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Lyrische Texte interpretieren (Schulische Schreibform)
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Vanitas, carpe diem und memento mori: Der Mensch in bipolarer
Spannung
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Barocklyrik
▪ Vanitas-Lyrik
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Vanitas-Motiv und Vanitas-Symbole
Was
Andreas Gryphius
als zentrales Thema seines Sonetts »Es ist
alles eitel« aufgreift kennzeichnet auch sein Werk als Ganzes. Es ist
eines seiner "Vanitas-Sonette" (Meid
22008, S.102) und wird hier unter dem Begriff der ▪
barocken
Vanitas-Lyrik eingeordnet, deren zentrales ▪
Motiv die
Vergänglichkeit (vanitas) darstellt.
Im Vordergrund
steht das ▪ Motiv
der Vergänglichkeit, das eines der populärsten Motive der ▪
Barocklyrik
darstellt.
Das Thema der
Vergänglichkeit menschlichen und allen irdischen Daseins war den
Menschen dieser Zeit stets präsent. Wer den Wirren des ▪
Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), der unglaubliche ▪
Verheerungen über Land und Leute brachte, ebenso ausgesetzt war, für wen
»Hungersnöte
und ▪
Epidemien zum alltäglichen Lebens und seine Risiken einfach
dazugehörte, lebte wohl auch oft mit einem Lebensgefühl
zwischen ▪
Vanitas, carpe diem und memento mori, das mit der ▪ Spannung
zwischen einem allseits bedrohten Leben und einem unstillbaren
Lebenshunger zurechtzukommen hatte. Ein allgemeines
Lebensgefühl, wonach der sogenannte "Barockmensch" nur in dieser
Bipolarität gelebt hätte, ist indessen kaum anzunehmen.

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Trotzdem: Der Tod
jedenfalls gehörte, angesichts der zeitgenössischen Umstände, in
einer Weise zum Leben dazu, wie wir es uns heute kaum mehr
vorstellen können.
Hinzu kam noch, dass "Reformation und Gegenreformation
(...) das Individuum nicht nur einem äußeren Chaos ausgeliefert
(haben), sondern
sie haben auch zu einer inneren Verunsicherung in Glaubensfragen geführt,
in der Gryphius eine gefährliche Unterminierung des Heilsgedankens
erblickt. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in seinen Gedichten das
antithetische Lebensgefühl seiner Zeit mit einem unerschütterlichen
Glaubenspathos verbindet, mit dem oft in fast beschwörender Weise der
Leser direkt angesprochen wird. […]" (Kenkel
1980, S.88)
Typisch für ihn, wie er den Leser bzw. die Leserin direkt zu Beginn
seines Gedichts mit dem zentralen Thema seines Gedichts, der
Eitelkeit der Welt, konfrontiert. Man kann den Eindruck gewinnen,
dass "der Dichter als Wahrheitsverkünder und Seher seine
prophetische Stimme (erhebt)" und zwar "mitten im Rasen des
Krieges", wo er "selbst zum Augenzeugen der Vergänglichkeit
geworden" ist (Szyrocki
1964, S.59)
Die direkte Anrede (Apostrophe)
des Lesers in der Du-Form, ein typisches Merkmal nicht nur seiner
Lyrik im Barock (vgl.
Szyrocki 1997, S.67), welche Traditionen der neulateinischen
Dichtung fortsetzte, bezieht den Leser "von vornherein in eine
Antithetik (ein), die erst aus der letzten Zeile ersichtlich wird,
deren Versrhythmus als einziger mit dem der ersten Zeile identisch
ist. Beide Zeilen zusammen bilden ein Kontrastpaar, das die
dazwischen liegenden zwölf Zeilen in die Polarität von irdischer
Vergänglichkeit und christlicher Ewigkeitslehre stellt." (ebd.)
Auf diese Weise wird die antithetische Struktur des Gedichts mit
Versmaß und der intensiven Bildlichkeit noch stärker betont. Mit dem
Alexandrinervers mit seiner klaren Zäsur nach der dritten Hebung,
"entsteht eine Mitteldiärese*, die es Gryphius ermöglicht, die
zwei Halbverse einer Zeile antithetisch zu gestalten, ohne dabei
gegen den Sprachrhythmus schreiben zu müssen." (ebd.)
Das wiederum hat zur Folge, dass sich "die Bildlichkeit, die
durchgängig auf Kontrastmetaphern beruht, nahtlos in das vorgegebene
Versschema ein (fügt). Die Gegensatzpaare von bauen und einreißen,
von Stadt und Wiese, von Glück und Beschwerden und schließlich von
Ruhm und Traum dienen einzig dem Zweck, die Bedingtheit alles
Zeitlichen, d.h. den Vergänglichkeitsgedanken in konkreten Bildern
dem Leser vor Augen zu führen." (ebd.)
Der Gedanke an die Vergänglichkeit allen Daseins wird in dem Gedicht
von Gryphius mit der Hilfe biblischer Bildlichkeit zu einer
"Schreckensmetaphorik" (ebd.),
die den Leser mahnt: "Betrachte die eigentlichen Werte der
menschlichen Existenz, gedenke deines ewigen Seelenheils,
andernfalls bist du verloren! Dieser offensichtliche
Lebenspessimismus, hervorgerufen durch die tiefe
Glaubenserschütterung seiner Zeit und dargestellt mit fast
missionarischem Unterton, ist typisch für die Gryphsche Lyrik." (ebd.)
WORTERKLÄRUNGEN:
** Diärese (griech.) starke Zäsur: zugleich Ende eines Versfußes und eines
Wortes; typisch für den Alexandriner.