen diesen
Betrachtungen fühlte sie erst tief, ohne sich es deutlich zu machen,
dass ihr herzliches, heimliches Verlangen sei, ihn für sich zu
behalten, und sagte sich daneben, dass sie ihn nicht behalten könne,
behalten dürfe; ihr reines, schönes, sonst so leichtes und leicht
sich helfendes Gemüt empfand den Druck einer Schwermut, dem die
Aussicht zum Glück verschlossen ist. Ihr Herz war gepresst, und eine
trübe Wolke lag über ihrem Auge.
So war es halb sieben
geworden, als sie Werthern die Treppe heraufkommen hörte und seinen
Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte, bald erkannte. Wie schlug
ihr Herz, und wir dürfen fast sagen zum ersten Mal, bei seiner
Ankunft. Sie hätte sich gern vor ihm verleugnen lassen, und als er
hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von leidenschaftlicher
Verwirrung entgegen: "Sie haben nicht Wort gehalten." - "Ich habe
nichts versprochen" war seine Antwort. - "So hätten Sie wenigstens
meiner Bitte stattgeben sollen," versetzte sie, "ich bat Sie um
unser beider Ruhe."
Sie wusste nicht recht,
was sie sagte, ebenso wenig was sie tat, als sie nach einigen
Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein zu sein. Er legte
einige Bücher hin, die er gebracht hatte, fragte nach andern, und
sie wünschte, bald dass ihre Freundinnen kommen, bald dass sie
wegbleiben möchten. Das Mädchen kam zurück und brachte die
Nachricht, dass sich beide entschuldigen ließen.
Sie wollte das Mädchen
mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen lassen; dann besann sie
sich wieder anders. Werther ging in der Stube auf und ab, sie trat
ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte nicht fließen. Sie
nahm sich zusammen und setzte sich gelassen zu Werthern, der seinen
gewöhnlichen Platz auf dem Kanapee eingenommen hatte.
"Haben Sie nichts zu
lesen?" sagte sie. - Er hatte nichts. - "Da drin in meiner
Schublade," fing sie an, "liegt Ihre Übersetzung einiger Gesänge
Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie
von Ihnen zu hören; aber zeither hat sich's nicht finden, nicht
machen wollen." - Er lächelte, holte die Lieder, ein Schauer
überfiel ihn, als er sie in die Hände nahm, und die Augen standen
ihm voll Tränen, als er hineinsah. Er setzte sich nieder und las.
»Stern der dämmernden
Nacht, schön funkelst du in Westen, habst dein strahlend Haupt aus
deiner Wolke, wandelst stattlich deinen Hügel hin. Wornach blickst
du auf die Heide? Die stürmenden Winde haben sich gelegt; von ferne
kommt des Gießbachs Murmeln; rauschende Wellen spielen am Felsen
ferne; das Gesumme der Abendfliegen schwärmet übers Feld. Wornach
siehst du, schönes Licht? Aber du lächelst und gehst, freudig
umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl,
ruhiger Strahl. Erscheine, du herrliches Licht von Ossians Seele!
Und es erscheint in
seiner Kraft. Ich sehe meine geschiedenen Freunde, sie sammeln sich
auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber sind. - Fingal kommt wie
eine feuchte Nebelsäule; um ihn sind seine Helden, und, siehe! Die
Barden des Gesanges: grauer Ullin! Stattlicher Ryno! Alpin,
lieblicher Sänger! Und du, sanft klagende Minona! - Wie verändert
seid ihr, meine Freunde, seit den festlichen Tagen auf Selma, da wir
buhlten um die Ehre des Gesanges, wie Frühlingslüfte den Hügel hin
wechselnd beugen das schwach lispelnde Gras.
Da trat Minona hervor in
ihrer Schönheit, mit niedergeschlagenem Blick und tränenvollem Auge,
schwer floss ihr Haar im unsteten Winde, der von dem Hügel herstieß.
- Düster ward's in der Seele der Helden, als sie die liebliche
Stimme erhob; denn oft hatten sie das Grab Salgars gesehen, oft die
finstere Wohnung der weißen Colma. Colma, verlassen auf dem Hügel,
mit der harmonischen Stimme; Salgar versprach zu kommen; aber
ringsum zog sich die Nacht. Höret Colmas Stimme, da sie auf dem
Hügel allein saß.
Colma.
Es ist Nacht! - Ich bin allein, verloren
auf dem stürmischen Hügel. Der Wind saust im Gebirge. Der Strom
heult den Felsen hinab. Keine Hütte schützt mich vor Regen, mich
Verlassne auf dem stürmischen Hügel. Tritt, o Mond, aus deinen
Wolken, erscheinet, Sterne der Nacht! Leite mich irgend ein Strahl
zu dem Orte, wo meine Liebe ruht von den Beschwerden der Jagd, sein
Bogen neben ihm abgespannt, seine Hunde schnobend um ihn! Aber hier
muss ich sitzen allein auf dem Felsen des verwachsenen Stroms. Der
Strom und der Sturm saust, ich höre nicht die Stimme meines
Geliebten.
Warum zaudert mein
Salgar? Hat er sein Wort vergessen? - Da ist der Fels und der Baum
und hier der rauschende Strom! Mit einbrechender Nacht versprachst
du hier zu sein; ach! Wohin hat sich mein Salgar verirrt? Mit dir
wollt' ich fliehen, verlassen Vater und Bruder, die stolzen! Lange
sind unsere Geschlechter Feinde, aber wir sind keine Feinde, o
Salgar!
Schweig eine Weile, o
Wind! Still eine kleine Weile, o Strom, dass meine Stimme klinge
durchs Tal, dass mein Wanderer mich höre. Salgar! Ich bin's, die
ruft! Hier ist der Baum und der Fels! Salgar! Mein Lieber! Hier bin
ich; warum zauderst du zu kommen?
Sieh, der Mond erscheint,
die Flut glänzt im Tale, die Felsen stehen grau den Hügel hinauf;
aber ich seh' ihn nicht auf der Höhe, seine Hunde vor ihm her
verkündigen nicht seine Ankunft. Hier muss ich sitzen allein.
Aber wer sind, die dort
unten liegen auf der Heide? - Mein Geliebter? Mein Bruder? - Redet,
o meine Freunde! Sie antworten nicht. Wie geängstigt ist meine
Seele! - Ach sie sind tot! Ihre Schwester rot vom Gefechte! O mein
Bruder, mein Bruder, warum hast du meinen Salgar erschlagen? O mein
Salgar, warum hast du meinen Bruder erschlagen? Ihr wart mir beide
so lieb! O du warst schön an dem Hügel unter Tausenden! Es war
schrecklich in der Schlacht. Antwortet mir! Hört meine Stimme, meine
Geliebten! Aber ach, sie sind stumm, stumm auf ewig! Kalt wie die
Erde ist ihr Busen!
O von dem Felsen des
Hügels, von dem Gipfel des stürmenden Berges, redet, Geister der
Toten! Redet! Mir soll es nicht grausen! - Wohin seid ihr zur Ruhe
gegangen? In welcher Gruft des Gebirges soll ich euch finden? -
Keine schwache Stimme vernehme ich im Winde, keine wehende Antwort
im Sturme des Hügels. Ich sitze in meinem Jammer, ich harre auf den
Morgen in meinen Tränen. Wühlet das Grab, ihr Freunde der Toten,
aber schließt es nicht, bis ich komme. Mein Leben schwindet wie ein
Traum; wie sollt' ich zurückbleiben! Hier will ich {...} Felsens -
wenn's Nacht wird auf dem Hügel, und Wind kommt über die Heide, soll
mein Geist im Winde stehn und trauern den Tod meiner Freunde. Der
Jäger hört mich aus seiner Laube, fürchtet meine Stimme und liebt
sie; denn süß soll meine Stimme sein um meine Freunde, sie waren mir
beide so lieb!
Das war dein Gesang, o
Minona, Tormans sanft errötende Tochter. Unsere Tränen flossen um
Colma, und unsere Seele ward düster.
78 Ullin trat auf mit der
Harfe und gab uns Alpins Gesang - Alpins Stimme war freundlich,
Rynos Seele ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten sie im engen Hause,
und ihre Stimme war verhallet in Selma. Einst kehrte Ullin zurück
von der Jagd, ehe die Helden noch fielen. Er hörte ihren Wettegesang
auf dem Hügel. Ihr Lied war sanft, aber traurig. Sie klagten Morars
Fall, des ersten der Helden. Seine Seele war wie Fingals Seele, sein
Schwert wie das Schwert Oskars - aber er fiel, und sein Vater
jammerte, und seiner Schwester Augen waren voll Tränen, Minonas
Augen waren voll Tränen, der Schwester des herrlichen Morars. Sie
trat zurück vor Ullins Gesang, wie der Mond in Westen, der den
Sturmregen voraussieht und sein schönes Haupt in eine Wolke
verbirgt. - Ich schlug die Harfe mit Ullin zum Gesange des Jammers.
Ryno.
Vorbei sind Wind und Regen, der Mittag ist so heiter, die Wolken
teilen sich. Fliehend bescheint den Hügel die unbeständige Sonne.
Rötlich fließt der Strom des Bergs im Tale hin. Süß ist dein
Murmeln, Strom; doch süßer die Stimme, die ich höre. Es ist Alpins
Stimme, er bejammert den Toten. Sein Haupt ist vor Alter gebeugt und
rot sein tränendes Auge. Alpin, trefflicher Sänger, warum allein auf
dem schweigenden Hügel? Warum jammerst du wie ein Windstoß im Walde,
wie eine Welle am fernen Gestade?
Alpin.
Meine Tränen, Ryno, sind
für den Toten, meine Stimme für die Bewohner des Grabs. Schlank bist
du auf dem Hügel, schön unter den Söhnen der Heide. Aber du wirst
fallen wie Morar, und auf deinem Grabe wird der Trauernde sitzen.
Die Hügel werden dich vergessen, dein Bogen in der Halle liegen
ungespannt.
Du warst schnell, o
Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, schrecklich wie die Nachtfeuer am
Himmel. Dein Grimm war ein Sturm, dein Schwert in der Schlacht wie
Wetterleuchten über der Heide. Deine Stimme glich dem Waldstrome
nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln. Manche fielen von
deinem Arm, die Flamme deines Grimmes verzehrte sie. Aber wenn du
wiederkehrtest vom Kriege, wie friedlich war deine Stirne! Dein
Angesicht war gleich der Sonne nach dem Gewitter, gleich dem Monde
in der schweigenden Nacht, ruhig deine Brust wie der See, wenn sich
des Windes Brausen gelegt hat.
Eng ist nun deine
Wohnung, finster deine Stätte! Mit drei Schritten mess' ich dein
Grab, o du, der du ehe so groß warst! Vier Steine mit moosigen
Häupten sind dein einziges Gedächtnis; ein entblätterter Baum,
langes Gras, das im Winde wispelt, deutet dem Auge des Jägers das
Grab des mächtigen Morars. Keine Mutter hast du, dich zu beweinen,
kein Mädchen mit Tränen der Liebe. Tot ist, die dich gebar, gefallen
die Tochter von Morglan.
Wer auf seinem Stabe ist
das? Wer ist es, dessen Haupt weiß ist vor Alter, dessen Augen rot
sind von Tränen? Es ist dein Vater, o Morar, der Vater keines Sohnes
außer dir. Er hörte von deinem Ruf in der Schlacht, er hörte von
zerstobenen Feinden; er hörte Morars Ruhm! Ach! Nichts von seiner
Wunde? Weine, Vater Morars, weine! Aber dein Sohn hört dich nicht.
Tief ist der Schlaf der Toten, niedrig ihr Kissen von Staube. Nimmer
achtet er auf die Stimme, nie erwacht er auf deinen Ruf. O wann wird
es Morgen im Grabe, zu bieten dem Schlummerer: Erwache!
Lebe wohl, edelster der
Menschen, du Eroberer im Felde! Aber nimmer wird dich das Feld
sehen, nimmer der düstere Wald leuchten vom Glanze deines Stahls. Du
hinterließest keinen Sohn, aber der Gesang soll deinen Namen
erhalten, künftige Zeiten sollen von dir hören, hören von dem
gefallenen Morar.
Laut war die Trauer der
Helden, am lautesten Armins berstender Seufzer. Ihn erinnerte es an
den Tod seines Sohnes, er fiel in den Tagen der Jugend. Carmor saß
nah bei dem Helden, der Fürst des hallenden Galmal. "Warum
schluchzet der Seufzer Armins?" sprach er, "was ist hier zu weinen?
Klingt nicht ein Lied und ein Gesang, die Seele zu schmelzen und zu
ergetzen? Sie sind wie sanfter Nebel, der steigend vom See aufs Tal
sprüht, und die blühenden Blumen füllet das Nass; aber die Sonne
kommt wieder in ihrer Kraft, und der Nebel ist gegangen. Warum bist
du so jammervoll, Armin, Herrscher des seeumflossenen Gorma?"
"Jammervoll! Wohl das bin
ich, und nicht gering die Ursache meines Wehs. - Carmor, du verlorst
keinen Sohn, verlorst keine blühende Tochter; Colgar, der Tapfere,
lebt, und Annira, die schönste der Mädchen. Die Zweige deines Hauses
blühen, o Carmor; aber Armin ist der Letzte seines Stammes. Finster
ist dein Bett, o Daura! Dumpf ist dein Schlaf in dem Grabe - wann
erwachst du mit deinen Gesängen, mit deiner melodischen Stimme? Auf,
ihr Winde des Herbstes! Auf, stürmt über die finstere Heide!
Waldströme, braust! Heult, Ströme, im Gipfel der Eichen! Wandle
durch gebrochene Wolken, o Mond, zeige wechselnd dein bleiches
Gesicht! Erinnre mich der schrecklichen Nacht, da meine Kinder
umkamen, da Arindal, der Mächtige, fiel, Daura, die Liebe, verging.
"Daura, meine Tochter, du
warst schön, schön wie der Mond auf den Hügeln von Fura, weiß wie
der gefallene Schnee, süß wie die atmende Luft! Arindal, dein Bogen
war stark, dein Speer schnell auf dem Felde, dein Blick wie Nebel
auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme!
"Armar, berühmt im
Kriege, kam und warb um Dauras Liebe; sie widerstand nicht lange.
Schön waren die Hoffnungen ihrer Freunde."
Erath, der Sohn Odgals,
grollte, denn sein Bruder lag erschlagen von Armar. Er kam, in einen
Schiffer verkleidet. Schön war sein Nachen auf der Welle, weiß seine
Locken vor Alter, ruhig sein ernstes Gesicht. "Schönste Mädchen,"
sagte er, "liebliche Tochter von Armin, dort am Felsen, nicht fern
in der See, wo die rote Frucht vom Baume herblinkt, dort wartet
Armar auf Daura: ich komme, seine Liebe zu führen über die rollende
See.
Sie folgt' ihm und rief
nach Armar; nichts antwortete als die Stimme des Felsens. "Armar!
Mein Lieber! Mein Lieber! Warum ängstest du mich so? Höre, Sohn
Arnarths! Höre! Daura ist's, die dich ruft!
Erath, der Verräter, floh
lachend zum Lande. Sie erhob ihre Stimme, rief nach ihrem Vater und
Bruder: "Arindal! Armin! Ist keiner, seine Daura zu retten?"
Ihre Stimme kam über die
See. Arindal, mein Sohn, stieg vom Hügel herab, rau in der Beute der
Jagd, seine Pfeile rasselten an seiner Seite, seinen Bogen trug er
in der Hand, fünf schwarzgraue Doggen waren um ihn. Er sah den
kühnen Erath am Ufer, fasst' und band ihn an die Eiche, fest
umflocht er seine Hüften, der Gefesselte füllte mit Ächzen die
Winde.
Arindal betritt die
Wellen in seinem Boote, Daura herüber zu bringen. Armar kam in
seinem Grimme, drückt' ab den grau befiederten Pfeil, er klang, er
sank in dein Herz, "o Arindal, mein Sohn! Statt Eraths, des
Verräters, kamst du um, das Boot erreichte den Felsen, er sank dran
nieder und starb. Zu deinen Füßen floss deines Bruders Blut, welch
war dein Jammer, o Daura! Die Wellen zerschmettern das Boot. Armar
stürzt sch in die See, seine Daura zu retten oder zu sterben.
Schnell stürmte ein Stoß vom Hügel in die Wellen, er sank und hob
sich nicht wieder.
Allein auf den
seebespülten Felsen hört' ich die Klagen meiner Tochter. Viel und
laut war ihr Schreien, doch konnt' sie ihr Vater nicht retten. Die
ganze Nacht stand ich am Ufer, ich sah sie im schwachen Strahle des
Mondes, die ganze Nacht hört' ich ihr Schreien, laut war der Wind,
und der Regen schlug scharf nach der Seite des Berges. Ihre Stimme
ward schwach, ehe der Morgen erschien, sie starb weg wie die
Abendluft zwischen dem Grase der Felsen. Beladen mit Jammer starb
sie und ließ Armin allein! Dahin ist meine Stärke im Kriege,
gefallen mein Stolz unter den Mädchen.
Wenn die Stürme des
Berges kommen, wenn der Nord die Wellen hochhebt, sitz' ich am
schallenden Ufer, schaue nach dem schrecklichen Felsen. Oft im
sinkenden Monde seh' ich die Geister meiner Kinder, halb dämmernd
wandeln sie zusammen in traurigen Eintracht.«
Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem
gepressten Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang. Er warf das
Papier hin, fasste ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. Lotte
ruhte auf der andern und verbarg ihre Augen ins Schnupftuch. Die
Bewegung beider war fürchterlich. Sie fühlten ihr eigenes Elend in
dem Schicksale der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen
vereinigten sich. Die Lippen und Augen Werthers glühten an Lottens
Arme; ein Schauer überfiel sie; sie wollte sich entfernen, und
Schmerz und Anteil lagen betäubend wie Blei auf ihr. Sie atmete,
sich zu erholen, und bat ihn schluchzend fortzufahren, bat mit der
ganzen Stimme des Himmels! Werther zitterte, sein Herz wollte
bersten, er hob das Blatt auf und las halb gebrochen:
»Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du
buhlst und sprichst: ich betaue mit Tropfen des Himmels! Aber die
Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter
herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in
meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und
wird mich nicht finden. - «
Die ganze Gewalt dieser
Worte fiel über den Unglücklichen. Er warf sich vor Lotten nieder in
der vollen Verzweifelung, fasste ihre Hände, drückte sie in seine
Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine Ahnung seines
schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre Sinne
verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre
Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre
glühenden Wangen berührten sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang
seine Arme um sie her, presste sie an seine Brust und deckte ihre
zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen. - "Werther!"
rief sie mit erstickter Stimme, sich abwendend, "Werther!" und
drückte mit schwacher Hand seine Brust von der ihrigen; "Werther!"
rief sie mit dem gefassten Tone des edelsten Gefühles. - Er
widerstand nicht, ließ sie sich aus seinen Armen und warf sich
unsinnig vor sie hin. - Sie riss sich auf, und in ängstlicher
Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn, sagte sie: "Das ist das
letzte Mal! Werther! Sie sehn mich nicht wieder." Und mit dem
vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie ins Nebenzimmer
und schloss hinter sich zu. - Werther streckte ihr die Arme nach,
getraute sich nicht, sie zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf
dem Kanapee, und in dieser Stellung blieb er über eine halbe Stunde,
bis ihn ein Geräusch zu sich selbst rief. Es war das Mädchen, das
den Tisch decken wollte. Er ging im Zimmer auf und ab, und da er
sich wieder allein sah, ging er zur Türe des Kabinetts und rief mit
leiser Stimme: "Lotte! Lotte! Nur noch ein Wort! Ein Lebewohl!" -
Sie schwieg. - Er harrte und bat und harrte; dann riss er sich weg
und rief: "lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!"
Er kam ans Stadttor. Die
Wächter, die ihn schon gewohnt waren, ließen ihn stillschweigend
hinaus. Es stiebte zwischen Regen und Schnee, und erst gegen eilfe
klopfte er wieder. Sein Diener bemerkte, als Werther nach Hause kam,
dass seinem Herrn der Hut fehlte. Er getraute sich nicht, etwas zu
sagen, entkleidete ihn, alles war nass. Man hat nachher den Hut auf
einem Felsen, der an dem Abhange des Hügels ins Tal sieht, gefunden,
und es ist unbegreiflich, wie er ihn in einer finstern, feuchten
Nacht, ohne zu stürzen, erstiegen hat.
Er legte sich zu Bette
und schlief lange. Der Bediente fand ihn schreibend, als er ihm den
andern Morgen auf sein Rufen den Kaffee brachte. Er schrieb
folgendes am Briefe an Lotten:
»Zum letzten Male
denn, zum letzten Male schlage ich diese Augen auf. Sie sollen, ach,
die Sonne nicht mehr sehn, ein trüber, neblichter Tag hält sie
bedeckt. So traure denn, Natur! Dein Sohn, dein Freund, dein
Geliebter naht sich seinem Ende. Lotte, das ist ein Gefühl
ohnegleichen, und doch kommt es dem dämmernden Traum am nächsten, zu
sich zu sagen: das ist der letzte Morgen. Der letzte! Lotte, ich
habe keinen Sinn für das Wort: der letzte! Stehe ich nicht da in
meiner ganzen Kraft, und morgen liege ich ausgestreckt und schlaff
am Boden. Sterben! Was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom
Tode reden. Ich habe manchen sterben sehen; aber so eingeschränkt
ist die Menschheit, dass sie für ihres Daseins Anfang und Ende
keinen Sinn hat. Jetzt noch mein, dein! Dein, o Geliebte! Und einen
Augenblick - getrennt, geschieden - vielleicht auf ewig? - Nein,
Lotte, nein - wie kann ich vergehen? Wie kannst du vergehen? Wir
sind ja! - vergehen! - Was heißt das? Das ist wieder ein Wort,
ein leerer Schall, ohne Gefühl für mein Herz. - Tot, Lotte!
Eingescharrt der kalten Erde, so eng! So finster! - Ich hatte eine
Freundin, die mein alles war meiner hülflosen Jugend; sie starb, und
ich folgte ihrer Leiche und stand an dem Grabe, wie sie den Sarg
hinunterließen und die Seile schnurrend unter ihm weg und wieder
herauf schnellten, dann die erste Schaufel hinunterschollerte, und
die ängstliche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und
immer dumpfer, und endlich bedeckt war! - Ich stürzte neben das Grab
hin - ergriffen, erschüttert, geängstigt, zerrissen mein Innerstes,
aber ich wusste nicht, wie mir geschah - wie mir geschehen wird -
Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!
O vergib mir! Vergib mir!
Gestern! Es hätte der letzte Augenblick meines Lebens sein sollen. O
du Engel! Zum ersten Male, zum ersten Male ganz ohne Zweifel durch
mein innig Innerstes durchglühte mich das Wonnegefühl: sie liebt
mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige
Feuer, das von den deinigen strömte, neue, warme Wonne ist in meinem
Herzen. Vergib mir! Vergib mir!
Ach, ich wusste, dass du
mich liebtest, wusste es an den ersten seelenvollen Blicken, an dem
ersten Händedruck, und doch, wenn ich wieder weg war, wenn ich
Alberten an deiner Seite sah, verzagte ich wieder in fieberhaften
Zweifeln.
Erinnerst du dich der
Blumen, die du mir schicktest, als du in jener fatalen Gesellschaft
mir kein Wort sagen, keine Hand reichen konntest? O, ich habe die
halbe Nacht davor gekniet, und sie versiegelten mir deine Liebe.
Aber ach! Diese Eindrücke gingen vorüber, wie das Gefühl der Gnade
seines Gottes allmählich wieder aus der Seele des Gläubigen weicht,
die ihm mit ganzer Himmelsfülle in heiligen, sichtbaren Zeichen
gereicht ward.
Alles das ist
vergänglich, aber keine Ewigkeit soll das glühende Leben auslöschen,
das ich gestern auf deinen Lippen genoss, das ich in mir fühle! Sie
liebt mich! Dieser Arm hat sie umfasst, diese Lippen haben auf ihren
Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen gestammelt. Sie ist
mein! Du bist mein! Ja, Lotte, auf ewig.
Und was ist das, dass
Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für diese Welt - und für
diese Welt Sünde, dass ich dich liebe, dass ich dich aus seinen
Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut, und ich strafe mich
dafür; ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt, diese
Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz gesaugt. Du bist von
diesem Augenblicke mein! Mein, o Lotte! Ich gehe voran! Gehe zu
meinem Vater, zu deinem Vater. Dem will ich's klagen, und er wird
mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse
dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen
Umarmungen.
Ich träume nicht, ich
wähne nicht! Nahe am Grabe wird mir es heller. Wir werden sein! Wir
werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen! Ich werde sie sehen,
werde sie finden, ach, und vor ihr mein ganzes Herz ausschütten!
Deine Mutter, dein Ebenbild."
Gegen eilfe fragte
Werther seinen Bedienten, ob wohl Albert zurückgekommen sei? Der
Bediente sagte: ja, er habe dessen Pferd dahinführen sehen. Darauf
gibt ihm der Herr ein offenes Zettelchen des Inhalts: "Wollten Sie
mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen leihen? Leben Sie
recht wohl!"
Die liebe Frau hatte die
letzte Nacht wenig geschlafen; was sie gefürchtet hatte, war
entschieden, auf eine Weise entschieden, die sie weder ahnen noch
fürchten konnte. Ihr sonst so rein und leicht fließendes Blut war in
einer fieberhaften Empörung, tausenderlei Empfindungen zerrütteten
das schöne Herz. War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie
in ihrem Busen fühlte? War es Unwille über seine Verwegenheit? War
es eine unmutige Vergleichung ihres gegenwärtigen Zustandes mit
jenen Tagen ganz unbefangener, freier Unschuld und sorglosen
Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie ihrem Manne entgegengehen,
wie ihm eine Szene bekennen, die sie so gut gestehen durfte, und die
sie sich doch zu gestehen nicht getraute? Sie hatten so lange gegen
einander geschwiegen, und sollte sie die erste sein, die das
Stillschweigen bräche und eben zur unrechten Zeit ihrem Gatten eine
so unerwartete Entdeckung machte? Schon fürchtete sie, die bloße
Nachricht von Werthers Besuch werde ihm einen unangenehmen Eindruck
machen, und nun gar diese unerwartete Katastrophe! Konnte sie wohl
hoffen, dass ihr Mann sie ganz im rechten Lichte sehen, ganz ohne
Vorurteil aufnehmen würde? Und konnte sie wünschen, dass er in ihrer
Seele lesen möchte? Und doch wieder, konnte sie sich verstellen
gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein kristallhelles Glas offen
und frei gestanden und dem sie keine ihrer Empfindungen jemals
verheimlicht noch verheimlichen können? Eins und das andre machte
ihr Sorgen und setzte sie in Verlegenheit; und immer kehrten ihre
Gedanken wieder zu Werthern, der für sie verloren war, den sie nicht
lassen konnte, den sie - leider! - sich selbst überlassen musste,
und dem, wenn er sie verloren hatte, nichts mehr übrig blieb.
Wie schwer lag jetzt, was
sie sich in dem Augenblick nicht deutlich machen konnte, die
Stockung auf ihr, die sich unter ihnen festgesetzt hatte! So
verständige, so gute Menschen fingen wegen gewisser heimlicher
Verschiedenheiten unter einander zu schweigen an, jedes dachte
seinem Recht und dem Unrechte des andern nach, und die Verhältnisse
verwickelten und verhetzten sich dergestalt, dass es unmöglich ward,
den Knoten eben in dem kritischen Momente, von dem alles abhing, zu
lösen. Hätte eine glückliche Vertraulichkeit sie früher wieder
einander näher gebracht, wäre Liebe und Nachsicht wechselsweise
unter ihnen lebendig worden und hätte ihre Herzen aufgeschlossen,
vielleicht wäre unser Freund noch zu retten gewesen.
Noch ein sonderbarer
Umstand kam dazu. Werther hatte, wie wir aus seinen Briefen wissen,
nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich diese Welt zu
verlassen sehnte. Albert hatte ihn oft bestritten, auch war zwischen
Lotten und ihrem Mann manchmal die Rede davon gewesen. Dieser, wie
er einen entschiedenen Widerwillen gegen die Tat empfand, hatte auch
gar oft mit einer Art von Empfindlichkeit, die sonst ganz außer
seinem Charakter lag, zu erkennen gegeben, dass er an dem Ernst
eines solchen Vorsatzes sehr zu zweifeln Ursach' finde, er hatte
sich sogar darüber einigen Scherz erlaubt und seinen Unglauben
Lotten mitgeteilt. Dies beruhigte sie zwar von einer Seite, wenn
ihre Gedanken ihr das traurige Bild vorführten, von der andern aber
fühlte sie sich auch dadurch gehindert, ihrem Manne die Besorgnisse
mitzuteilen, die sie in dem Augenblicke quälten.
Albert kam zurück, und
Lotte ging ihm mit einer verlegenen Hastigkeit entgegen, er war
nicht heiter, sein Geschäft war nicht vollbracht, er hatte an dem
benachbarten Amtmanne einen unbiegsamen, kleinsinnigen Menschen
gefunden. Der Üble Weg auch hatte ihn verdrießlich gemacht.
Er fragte, ob nichts
vorgefallen sei, und sie antwortete mit Übereilung: Werther sei
gestern abends dagewesen. Er fragte, ob Briefe gekommen, und er
erhielt zur Antwort, dass ein Brief und Pakete auf seiner Stube
lägen. Er ging hinüber, und Lotte blieb allein. Die Gegenwart des
Mannes, den sie liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruck in ihr
Herz gemacht. Das Andenken seines Edelmuts, seiner Liebe und Güte
hatte ihr Gemüt mehr beruhigt, sie fühlte einen heimlichen Zug, ihm
zu folgen, sie nahm ihre Arbeit und ging auf sein Zimmer, wie sie
mehr zu tun pflegte. Sie fand ihn beschäftigt, die Pakete zu
erbrechen und zu lesen. Einige schienen nicht das Angenehmste zu
enthalten. Sie tat einige Fragen an ihn, die er kurz beantwortete,
und sich an den Pult stellte, zu schreiben.
Sie waren auf diese Weise
eine Stunde nebeneinander gewesen, und es ward immer dunkler in
Lottens Gemüt. Sie fühlte, wie schwer es ihr werden würde, ihrem
Mann, auch wenn er bei dem besten Humor wäre, das zu entdecken, was
ihr auf dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut, die ihr um desto
ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Tränen zu
verschlucken suchte.
Die Erscheinung von
Werthers Knaben setzte sie in die größte Verlegenheit; er
überreichte Alberten das Zettelchen, der sich gelassen nach seiner
Frau wendete und sagte: "gib ihm die Pistolen." - "Ich lasse
ihm glückliche Reise wünschen." sagte er zum Jungen. - Das
fiel auf sie wie ein Donnerschlag, sie schwankte aufzustehen, sie
wusste nicht, wie ihr geschah. Langsam ging sie nach der Wand,
zitternd nahm sie das Gewehr herunter, putzte den Staub ab und
zauderte, und hätte noch lange gezögert, wenn nicht Albert durch
einen fragenden Blick sie gedrängt hätte. Sie gab das unglückliche
Werkzeug dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können, und als der
zum Hause hinaus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr
Zimmer, in dem Zustande der unaussprechlichsten Ungewissheit. Ihr
Herz weissagte ihr alle Schrecknisse. Bald war sie im Begriffe, sich
zu den Füßen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdecken, die
Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ihre Ahnungen. Dann
sah sie wieder keinen Ausgang des Unternehmens, am wenigsten konnte
sie hoffen, ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu bereden. Der
Tisch ward gedeckt, und eine gute Freundin, die nur etwas zu fragen
kam, gleich gehen wollte - und blieb, machte die Unterhaltung bei
Tische erträglich; man zwang sich, man redete, man erzählte, man
vergaß sich.
Der Knabe kam mit den
Pistolen zu Werthern, der sie ihm mit Entzücken abnahm, als er
hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er ließ sich Brot und Wein
bringen, hieß den Knaben zu Tische gehen und setzte sich nieder, zu
schreiben.
"Sie sind durch deine
Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt, ich küsse sie
tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist des Himmels,
begünstigst meinen Entschluss, und du, Lotte, reichst mir das
Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte,
und ach! Nun empfange. O ich habe meinen Jungen ausgefragt. Du
zittertest, als du sie ihm reichtest, du sagtest kein Lebewohl!
- Wehe! Wehe! Kein Lebewohl! - solltest du dein Herz für mich
verschlossen haben, um des Augenblicks willen, der mich ewig an dich
befestigte? Lotte, kein Jahrtausend vermag den Eindruck
auszulöschen! Und ich fühle es, du kannst den nicht hassen, der so
für dich glüht."
Nach Tische hieß er
den Knaben alles vollends einpacken, zerriss viele Papiere, ging aus
und brachte noch kleine Schulden in Ordnung. Er kam wieder nach
Hause, ging wieder aus vors Tor, ungeachtet des Regens, in den
gräflichen Garten, schweifte weiter in der Gegend umher und kam mit
anbrechender Nacht zurück und schrieb.
"Wilhelm, ich habe zum
letzten Male Feld und Wald und den Himmel gesehen. Leb wohl auch du!
Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie, Wilhelm! Gott segne euch!
Meine Sachen sind alle in Ordnung. Lebt wohl! Wir sehen uns wieder
und freudiger."
"Ich habe dir Übel
gelohnt, Albert, und du vergibst mir. Ich habe den Frieden deines
Hauses gestört, ich habe Misstrauen zwischen euch gebracht. Lebe
wohl! Ich will es enden. O dass ihr glücklich wäret durch meinen
Tod! Albert! Albert! Mache den Engel glücklich! Und so wohne Gottes
Segen über dir!"
Er kannte den Abend
noch viel in seinen Papieren, zerriss vieles und warf es in den
Ofen, versiegelte einige Päcke mit den Adressen an Wilhelm. Sie
enthielten kleine Aufsätze, abgerissene Gedanken, deren ich
verschiedene gesehen habe; und nachdem er um zehn Uhr Feuer hatte
nachlegen und sich eine Flasche Wein geben lassen, schickte er den
Bedienten, dessen Kammer wie auch die Schlafzimmer der Hausleute
weit hinten hinaus waren, zu Bette, der sich dann in seinen Kleidern
niederlegte, um frühe bei der Hand zu sein; denn sein Herr hatte
gesagt, die Postpferde würden vor sechse vors Haus kommen.
"Nach Eilfe
Alles ist so still um
mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke dir, Gott, der du
diesen letzten Augenblicken diese Wärme, diese Kraft schenkest.
Ich trete an das Fenster,
meine Beste, und sehe, und sehe noch durch die stürmenden,
vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels! Nein,
ihr werdet nicht fallen! Der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und
mich. Ich sehe die Deichselsterne des Wagens, des liebsten unter
allen Gestirnen. Wenn ich nachts von dir ging, wie ich aus deinem
Tore trat, stand er gegen mir über. Mit welcher Trunkenheit habe ich
ihn oft angesehen, oft mit aufgehabenen Händen ihn zum Zeichen, zum
heiligen Merksteine meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht! Und noch
- o Lotte, was erinnert mich nicht an dich! Umgibst du mich nicht!
Und habe ich nicht, gleich einem Kinde, ungenügsam allerlei
Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige berührt hattest!
Liebes Schattenbild! Ich
vermache dir es zurück, Lotte, und bitte dich, es zu ehren. Tausend,
tausend Küsse habe ich darauf gedrückt, tausend Grüße ihm zugewinkt,
wenn ich ausging oder nach Hause kam. Ich habe deinen Vater in einem
Zettelchen gebeten, meine Leiche zu schützen. Auf dem Kirchhofe sind
zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu; dort wünsche
ich zu ruhen. Er kann, er wird das für seinen Freund tun. Bitte ihn
auch. Ich will frommen Christen nicht zumuten, ihren Körper neben
einen armen Unglücklichen zu legen. Ach, ich wollte, ihr begrübt
mich am Wege, oder im einsamen Tale, dass Priester und Levit vor dem
bezeichneten Steine sich segnend vorübergingen und der Samariter
eine Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich schaudre
nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den
Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, und zage nicht.
All! All! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens
erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes
anzuklopfen.
Dass ich des Glückes
hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Lotte, für dich
mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn
ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder schaffen könnte.
Aber ach! Das ward nur wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die
Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod ein neues, hundertfältiges
Leben ihren Freunden anzufachen.
In diesen Kleidern,
Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt; ich
habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt über dem
Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blassrote
Schleife, die du am Busen hattest, als ich dich zum ersten Male
unter deinen Kindern fand - o küsse sie tausendmal und erzähle ihnen
das Schicksal ihres unglücklichen Freundes. Die Lieben! Sie wimmeln
um mich. Ach wie ich mich an dich schloss! Seit dem ersten
Augenblicke dich nicht lassen konnte! - Diese Schleife soll mit mir
begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir! Wie
ich das alles verschlang! - Ach, ich dachte nicht, dass mich der Weg
hierher führen sollte! - Sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!
- Sie sind geladen - es
schlägt zwölfe! So sei es denn! - Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe
wohl!"
Ein Nachbar sah den
Blick vom Pulver und hörte den Schuss fallen; da aber alles stille
blieb, achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um sechse tritt
der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der
Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er fasst ihn an; keine Antwort,
er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte
hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie
weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und
stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem
Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls
schlug, die Glieder waren alle gelähmt. über dem rechten Auge hatte
er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben.
Man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er
holte noch immer Atem.
Aus dem Blut auf der
Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem
Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat
sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das
Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung,
gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.
Das Haus, die
Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein.
Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein
Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge
röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man
erwartete sein Ende.
Von dem Weine hatte er
nur ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag auf dem Pulte
aufgeschlagen.
Von Alberts Bestürzung,
von Lottens Jammer lasst mich nichts sagen.
Der alte Amtmann kam auf
die Nachricht hereingesprengt, er küsste den Sterbenden unter den
heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße,
sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten
Schmerzens, küssten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den
er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er
verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriss. Um zwölfe
mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten
tauschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die
Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der
Leiche und die Söhne, Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für
Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn
begleitet.