Ein fiktives Streitgespräch zwischen Johann Wolfgang von
Goethe und Christian Fürchtegott Gellert
Szenerie: Ein
stilvoll eingerichteter Salon des 18. Jahrhunderts. Goethe, der
junge Rebell des Sturm und Drang, steht energisch an einem Fenster,
während der ältere, besonnene Gellert auf einem Lehnstuhl sitzt. Vor
ihnen liegt ein Tisch mit Manuskripten ihrer Gedichte: Gellerts Preis
des Schöpfers und
Goethes Prometheus.
Gellert: Herr
Goethe, Ihr Gedicht Prometheus hat
mich zutiefst befremdet. Wie können Sie es wagen, die Macht Gottes
so unverhohlen herauszufordern? Sie preisen den Menschen, als wäre
er der Schöpfer seiner eigenen Welt! Haben Sie vergessen, dass die
Natur und der Mensch nur Werkzeuge in Gottes höherem Plan sind?
Goethe: Herr
Gellert, ich schätze Ihre Frömmigkeit, doch Ihre Vorstellung von der
Schöpfung erscheint mir zu unterwürfig. Der Mensch ist kein passives
Geschöpf, das starr zu seinem Gott aufblicken muss. Nein, er ist
selbst ein Schöpfer! Durch seinen Geist, seine Hände und seinen
Willen formt er die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen.
Gellert: Und
was ist mit der Ordnung, die Gott in die Schöpfung gelegt hat? Alles
in der Natur zeugt von seiner Weisheit und seinem Willen. Sehen Sie
nicht die Harmonie um uns herum – in der Bewegung der Sterne, im
Wachstum der Pflanzen, im Wirken der Elemente? Es ist unsere
Pflicht, diese Ordnung zu erkennen und den Schöpfer zu preisen.
Goethe: Ordnung,
sagen Sie? Ich sehe in der Natur nicht nur Harmonie, sondern auch
Chaos, Wildheit und Kraft. Diese Widersprüche inspirieren den
Menschen, seine eigene Ordnung zu schaffen. Warum sollten wir in
Demut verharren, wenn wir selbst die Macht besitzen, Neues zu
schaffen? Meine Prometheus-Figur
stellt nicht Chaos gegen Gott, sondern Unabhängigkeit gegen
Unterwerfung.
Gellert: Doch
mit welchem Recht fordert der Mensch diese Unabhängigkeit? Ohne Gott
hätten wir weder Verstand noch Kraft, um überhaupt etwas zu
schaffen. Unsere Werke sind letztlich nur Spiegel seiner
Vollkommenheit. Was wir tun, ist ein Lob seiner Güte, ob wir es
zugeben oder nicht.
Goethe: Verzeihen
Sie, aber das sehe ich anders. Der Mensch schuldet seine Größe nicht
einem Gott, sondern sich selbst. Er formt sein Leben durch seine
Taten, seine Schöpfungen, seine Leidenschaften. Prometheus nimmt
das Feuer der Götter, nicht aus Respekt, sondern aus Trotz. Er
zeigt, dass der Mensch die Kraft hat, sich über jede vorgegebene
Ordnung zu erheben.
Gellert: Ihre
Überheblichkeit erschreckt mich, Herr Goethe. Der Mensch, der sich
über Gott erhebt, läuft Gefahr, die Verbindung zu seiner eigenen
Seele zu verlieren. Ohne den Glauben an etwas Höheres bleibt nur
Leere und Verzweiflung.
Goethe: Vielleicht
ist es diese Leere, die den Menschen antreibt! Gerade in der
Herausforderung, im Kampf gegen diese Leere, zeigt sich seine wahre
Stärke. Warum sollten wir in Ehrfurcht erstarren, wenn wir die Kraft
haben, selbst zu handeln?
Gellert: Und
was ist mit der Demut? Sie sprechen vom Kampf, aber ich sage Ihnen:
Wahre Stärke liegt darin, seine Grenzen zu erkennen und Gott zu
vertrauen. Ihre Prometheus-Figur
ist ein Narr, der sich durch seinen Stolz selbst ins Verderben
stürzt.
Goethe: Vielleicht.
Aber ich wähle das Leben eines stolzen Narren über das eines frommen
Untertanen. Der Mensch ist keine Marionette – er ist ein Künstler,
ein Erfinder, ein Schöpfer. Und genau darin liegt seine Größe.
Gellert: (nachdenklich)
Ihre Leidenschaft ist beeindruckend, aber sie birgt Gefahren. Ich
hoffe, dass Ihre Leser nicht vergessen, dass wahre Erhebung nur in
der Anerkennung des Höchsten liegt.
Goethe: Und
ich hoffe, dass Ihre Leser erkennen, dass der Mensch nur dann
wahrhaft lebt, wenn er wagt, seine Grenzen zu sprengen. Wir sind
keine Schafe, Herr Gellert. Wir sind Feuerträger.
(Die beiden blicken einander an –
Gellert mit Besorgnis, Goethe mit einem Hauch von Triumph. Der
Diskurs bleibt unentschieden, doch in ihren Herzen brennt jeweils
eine Flamme: die eine aus Demut, die andere aus Rebellion.)
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Grundbegriffe zur Gedichtinterpretation
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Leitfragen und Aufgaben
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024