Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Nemesis1
Wenn durch das Volk die
grimme2
Seuche wütet,
Soll man vorsichtig die Gesellschaft lassen.
Auch hab ich oft mit Zaudern und Verpassen
Vor manchen Influenzen mich gehütet.
Und ob gleich Amor3 öfters mich
begütet4,
Mocht ich zuletzt mich nicht mit ihm befassen.
So ging mir's auch mit jenen
Lacrimassen5,
Als vier –
und dreifach reimend sie gebrütet.
Nun aber folgt die Strafe dem
Verächter,
Als wenn die Schlangenfackel6
der Erinnen7
Von Berg zu Tal, von Land zu Meer ihn triebe.
Ich höre wohl der
Genien8 Gelächter;
Doch trennet mich von jeglichem Besinnen
Sonettenwut9
und
Raserei der Liebe.
(aus: Johann Wolfgang von Goethe:
Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960
ff, S. 279)
Worterklärungen
1 Nemesis:
»Nemesis
ist in der »griechischen
Mythologie die Göttin des
gerechten Zorns,
der »ausgleichenden
Gerechtigkeit
und wird allgemein als Göttin der Rache angesehen.
2
grimme: schlimme, schwere
3 Amor:
»Amor,
der auch oft Cupido genannt wird, ist
in der »römischen
Mythologie der
Gott und stellt die »Personifikation der »Liebe dar.
4 begütet:
veralt. jmdn. mit Grundbesitz, Gütern ausstatten
5
Lacrimassen: sprachspielerischer Neologismus Goethes, der den
lateinischen Begriff lacrima (= Träne) mit dem Begriff der Grimassen
kombiniert; spielt mit dem "künstlichen" Begriff auf die Künstlichkeit
und Konstruiertheit der lyrischen Form des Sonetts an. Oft wird der
Begriff mit dem »Wilhelm
von Schütz (1776–18479 verfassten Erstlingsdrama Lacrimas in
Beziehung gesetzt, das der ▪
Romantiker ▪
August Wilhelm Schlegel (1767-1845) herausgebracht hatte, aber, auch
wenn es von Parteigängern der Romantik nicht gänzlich fallengelassen
wurde, von der gelehrten Fachwelt auch immer wieder belächelt, wenn
nicht gar verlacht wurde. Wer es Schütz gleichtat, musste sich gefallen
lassen als "Klingklangdichter" oder "Plinseriche"
(Düntzer
1868, S.10) bezeichnet zu werden, also Personen, die sich
ungeschickt anstellen.
6
Schlangenfackel: Die Rachegöttinen
(Erinnyen) verfolgen nach dem griechischen Mythos tragen Schlangen und
Fackeln mit sich herum, während sie Frevlerinnen und Frevler verfolgen,
die von den Erinnyen als personifizierte Gewissensbisse geplagt werden.
7
Erinnen: verkürzte Form für eigentl. »Erinnyen
sind in der »griechischen
Mythologie die drei
Rachegöttinnen »Alekto
(= "die (bei ihrer Jagd) Unaufhörliche", Megaira (deutsch
auch "Megäre", "der neidische Zorn")
und »Tisiphone ("die Vergeltung"
oder "die den Mord Rächende",
die auf griechischen Amphoren häufig mit Hundekopf und
Fledermausschwingen dargestellt wird. Bei den Römern heißen sie
Furien (furia = "Wut, Raserei"). In einem übertragenen Sinn wird mit
Furie eine rasend wütende Frau bezeichnet. Möglicherweise
spielt Goethe hier direkt auf die Verfolgung des
»Orestes
durch die Erinnyen an. Orest ist in der »griechischen
Mythologie der
der Sohn des »Agamemnon und
der »Klytaimnestra.
Nachdem Orest seine Mutter getötet hat, trieben die Erinnyen Orest
in den Wahnsinn und verfolgten ihn und ließen auch lange, nachdem er
vom höchsten athenischen Gericht freigesprochen worden war, nicht
nach, ihm das Leben weiter schwer zu machen.
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8
Genien: Pl. von Genius = Bezeichnung für die
höchste schöpferische Geisteskraft eines Menschen; hier für:
(intellektuelle) "Geister", die auf die Gattung Sonett herabsahen;
vielleicht auch Anspielung auf andere Dichter der Zeit, die das
Sonett deshalb ablehnten, weil es ihrer Vorstellung vom kreativen
dichterischen Prozess, dessen Dynamik sich nicht unter dem Diktat
einer bestimmten Form entfalten konnte.
9
Sonettenwut: h. i. S. von unbändiger
Leidenschaft, Sonette zu verfassen; im Allgemeinen wird diese
Textstelle zitiert, um die weitverbreitete Mode zu kritisieren,
alles Mögliche in die lyrische Form des Sonetts zu bringen.