1946 verfasste »Albert
Camus (1913-1960) unter dem Eindruck der furchtbaren Ereignisse
des Zweiten Weltkriegs seinen kleinen Essay • "Prometheus in der
Hölle". Er ist Teil seiner 1954 erschienen Sammlung unter dem
Titel »Heimkehr
nach Tipasa (französischer Originaltitel L’Été, dt. "Sommer"),
die verschiedene autobiographische Essays des französischen
Schriftstellers und Philosophen enthält und ist benannt nach einer
in der Sammlung enthaltenen Erzählung.
Camus teilte unter
dem Eindruck des Infernos, das der Zweite Weltkrieg angerichtet
hatte, die große Sehnsucht vieler Menschen nach einer neuen und
besseren Zukunft. Wie sie hoffte auch er, dass die Unmenschlichkeit,
die sich in den kriegerischen Auseinandersetzungen gezeigt hatte,
endlich einem friedlichen Miteinander über alle Grenzen hinweg Platz
machen und eine Rückbesinnung auf menschliche Werte stattfinden
würde.
In Albert Camus
Sicht auf den Prometheus-Mythos wird dieser zu einer Metapher bzw.
zu einem ersten Symbol für Humanität und Kultur (vgl.
Born
1996). Vor dem Hintergrund seiner Auffassung vom Absurden
interpretiert er den Mythos als Sinnbild für den menschlichen Kampf
gegen das Absurde und die Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit der
Welt.
Ausgangspunkt
seiner Überlegungen ist dabei die Einleitung:
"Was bedeutet uns heutigen Menschen Prometheus? Man könnte
zweifellos sagen, dass dieser gegen die Götter sich aufbäumende
Rebell das Vorbild des heutigen Menschen sei, und dass dieser
Protest, der sich vor Tausenden von Jahren in den Einöden Skythiens
erhob, heute in einer geschichtlichen Umwälzung zu Ende geht, die
ohnegleichen ist." Allerdings bleibt Camus pessimistisch. So steht
für ihn fest: "Kehrte Prometheus wieder, würden die Menschen heute
wie die Götter damals handeln: Sie würden ihn an den Felsen
schmieden im Namen eben jener Menschlichkeit, deren erstes Symbol er
ist."
Die Gründe, die er
dabei anführt, dass die Menschen "jene(m) Heros, der die Menschen
genügend liebte, um ihnen zugleich Feuer und Freiheit, Technik und
Kunst zu schenken", auch heute nicht wirklich folgen, beruhen seiner
Überzeugung unter anderem darauf, dass die heutige Menschheit
"einzig das Technische" erstrebe. Sie entdecke in ihren Maschinen
ihre Stärke und halte die Kunst und deren Ansprüche für ein Hemmnis
und ein Zeichen der Knechtschaft." Prometheus hingegen trenne
Technik und Kunst nicht voneinander. Ebenso glaube der heutige
Mensch immer noch daran, "zuerst den Körper befreien zu müssen", d.
h. seine materiellen Bedürfnisse befriedigen zu müssen, auch wenn
darüber "Geist", vermeintlich nur vorübergehend, zugrunde gehe.
Dabei glaubt Camus allerdings nicht daran, dass der Geist nur
vorübergehend sterben könne.
Der heutige Mensch
habe die Idee des Mythos, als Mensch ein selbstbestimmtes Subjekt zu
sein, verraten und müsse wieder dorthin zurückfinden. Den Weg, um
sich aus der absurden existenziellen Situation von Leid und Elend zu
befreien, in der moderne Mensch lebe, gibt Camus seinen Lesern am
Ende des Essay mit: "Die Mythen leben nicht aus sich selbst.
Sie
warten darauf, dass wir sie verkörpern."
Prometheus ist für
Camus ein Vorbild für den modernen Menschen und mit seiner Autonomie
und seiner Liebe für die Menschen eine Art Leitfigur.
Seine Rebellion
gegenüber Zeus und den Göttern und die Strafe, der er für seine Tat,
den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer zu bringen,
ausgesetzt wird, können ihn nicht brechen. Er erduldet, dass ihm,
der festgekettet am Felsen hängt, der Adler jeden Tag ein
Stück seiner sich nachts wieder erneuernden Leber heraushackt, ohne
im Geringsten von seinen Überzeugungen und Werten abzurücken. Diesem
Ideal müsse sich der moderne Mensch wieder nähern. Wie der
rebellische Prometheus kann sich der Mensch auch unter den
schwierigsten Bedingungen seines absurd erscheinenden Daseins als
autonomes Ich verstehen und zum Herrn über seine Geschichte
machen, und die Welt und ihren Fortgang "sich untertan [...]
machen". Tut er das nicht, bleibt er in seinem absurden Dasein
stecken:
"Der Mensch ist
überall, überall sein Schrei, sein Schmerz und sein Drohen. Inmitten
so vieler zusammengedrängter Kreaturen bleibt kein Ort für das
Zirpen der Grillen. Die Geschichte ist unfruchtbarer Boden, wo kein
Heidekraut wächst. Und doch: Der heutige Mensch hat seine Geschichte
gewählt, und er konnte und sollte sich nicht von ihr abwenden. Aber
statt sie sich untertan zu machen, lässt er sich Tag für Tag von ihr
mehr in die Knechtschaft drängen. Hier verrät er Prometheus, diesen
Sohn ›mit den kühnen Gedanken und dem leichten Herzen‹. Hier
kehrt er zurück zum menschlichen Elend, daraus Prometheus ihn retten
wollte. ›Sie sahen, ohne zu sehen, sie hörten, ohne zu hören, den
Gestalten des Traumes gleich ...‹ " (untergeordnete Zitate aus
der Tragödie von Aischylos, kursiv, d. Verf.)
Das Leiden von
Prometheus steht bei Camus als Metapher für die menschliche
Existenz. Der Mensch ist in eine Welt geworfen, die ihm fremd und
feindselig erscheint. Wenn er nach Sinn und Gerechtigkeit sucht,
findet er oft nur Absurdität und Leid. Doch wie Prometheus kann sich
der Mensch gegen diese Absurdität auflehnen. Er kann sich weigern,
die Ungerechtigkeit der Welt zu akzeptieren und für seine Werte
eintreten und kämpfen.
Indem Camus betont,
dass Prometheus' Rebellion nicht aus Hass oder Verachtung gegenüber
den Göttern entsteht, sondern aus Liebe zu den Menschen, will er
ihnen als Leitfigur Orientierung geben, um ihnen dabei zu helfen,
ihr Schicksal zu meistern und ein erfülltes Leben zu führen.
Prometheus' Aufopferung ist somit auch ein Akt der Solidarität und
ein Zeichen der Hoffnung.
Dabei soll der
Mythos des Prometheus den Menschen daran erinnern, "daß jede
Einschränkung des Menschen nur vorübergehend sein kann, und daß man
dem Menschen nur dient, wenn man ihm ganz dient. Hungert er nach
Brot und nach Heidekraut, und ist es wahr, daß Brot notwendiger ist,
lehren wir ihn die Erinnerung an das Heidekraut bewahren. … Und es
ist dieser bewundernswerte Wille [des Prometheus], nichts zu trennen
noch abzusondern, der immer wieder das leidende Herz der Menschen
versöhnt hat."
In einer Welt, in
der Krieg, Gewalt und Unterdrückung allgegenwärtig sind, ist es,
folgt man Camus, nicht nur wichtig, nur den Prometheus-Mythos im
kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft zu bewahren, sondern ihn zu
verkörpern, d. h. aktiv zu leben, in politisches und soziales
Handeln für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit umzusetzen
(zu "verkörpern"). Insofern lehrt der Prometheus-Mythos als eine der
großen Erzählungen der Menschheit, dass der Mensch aller
Widrigkeiten zum Trotz, und auch ohne einen Gott, die Fähigkeit
besitzt, sich im fortdauernden Ringen um Selbstbestimmung und
Freiheit gegen das Absurde aufzulehnen und für eine bessere Welt
ohne Barbarei zu kämpfen.
An die Aufforderung
von Camus, die
Mythen zu "verkörpern", lassen sich die Gedanken von »Aleida
Assmann (geb. 1947) und »Jan
Assmann (1938-2024) zum kulturellen Gedächtnis anschließen. Sie
verstehen darunter "die Tradition in uns, die über Generationen, in
jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung
gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser
Selbst- und Weltbild prägen." (Jan
Assmann 2006,S.70) Das kulturelle Gedächtnis,
betont Aleida Assman weiter, setze sich nicht einfach fort, sondern müsse
immer wieder neu ausgehandelt, etabliert, vermittelt und angeeignet
werden. Dabei müsse dieses "generationen- und epochenübergreifende
Gedächtnis" mit unterschiedlichen kulturellen Praktiken aufgebaut
werden.Wie die
kulturellen Erinnerungsräume, die
durch kulturelle Praktiken zustande kommen, aussehen und gestaltet
werden, hängt von politischen und sozialen Interessen ebenso ab wie
vom Wandel der technischen Medien. Und die "Erinnerungsräume", die
dabei entstehen, sind "grundsätzlich perspektivisch angelegt; von
einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der Vergangenheit
auf eine Weise beleuchtet, daß er einen Zukunftshorizont
freigibt. Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des
Vergessens profiliert." (ebd.,
S.408)