»Arno
Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)
Die
Erzählung "Der erste Schultag" stammt aus dem von »Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941) 1889 unter dem gemeinsamem Pseudonym
Bjarne P. Holmsen gemeinsam verfassten dreiteiligen Erzählband »Papa
Hamlet, der neben dieser noch zwei weitere Novellen ▪
Papa Hamlet und ▪ Ein Tod enthält.
Die beiden Autoren
folgten konsequent der literarischen Programmatik des ▪
Naturalismus (1880-1910) und nutzten den dafür typischen
naturalistischen Sprachstil (▪
sinnlicher Stil). Dabei ging es vor allem, so wie es auch auf
internationaler Bühne Schriftsteller wie z. B. »Fjodor
Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), »Lew
Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910), »Henrik
Ibsen (1828-1906), »Guy
de Maupassant (1850-1893), vor allem aber »Emile
Zola (1840-1902) (z. B. »Les
Rougon-Macquart, 20-bändiges Romanwerk, ab 1869) vormachten,
darum, die Wirklichkeit detailgetreu und exakt zu erfassen, "die
Erscheinungen der Wirklichkeit möglichst deckungsgleich
wiederzugeben, wobei (...) die künstlerische Subjektivität und
Unvollkommenheit der künstlerischen Mittel, möglichst klein zu
halten war, um die Differenzen zwischen Realität und Abbild
auszuschalten." (Hoffacker
31989, S.311)
"Der erste Schultag"
erzählt die Geschichte des Tages, an dem der kleine Jonathan, der
Sohn eines Apothekers, zum ersten Mal in die Schule geht. Der Junge
freut sich auf die Schule und kann es kaum erwarten, "dort so klug zu werden, dass man zuletzt ein
Geographiebuch hatte und Afrika draus lernte" . Er will "dort
so klug wie Papa werden". Mit allem ausgestattet, was ein
Schulanfänger braucht, einer neuen Schiefertafel, einer Fibel und
seinem Federkasten und einem Blumenstrauß, den seine Mutter eigens
für seinen neuen Lehrer gebunden hatte und einer Geldmünze, die ihm
sein Vater zugesteckt hat, sieht er dem so einschneidenden Ereignis
der Einschulung mit großer Freude entgegen. Doch was er in der
Schule erlebt, entwickelt sich zu einem Alptraum für ihn.
Der für seine
Prügeleien berüchtigte Rektor Borchert, für den die neuen Schüler
"Schweinzeug" waren, dem man erst einmal Gehorsam beizubringen
hatte, zog von Anfang an alle Register der üblichen ▪ "schwarzen
Pädagogik" seiner Zeit, um die
kleinen Jungen in Angst und Schrecken vor seiner strafenden
Autorität zu versetzen.
Drei Stunden lang
verlangt er von den Kindern, stumm, ohne jede Regung auf ihrer
harten Schulbank zu sitzen und mit gesenktem Kopf in das Tintenfass
zu sehen, das auf ihrer Bank steht. Andernfalls droht er mit dem
"Fuchsschwanz", um diejenigen, die sich nicht daran hielten,
körperlich zu züchtigen.
Das Szenario in der
Schule kontrastiert dabei mit dem Jahrmarktsgeschehen außerhalb, wo
sich, eigentlich durch die Fenster des Klassenzimmers gut sichtbar,
ein Seiltänzer aufmacht, seine Kunststücke in schwindelnder Höhe
aufzuführen. Im Klassenzimmer statuiert Rektor Borchert, ein Ausbund
antisemitischer Vorurteile, ein Exempel an dem kleinen jüdischen
Jungen namens Lewin, der die groteske Situation nicht mehr aushält
und einen Lachanfall bekommt.
Die Schulglocke
beendet den ersten Schulvormittag, ohne dass es zu weiteren
Gewaltexzessen des Rektors kommt. Die "Knubbels", wie der Rektor
seine misshandelten Schützlinge nennt, stürmen aus dem Schulgebäude
hinaus. Doch Jonathan, der nach diesen schrecklichen Erlebnissen
nicht mehr nach Hause wollte, sondern nur noch zu seinem geliebten
Opa Lorenz, der im Wald in der Nähe der Bauernvorstadt wohne,
kommt auf dem Heimweg vom Regen in die Traufe. Erst begegnet
ihm noch einmal Rektor Borchert und dann trifft er ausgerechnet auf
Kotel Thiel, einen halbwüchsigen Quintaner, der sich um die Schule
wenig schert und wo er auftaucht, Unfug macht und Unruhe stiftet. Er
gehört zu den Straßenjungs, die man "Pudels"
nennt, und hat offenbar eine besondere Freunde daran, die Jüngeren
und Schwächeren zu schikanieren, zu bedrohen und zu quälen. Unter
Androhung von Gewalt mit seinem Messer
zwingt er Jonathan zur Herausgabe der Geldmünze, die er an
diesem Morgen anlässlich seines ersten Schultages von seinem Vater
geschenkt bekommen hat. Als Kotel Thiel mit seiner Beute davonzieht,
versteckt sich der völlig verängstigte Jonathan irgendwo und wagt
sich erst am Abend wieder heraus, um seinen Weg zu seinem Opa
fortzusetzen.
Arno Holz und Johannes Schlaf,
Der erste Schultag (1889)
III
Endlich, am Abend, als die Sonne schon rot hinter den stillen,
schwarzen Tannen stand, wagte sich der kleine Jonathan wieder aus
seinem Versteck. Sein
ganzes schönes, neues Kittelchen
war mit Moos
beklebt, seine kleinen, kurzen Stulpstiefelchen staken voll Erde. Er
war furchtbar hungrig!
Wenn er sich jetzt nicht zu dem alten Lorenz
traute und um ein
Stückchen Brot bettelte, musste er sterben. Dann zerrissen ihn die
Wölfe, und die Krähen hackten ihm die Augen aus. Dann war er so tot
wie der kleine Lewin.
Er war wieder stehngeblieben.
Ein großer, roter Strauch hatte ihm hinten in sein zerrissenes
Kittelchen einen Dorn eingehakt. Die dicken, blauen Beeren dran
waren gewiss giftig.
Oh, er konnte nicht einmal mehr weinen!
Die Farren standen hier noch so hoch, dass sie ihm bis über den
Bauch reichten. Ein Bündel Glockenblumen schwamm wie eine kleine,
blaue Insel drin. Die großen, bunten Schmetterlinge drüber waren
alle schon schlafen gegangen. Über einer kleinen, runden Lichtung
spielte nur noch ein dicker, dunkler Schwarm Mücken in der goldnen
Luft. Jetzt, irgendwo in der Ferne, sang ein Vogel Bülow. Der ganze
Wald roch nach Pilzen.
Der kleine Jonathan seufzte. Er konnte sich kaum noch
weiterschleppen.
Seine Händchen waren ihm dick geschwollen, seine langen, braunen
Locken hingen ihm wirr über die kleine, weiße Stirn und über die
großen, blauen Augen drunter, die ihm wehtaten. Bei jedem Schritt
über die dicken, braunen Wurzeln unten stolperte er.
Der alte Lorenz war dem kleinen Jonathan sein bester Freund. Er kam
immer unten in die Apotheke und verkaufte Kräuterchen.
Sein kleines, rotes Häuschen stand draußen dicht am Waldrand. Aus
seinen beiden niedrigen Fensterchen, hinter denen das ganze Jahr
durch immer Goldlack, Fuchsien und Verbenen blühten, konnte man
grade unten auf die vielen alten, spitzen, grauen Dächer sehn.
Oben auf seinem kleinen, kohlschwarzen Schornsteinchen saßen heute
zwei Tauben, die sich schnäbelten. Die dicken, dunklen Tannen
drüber, die jetzt im Abendwinde leise ihre spitzen, vergoldeten
Kronen schaukelten, duckten ihre starren, untersten, grünen Äste bis
grade dicht auf ihr weiches, weißes Gefieder. Der alte, dicke, faule
Plumpsack Pluto unten lag quer vor der Tür und schnarchte. Die
kleinen, breiten Fensterchen zu beiden Seiten blitzten, der ganze,
weiche Waldboden davor war mit Stroh bestreut.
Dazwischen die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen, die nach
Regenwürmern pickten und dabei in einem fort gackerten.
Der kleine Jonathan atmete tief auf. Er hatte sich eben hinten durch
das kleine, grüne Petersiliengärtchen verstohlen über die graue,
ausgetretne Steinschwelle geschlichen und stand nun
mitten in dem
langen, schmalen, dunklen Flur.
Die Sonne, die von vorn her schräg durch die runde, rissige Tür
schien, deren untere, viereckige Hälfte offenstand,
lag noch auf
einem Teil des Fußbodens. Er war rot geziegelt. Der kleine Jonathan
hatte sich jetzt mit seinem kleinen, runden Kopf schwer gegen die
dicke, weiße Wand gelehnt. Sie war eiskalt! Er fühlte, wie ihm
sein kleines Herz klopfte. Seine Augen hatte er fest zugemacht ...
Rechts hinter der dünnen, braunen Tür, die in die große, blaue
Wohnstube führte, hörte er deutlich, wie in das Ticken der alten
Kuckucksuhr etwas schnurrte.
Schnurr ... schnurr ...schnurr ...
Das war das kleine, rote Eichkaterchen drin, das sein Bauerchen
drehte.
Dazwischen über ein morsches Holz tippelte etwas mit seinen Pfoten.
Tipp-tapp ... tipp-tapp ... tipp-tapp ...
Immer hin und her! Immer hin und her!
Das war der alte Rabe Jakob, der wieder spazierenging.
Der kleine Jonathan hörte es ganz deutlich! Ab und zu blieb er stehn
und schimpfte.
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Dann blieb das kleine, rote Eichkaterchen jedes Mal ganz erschreckt
sitzen, und alles war wieder eine Zeitlang ganz still.
Ganz still ...
Der kleine Jonathan hatte jetzt seine Augen wieder groß aufgemacht.
Die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen draußen, ab und zu,
gackerten, der alte, dicke Pluto, der mit seinem grauen Hinterteil
noch grade vorn in das rote, warme Sonnenviertel reichte,
schnarchte, die Tauben oben über dem Dache gurrten, die Tannen
drüber rauschten.
Der kleine Jonathan horchte.
Das war grade wie ein Märchen! Das war wie das Haus von der alten
Hexe ...
Nur der alte Papa Lorenz ließ sich nicht hören! Der saß jetzt
wahrscheinlich wieder in dem großen, ledernen Lehnstuhl neben dem
Fenster und schlief. Bloß, er schnarchte heute nicht!
Der kleine Jonathan schwankte noch. Endlich aber fasste er sich ein
Herz.
Er stellte sich auf Spitzzehen und klinkte den runden, eisernen
Drücker auf.
»Schnurr ... schnurr ... schnurr ... Dummkopf!«
Er stand jetzt mitten in der Stube!
Die Sonne, die schräg durch das breite, niedrige Fensterchen
fiel, schien dem alten Vater Lorenz grade mitten in den alten,
runzligen Mund. Er stand groß auf und hatte keine Zähne mehr. Vorn
auf seiner dicken, blauen Zunge saß eine kleine Fliege. Sie putzte
sich eben ihre schwarzen Hinterbeinchen.
Ganz erschreckt war der kleine Jonathan stehngeblieben.
Noch nie hatte er gewusst, dass ein Mensch so die Augen aufhatte,
wenn er schlief!
Der alte Papa Lorenz hatte sie starr oben auf den großen, weißen
Balken an der Decke gerichtet, von dem an dem roten, zerrissenen
Schnupftuch noch vom vergangenen Winter her das alte, leere,
hölzerne Vogelbauerchen baumelte.
Seine runde, blaue Brille, die in der Mitte dick mit Werg umwickelt
war, saß ihm grade vorn auf der dünnen, schneeweißen Nasenspitze.
Rechts und links auf den blanken, ledernen Lehnen seine beiden
Hände. Die Finger dran alle weit auseinandergespreizt, die dicken,
blauen Adern drum schwarz geschwollen.
Seine schöne, neue, lange Pfeife war ihm eben ausgegangen. Sie stak
mitten zwischen seinen alten, dünnen Beinen, die heute dick mit
weißen Lappen umwickelt waren.
»Dummkopf!«
Der kleine Jonathan war unwillkürlich zurückgeprallt.
So zornig hatte er den alten Raben Jakob noch nie gesehn.
Die dünnen, schwarzen Federn auf seinem Rücken hatten sich
gesträubt, seine Augen funkelten.
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Er hackte jetzt mit seinem großen, schwarzen Schnabel wie wütend auf
das breite, morsche Fensterbrett ein.
Die vielen kleinen, bunten Blumentöpfe drauf wackelten, von den
mittelsten Fuchsien plumpten jetzt nacheinander drei dicke, rosa
Blüten runter.
Der kleine Jonathan sah alles ganz genau!
Er hatte sich nach und
nach bis hinten hinter das grüne, wacklige Küchentischchen
geflüchtet.
Die erste lag unten mitten in dem kleinen, weißen Zuckerschälchen,
die zweite hing der großen, himmelblauen Kaffeetasse dicht daneben
noch grade schief über den dünnen abgeschabten Goldrand, die dritte
war gleich dahinter mitten in die tiefe, runde, grünbraune
Schnupftabaksdose gefallen. Quer davor aus dem alten, rotgefütterten
Lederfutteral stak das Rasiermesser von dem alten Vater Lorenz!
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Seine beiden alten, welken Hände waren kraftlos rechts und links
über die Lehnen runtergeschlottert, seine Pfeife lag jetzt unten
mitten zwischen dem blauen Blumenschatten. Das dicke, schwarze Vieh
hatte sich ihm eben mitten auf den Bauch plumpen lassen.
Der kleine Jonathan zitterte an allen Gliedern.
Der alte Papa Lorenz schlief noch immer!
Seinen dicken, schwarzen Schnabel hatte der alte Rabe Jakob mitten
in die alte, blassrote Flanelljacke gehakt. Um nicht unten in die
dicke Pfeifenasche zu fallen, schlug er dabei wütend mit den
Flügeln. Sie waren kurz und an ihren Enden abgehackt. Jetzt hatte er
endlich auch den ersten großen, runden Hornknopf zu packen gekriegt.
Er biss sich dran fest! Die Nähte drumrum krachten, er kletterte
langsam in die Höhe. Er konnte jetzt vor lauter Wut nicht einmal
mehr schreien. Er krächzte nur noch.
»Kraah ... kraah ... kraah ...«
Der kleine Jonathan hatte sich jetzt bis ganz hinten hinter den
großen, grünen Kachelofen verkrochen.
Eine entsetzliche Angst hatte
ihn gepackt. Er wollte schreien! Großvater!! Aber er konnte nicht!
Seine kleine Kehle war ihm wie zugeschnürt ...
Der alte Vater Lorenz saß noch immer da. Die kleine, schwarze Fliege
aus seinem Munde war aufgesurrt und stieß jetzt mit ihren kleinen,
blauen, glasharten Flügelchen fortwährend gegen den dicken, weißen
Balken oben.
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Das kleine, rote Eichkaterchen in seinem Bauerchen hatte sich mit
seinen krummen Pfoten vorn in die Drahtsprossen gehakt und sah
neugierig nach dem Raben rüber. Der war das rotgestreifte Kissen in
die Höhe bis oben auf den Lehnstuhl geklettert und saß nun dem alten
Vater Lorenz grade mitten über dem Kopfe. »Dummkopf! Dummkopf!
Dummkopf!«
Seine spitze, abgelederte Brust hatte sich ihm dick aufgebläht,
seine schwarzen Flügel schlugen.
Der kleine Jonathan hätte am liebsten zu weinen angefangen.
Wenn der alte Papa Lorenz jetzt nicht endlich aufwachte, hackte er
ihm den Kopf ab!
»Großvater! Großvater!«
Ah! Jetzt hatte das alte, schwarze Vieh ihn gesehn.
Seine
Schwanzfedern hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten. Fast
wäre es mit seinem dicken, schwarzen Schnabel vornübergewippt. Aber
er hielt sich noch!
»Kraah! Kraah!! Kraah!!!«
Mit einem Ruck war es jetzt dem alten Lorenz mit seinen scharfen,
spitzen Krallen auf den alten, nackten Kopf gesprungen.
»Kraah!!!«
Dem kleinen Jonathan war es eiskalt über den Rücken gelaufen.
Der alte Papa Lorenz hatte nicht einmal Muck gemacht! Sein Kopf war
lautlos vornübergewippt, die Kinnlade unten auf die rote,
eingefallne Brust gestoßen, der Mund grässlich zugeklappt und die
kleine, schwarze Fliege drin, die sich eben wieder auf seine Zunge
gewagt hatte, begraben. Der alte Rabe Jakob aber war bis unten auf
die gelben, schrunzligen Dielen mitten in die dicke, graue
Pfeifenasche gekullert.
»Kraah! Kraah!!«
Er hatte sich wieder aufgerappelt und kam sehr zornig auf den
kleinen Jonathan zugehumpelt.
»Kraah! Kraah!«
Über die Pfeife stolperte er.
»Kraah!«
Das kleine, rote Eichkaterchen drehte wieder wie toll sein
Bauerchen.
Schnurr ... schnurr ... schnurr ...
Der kleine Jonathan hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Er
wusste von nichts mehr!
Nur noch die Mama, die Mama!
Als er sich dann aber draußen über den alten, dicken Pluto weg
mitten unter die kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen stürzte, schlugen
von unten aus der Stadt her grade die Glocken an. Feierabend!
Das war dem kleinen Jonathan sein erster Schultag.
Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet. Frankfurt a.M. 1979,
S. 85-123.
http://www.zeno.org/nid/20005096502 – gemeinfrei – behutsam an
die moderne Rechtschreibung angepasst
»Arno
Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)