»Arno
Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)
Die
Erzählung "Der erste Schultag" stammt aus dem von »Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941) 1889 unter dem gemeinsamem Pseudonym
Bjarne P. Holmsen gemeinsam verfassten dreiteiligen Erzählband »Papa
Hamlet, der neben dieser noch zwei weitere Novellen ▪
Papa Hamlet und ▪ Ein Tod enthält.
Die beiden Autoren
folgten konsequent der literarischen Programmatik des ▪
Naturalismus (1880-1910) und nutzten den dafür typischen
naturalistischen Sprachstil (▪
sinnlicher Stil). Dabei ging es vor allem, so wie es auch auf
internationaler Bühne Schriftsteller wie z. B. »Fjodor
Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), »Lew
Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910), »Henrik
Ibsen (1828-1906), »Guy
de Maupassant (1850-1893), vor allem aber »Emile
Zola (1840-1902) (z. B. »Les
Rougon-Macquart, 20-bändiges Romanwerk, ab 1869) vormachten,
darum, die Wirklichkeit detailgetreu und exakt zu erfassen, "die
Erscheinungen der Wirklichkeit möglichst deckungsgleich
wiederzugeben, wobei (...) die künstlerische Subjektivität und
Unvollkommenheit der künstlerischen Mittel, möglichst klein zu
halten war, um die Differenzen zwischen Realität und Abbild
auszuschalten." (Hoffacker
31989, S.311)
Arno Holz und Johannes Schlaf,
Der erste Schultag (1889)
I
Der
Herr Rektor Borchert saß auf seinem Katheder und ging die
eingelaufenen Briefe durch.
Es waren wieder drei Stück. Der erste
war auf grobem, grauem Armeleutspapier geschrieben und kaum zu
entziffern.
Er lautete:
»Herr Borchert
Ich mus ser bedauern das ich Ihnen mit meine wenigkeit belästigen
mus
da sie mein 6 Jähries Mendchen so gebrigelhaben das nach drei
Tage noch braun un blau aus sa da ich mich genöthich finde andre
wege zu suchn denn das kann mol ein jeder drum bezale ich mein
Schulgelt nich das is nu zu zweiten mal das das Kind zu Hause komt
one ein Knopff an das kleid zu habn das andre Kindr ihr die sticken
nachbringen
Frau Gorges.«
Herr Borchert hatte das Schreiben wieder sorgfältig
zusammengefaltet und steckte es vorsichtig in sein Kuvert zurück.
No. 167!
Mit Blaustift! Das hob sich so besser ab und war übersichtlicher ...
An der Sieben besserte er noch ein klein wenig nach. Der Haken
hinten schien ihm noch nicht schwungvoll genug.
So!
Der gehörte in die Schublade rechts. Die Schublade links war für die
»Knubbels« reserviert –
Neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Er nahm jetzt einen kleinen,
behaglichen Schluck draus und
ritzte dann auch den zweiten Brief
auf.
Dieser war womöglich noch undeutlicher geschrieben und nicht einmal
frankiert gewesen. Aber das tat nichts.
Diese reizende kleine Sammlung war ja seine einzige Freude ...
Er las:
»Herr Lehrer.
Ich bitte mein Sohn Emil zu enschulligen weil er die Schule versäumt
er hatt so schlimme Augen da bitte ich schon in Bischen Rücksicht zu
nehmen und mächte si zuchleich bitten den Kindern nicht so
ausverschämt zu hauhen des sie abgeschunden zu hause kommen
Herzlichen Gruß Frau Munk.«
No. 203 a!
Herr Borchert hatte seine kleinen, pechschwarzen Ferkeläugelchen
prüfend dem interessanten Dokument genähert.
Gelbes Konzeptpapier und die Linien drauf mit dem stumpfen Ende
einer Schere gezogen!
No. 203 a!
Das Blau drauf nahm sich sehr schön aus. Nur den
Fettfleck! Den
Fettfleck hier links neben der Unterschrift hätte sich die gute Frau Munk sparen können!
Er hatte sich jetzt hinten sein
großes, rotbaumwollnes Taschentuch aus der Rocktasche gezogen
und schnäuzte sich. Dagegen!
Dieses dritte
Ding! Ordentlich manierlich!
Die Linien auf dem blassrosa Kuvert waren augenscheinlich zuerst mit
Bleistift gezogen und dann sorgfältig nachradiert. Außerdem wies
auch die Rückseite noch ein Siegel auf, zu dessen Petschaft ein
Zwölfschillingsstück gedient hatte. Es sah gradezu wohlhabend aus!
Das zierliche Briefchen lautete:
»Sehr geehrter Herr Borchert!
Ich frage gehorsamst an warum Sie mein Kind am 31. dieses Monatts
das Gesicht blau geschlagen haben, oder ob Sie überhaupt das Recht
dazu haben, ein Kind so zu schlagen dass es im Gesicht blau ist,
denn wenn das Kind würde am Gehör davon leiden, was leicht möglich
sein kann, würden und könnten Sie Ihn die Gesundheit wieder
schaffen? Geehrter Herr Sie wissen vielleicht nicht wie sauer einem
die Kinder werden, Ich habe mein Gott gedanckt dass ich gesunde
Kinder habe und nun bin ich nich willens; dass ich, Meine Kinder von
Ihn ungesund schlagen lasse, also ich bitte Sie dass nich noch
einmal zu riskiren sonst konnte es etwas darauf folgen.
Hochachtungsvoll Frau Kuhlmann,
Georgenstraße 19.«
Herr Borchert lächelte.
Nummero zweihundertundvier!
Wenn er sich nicht irrte, war diese liebenswürdige Frau Kuhlmann
schon seit zirka einem Vierteljahr Witwe. Herr Kuhlmann musste ihr
so eine Art Seifenladen hinterlassen haben. Hm ...
Was nun?
Er gähnte. Ein Riss oben, mitten in der weißen Decke, interessierte
ihn lebhaft.
Eine kleine Weile verging
Sssss ... ssss ... sss ...
Ein dicker, blauer Brummer stieß mit seinem Schädel fortwährend
gegen das Fenster und summte.
Ah! Richtig! ... Die Noten! Er wollte ja heute noch Notenlinien
ziehen.
Bon!
Er entkorkte das Tintfass. Die dicke, dumme musca domestica hatte
aufgehört, gegen die Scheibe zu stoßen, seine Feder pflügte
regelmäßig über das Papier ...
In der Klasse war es ganz still. Die
Vormittagssonne, die durch
alle drei Fenster zugleich schien, füllte den ganzen Raum. Er war
viereckig und mit einer sehr hässlichen, blauen Wasserfarbe
angemalt.
Kein Kind rührte sich!
Sie hatten alle ihre kleinen, dicken Händchen fest zusammengefaltet
und nun vollauf damit zu tun, ihren Atem möglichst regelmäßig durch
ihre kleinen, kreisrunden Naslöcherchen zu blasen. Sie brauchten
dabei zugleich nicht so den fremden, aus Lack und Schulstaub
gemischten Geruch in sich einzuziehen, der in dem ganzen Zimmer die
einzige Luft war.
Ihre kleinen, kirschroten Mäulerchen dabei aufzusperren, trauten sie
sich nicht. Der Herr Rektor Borchert, der vorn vor der großen,
schwarzen Tafel hinter dem grauenhaften, gelben Holzgestell
wie ein
alter, hungriger Rabe dasaß, der auf ein Stück Fleisch lauerte,
beobachtete sie zu scharf. Es war wirklich schrecklich! Namentlich
wenn man so dumm war und vorn auf der ersten Bank saß ...
Die Fliegen, die ihnen über die Nasen liefen, hatten gut beißen. Die
kleinen »Knubbels« zwinkerten nicht einmal mit den Augen. Der Herr
Rektor Borchert hatte es ihnen streng verboten. Sie sollten sie nur
alle still in die Tintfässer vor sich stecken und ihn nicht so
anglupen. Sonst gab's was mit seinem Fuchsschwanz! Oh!!
Natürlich taten die kleinen Würmerchen das auch und sahen alle sehr
ernsthaft aus. Nur schrecklich rot waren sie dabei.
Ja! Es war ganz still in der Klasse ...
Draußen, hinter dem großen, runden Kastanienbaum, der mit seinen
schönen, bunten Blüten in einem fort gegen das dritte Fenster
schlug, funkelte eine Turmspitze in den Himmel.
Sonst sah man weiter nichts.
Nur drüben, hoch, auf der anderen Seite des Marktes, die alte
Rathausuhr, die auf ihrem schrägen, lichtblauen Schieferdach
wie ein
runder, weißer Klecks lag.
Die kleine, schwarze Luke drunter war heute mit dem großen, goldnen
Spicker drüben, der sich aber auf der Wetterseite bereits dick mit
Grünspan überzogen hatte, durch ein Seil verbunden. Dieses Seil war
dick mit Kreide beschmiert und zerschnitt den Himmel in zwei große,
dunkelblaue Hälften. Denn
es war heute Jahrmarkt im Städtchen.
Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, wollte dort
unter hohem Permiß eines gestrengen Herrn Bürgermeisters einem
geneigten Publico mit seinen halsbrecherischen Produktionen
aufwarten. Auf
dem großen, zeisiggrünen Plakat, das der dicke Metzelthien schon am vergangenen Sonnabend unten an die Rathaustür
geklebt hatte, war das alles aufs schönste abgemalt gewesen.
Die »Knubbels« wussten das.
Ihre kleinen, verstockten Herzen schlugen, wenn sie daran dachten.
Jeden Augenblick konnte jetzt dieser schreckliche Ari-ben-Aribell
seinen Kopf, der ganz rot und weiß war und
grade wie bei einem
Teufel aussah, drüben aus dem Rathausdach stecken und dann mit
seinen merkwürdigen, großen, kirschroten Strümpfen, die ihm hinten
bis an den Popo gingen, mitten durch den Himmel bis hoch oben grade
auf die Kirchturmspitze klettern! Dort sollte er sich dann mitten
auf die große, goldne Kugel stellen und einen wirklichen,
schneeweißen Vogel in die Luft werfen! Eine Taube oder einen
Lämmergeier! Diese Taube oder dieser Lämmergeier flog dann dreimal
rund um die ganze Stadt rum und setzte sich dann zuletzt wieder auf
seine goldpapierne Mütze zurück!
Kotel Thiel, der aber
ganz und gar bucklig war und dabei mit seinem
Finger in das Plakat noch ein großes, rundes Loch gebohrt hatte, Kotel Thiel hatte sogar erzählt, dass er zuletzt auch noch aus einem
großen, unsichtbaren Sack allerlei Raritäten –
Zuckerkringel,
Knackmandeln und Apfelsinen! – unten unter die Pudels werfen würde!
Die »Pudels« waren die Straßenjungens.
Ja! Die! Die!!
Zuckerkringel, Knackmandeln und Apfelsinen! Und nun musste man hier
still in der Schule sitzen und seine Augen immerzu in die dummen,
langweiligen, schwarzen Tintfässer stecken.
Es war wirklich zu schrecklich!
Die Sonne, die bis jetzt nur über die Wand und
die vielen
kleinen, grünen Mützen dran gestrichen war, hatte sich unterdessen
endlich auch an das Katheder herangewagt und
fing nun an, dem Herrn
Rektor Borchert die Fäden an seinem schwarzen Rockärmel
nachzuzählen.
Seine Notenfeder hatte er wieder weggelegt. Er
pulte sich jetzt mit
seinem Federmesserchen die Nägel aus.
Vor ihm stand ein großes, viereckiges Ding, in dem lauter rote,
kupferne Drähte aufgespannt waren, auf die man wieder sehr, sehr
viele bunte Kugeln gespickt hatte.
Das war die Rechenmaschine.
Wenn der Herr Rektor Borchert wollte, konnte er sie stellen, wie er
Lust hatte. Aber er hatte heute keine. Er pulte sich nur die Nägel
aus ...
Plötzlich sah der Herr Rektor Borchert auf. Hinten, dicht neben
der Tür, hatte eben eine Bank geknarrt.
Die »Knubbels« hatten sich
alle unwillkürlich tiefer geduckt. Seine kleinen, zugekniffenen
Ferkeläugelchen sahen jetzt grün aus. Der
kleine Jonathan, der ihn
die ganze Zeit über angeschult hatte, steckte seine großen, blauen
Jungensaugen wieder schnell in sein Tintfass.
Ari-ben-Aribell hätte jetzt getrost aus seiner Dachluke klettern
können. Nicht um alle Zuckerbrezeln der Welt hätte der kleine
Jonathan nach ihm hinschmustern mögen.
Aber er hätte es ruhig tun können! Der Herr Rektor Borchert hatte
sich schon längst wieder beruhigt.
Die Sache war eben, dass das
»Schweinzeug« vor ihm Respekt hatte. Und das »Schweinzeug« hatte
Respekt vor ihm.
Den Teufel auch!
Das »Schweinzeug« war seine Klasse. Sie anders zu titulieren war ihm
noch nie eingefallen. Die einzelnen Individuen hießen »Knubbels«.
Ja! Es war alles wieder ganz still. Nur die Fliege, die wieder
summte, und dahinter das dunkle, dumpfe Gebrande, das unten vom
Markt her an die hohen, festen Doppelfenster schlug.
Dazwischen ab
und zu eine Knubbelnase, die schnurchelte ...
Der kleine Jonathan saß da wie tot.
Seit heute morgen hatte er vor dem Herrn Rektor Borchert einen
furchtbaren Respekt bekommen. Kotel Thiel war nicht halb so schlimm!
Schon sein Gesicht war so grässlich!
Er sah es überall!
Draußen auf dem großen, runden Kastanienbaum, der mit seinen Blüten
wie ein Weihnachtsbaum aussah, musste es jetzt grade oben auf der
Spitze umhertanzen.
Wipp-wapp-wipp-wapp-wipp-wapp – immerzu, immerzu!
Auch jetzt, aus dem hässlichen, schwarzen Tintfass schwamm es in die
Höhe!
Der kleine Jonathan sah es ganz genau.
Es war weiß und dick, wie aus Mehlkleister gemacht, und
hatte als
Augen zwei kleine, funkelnde Rosinen drin. Dabei hatten sich
seine
Haare wie solche Schweinsborsten in die Höhe gesträubt und waren
knallrot. Außerdem hatten ihm auch die Sommersprossen die ganze
dicke Nase noch mit gelben Pickeln betupft. Sicher, er sah
noch
scheußlicher aus als der Schornsteinfeger Killkant!
Der kleine Jonathan war trostlos.
Nein! Lieber machte er seine Augen schon fest zu. –
Oh! Heute morgen!
Er hatte sich so gefreut! So zum ersten Male in die Schule gehn zu
dürfen und
dort so klug zu werden, dass man zuletzt ein
Geographiebuch hatte und Afrika draus lernte, gewiss, das war zu
schön! Zu schön!
Seine neue, rotlinierte Schiefertafel war so hübsch rein abgewischt
gewesen, seine Fibel in solch einen dicken, blauen Umschlag gehängt
und sein Federkasten, der ganz mit Abziehbildern beklebt war, voll
lauter Steingriffel.
Kaffee hatte er schon gar nicht mehr getrunken. Er hatte nur immer
am Fenster gestanden und an dem
schönen, bunten Blumenstrauß
gerochen, den er dem Herrn Rektor auf das große Klassenbuch legen
sollte.
Gewiss! Er wollte nur noch immer in die Schule gehn!
Nur noch immer
in die Schule und dort so klug wie Papa werden!
Ach! Dass das so schwer war, hatte er nie gedacht!
So drei ganze, ausgeschlagene Stunden auf ein und derselben dummen
Bank sitzen und dabei immer in ein und dasselbe dumme Tintfass sehn
müssen war keine Kleinigkeit. Ja! Es war sogar eine Gemeinheit! Eine
richtige Gemeinheit! Man durfte nicht einmal husten!
Und dann – der schöne, schöne bunte Strauß!
Das alte Pferd hatte ihn
genommen und zum Fenster rausgeworfen!
Dummheit! hatte es gesagt, Dummheit! Blumen stinken! Pfui!
Und dabei hatte doch Mama sie gepflückt, und das blaue Band drum
hatte Mama auch gebunden und Mama hatte sich so gefreut und Mama war
so gut und ... Nein! Es war zu gemein! Zu gemein!
Der kleine Jonathan war in Tränen ausgebrochen. – –
Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der dicht neben ihm saß und
schon seit einer halben Stunde wirklich gar zu gerne mal
»rausgegangen« wäre, nahm die Gelegenheit wahr und weinte gleich
mit.
Hinter ihm saß der kleine Lewin.
Ihm war eben eine Fliege ins Genick gekrochen und dann so lange auf
ihm rumgetappelt, bis sie ihm jetzt richtig mitten vorn auf dem
Bauch saß.
Er hätte es natürlich am liebsten ebenso
gemacht wie der dicke,
dumme Apothekerjunge. Aber der
schauderhaft dicke Fuchsschwanz, den
der Herr Rektor Borchert vorn unter seinen Rock geknöpft trug, hatte
ihm einen zu gewaltigen Respekt eingejagt. Er begnügte sich damit,
die grauenhaftesten Gesichter zu schneiden.
Der kleine Konditor Knorr, der kleine
Steuereinnehmer Zippe und der
kleine Schiffszimmermeister Bohl waren nicht halb so standhaft.
Es
war, als ob sie alle nur gewartet hätten, dass einer damit anfing.
Sie weinten jetzt, dass ihnen die Tränen nur so von den Backen
runtertropften. Es war die reine Meuterei!
»Schweinzeug!«
Mit einem Ruck war jetzt der Herr Rektor Borchert aufgesprungen und
hatte seinen Fuchsschwanz gezückt. Die Rechenmaschine war quer über
die schwarze Kathederplatte geschlagen, das kleine Federmesserchen
lag unten neben dem eisernen Spucknapf auf der sandigen Diele.
»Schweinzeug!«
Er schnaubte!
Das »Schweinzeug« war wieder ganz muckchenstill geworden. Nur der
Kastanienbaum draußen, der seine scharfgeränderten Zacken über die
Bänke zittern ließ, und die Sonne, die dazwischen glitzerte.
Der gräuliche Fuchsschwanz, mit dem der schreckliche Mensch dort
oben eben auf seinen gelben Tisch geschlagen, hatte alle Tränen, die
das Schweinzeug noch vergießen wollte, mausetot gemacht. Die
kleinen
Sträflinge saßen jetzt wieder alle da wie schlecht angemalte
Holzpuppen. Bloß ihre Gesichter waren noch röter geworden und
ihre
Augen, statt in die Tintfässer, alle auf den fürchterlichen
Fuchsschwanz gerichtet!
Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, der
drüben unter seinem Rathausdache auf diesen Moment nur gewartet zu
haben schien,
war hinterlistig genug, grade jetzt seinen grässlichen
Hampelmannskopf aus seiner Luke zu stecken.
Seine große, goldpapierne Mütze reichte mit ihrer Spitze bis grade
oben ins Zifferblatt. Er hatte sich seine Backen mit Mehl
eingerieben und seine Nase mit Zinnober bepinselt. Um seinen Leib
hatte er eine dicke Badehose aus Sammet an, die ganz kohlschwarz war
und außerdem noch mit kleinen, silbernen Flinkern bestickt.
Nachdem er sich vor dem vor Erwartung lautlosen Publico unten
dreimal verbeugt und zwischendurch seine lange, goldgelbe
Balancierstange ebenso viele Male hoch in die Luft über sich
gewirbelt hatte, setzte er jetzt seinen linken, zierlichen Schuh
vorsichtig auf das straffe, weiße Seil und war bereits bis auf die
Mitte desselben getänzelt, noch ehe die verblüfften Bauern unten
Zeit gefunden hatten, ihre Mäuler aufzusperren.
Kein Knubbel ahnte etwas!
Die Katastrophe draußen hatte sich vollzogen, ohne dass sie auch nur
an sie gedacht hatten.
Die wirklichen, schneeweißen Tauben und Lämmergeier waren jetzt alle
vergessen.
Nur der Fuchsschwanz existierte noch. Nur der
Fuchsschwanz! Ihre großen, erschreckten Augen hatten sie alle
sperrangelweit aufgerissen.
Nur der kleine Lewin nicht! Er hatte eben mit Schrecken gemerkt, wie
die schändliche Fliege ihm grade den Bauch rauf in die Höhe kroch
und an seinem Nabel haltmachte.
Uaaah!
Er brach jetzt, um nicht wie die andern vorhin zu weinen und so den
Herrn Rektor Borchert noch mehr zu erzürnen,
in ein grässliches
Lachen aus.
Der kleine Jonathan wurde weiß wie Kreide.
Gewiss! Jetzt schlug er ihn tot!!
Er mochte gar nicht hinsehen.
Aber er hätte ruhig hinsehen können!
Der Herr Rektor Borchert schlug den frechen Judenlümmel nicht tot.
Dem Herrn Rektor Borchert fiel das gar nicht ein. Der
Herr Rektor
Borchert betrieb sein Handwerk weit gründlicher. Er hatte sein
System. Und von diesem System wich er nie ab.
Der Fuchsschwanz war
nur sein Schreckmittel. Sein Züchtigungsmittel, sein eigentliches
Züchtigungsmittel, war sein Siegelring.
Entschieden! Man musste Grundsätze haben.
Man musste sich z.B.
hüten, das Schweinzeug zu schlagen. Man war überhaupt gegen alles
Schlagen ... Nein! Knuffen musste man das Schweinzeug! Knuffen! Die
Handvoll Haare, die man ihm dann noch gelegentlich ausriss, zählte
nicht ...
Der kleine Lewin lachte noch immer. Aber schon so krampfhaft,
dass die Augen ihm aus den Höhlen traten und die
Zähne ihm zu klappern anfingen.
Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der jetzt an seinen
schwindelnden Hoffnungen, mal rausgehn zu dürfen, vollständig
verzweifelte, hatte wieder zu weinen angefangen. »Ah!«
Der Herr Rektor hatte seine dünnen Lippen noch fester zugekniffen.
Er knöpfte sich jetzt seinen Fuchsschwanz wieder vorn in die
Rocktasche.
» ... B ... Blut, kalt Blut, Borchert!«
Er hatte sich wieder schwer auf seinen Rohrstuhl gesetzt. Die Sache
eilte ja nicht. Die Sache ...
Er spielte mit seinem Siegelring. Einem sehr schönen, wertvollen
Exemplar mit einem sehr schönen, wertvollen Stein drin. Glaube,
Liebe, Hoffnung war in seine grüne Fläche geritzt.
Seine
kleinen, zugedrückten Ferkelaugen schillerten jetzt in allen
Farben. Seine Hände zitterten.
Es war sonst muckchenstill in der Klasse! Nur dieser einzige,
aufrührerische, bodenlos freche Judenlümmel und dies Bäckerbalg, das
ihn akkompagnierte!
Er hatte sich seinen Siegelring wieder an den Finger gesteckt und
klopfte jetzt langsam mit ihm an die Seitenwand seines Katheders.
»Knubbel! Herkommen!«
Der kleine Lewin war mechanisch aufgestanden. Seine dünnen,
wachsgelben Fingerchen hatten sich fest um die schwarze Bank vor ihm
gekrampft, seine Schultern zuckten.
Er bebte an allen Gliedern.
»Herkommen, Knubbel!!«
Die ganze Klasse hatte wieder laut zu weinen angefangen.
Dies
grässliche Lachen, das er noch immer ausstieß, ging allen durch Mark
und Bein. Ari-ben-Aribell, der jetzt grade draußen auf dem
Kirchturmknauf mitten in dem wunderschönen Grünspanklecks saß und
dort mit großem Appetit ein lebendiges Huhn verschlang, nachdem er
sich eben erst einen blitzblanken, ellenlangen Degen in den Leib
gestoßen hatte, hatte jetzt aufgehört, für sie zu existieren. Kotel
Thiel hätte jetzt lügen können wie gedruckt. Sie hätten nicht einmal
hingehört.
Nein! Nur dies Lachen! Nur dies grässliche Lachen!
Der Herr Rektor Borchert hatte sich jetzt aufrecht mitten auf
sein Podium gestellt. Seine Lippen waren weiß geworden. Seine
kleinen, spitzen Zähne knurrschten, als ob er an etwas kaute.
»Herkommen, Knubbel?!«
Aber der kleine Lewin hörte nichts mehr. Er lachte nur immer und
lachte und lachte ...
Jetzt endlich war der Geduldsfaden des Herrn Rektor Borchert mitten
entzweigerissen!
Mit einem Satz war er auf den wahnsinnigen
Judenhund zugesprungen, hatte ihn an seinem schmierigen Jackenkragen
zu packen gekriegt und schleifte ihn nun wutschnaubend auf sein
Katheder.
»So ein Hund!! So ein Hund!!!«
Die »Knubbels«, die wieder ganz muckchenstill geworden waren, hatten
alle unwillkürlich ihre Augen fest zugemacht. Die ganze große, rote
Stube schwamm jetzt in Blut. In Blut. Oh! ... Da!!
Plötzlich, mitten durch all das grausenhafte Schnauben und Gurgeln
vorn, hatte draußen vom Flur her deutlich
ein feines, schrilles
Glöckchen angeschlagen.
Kein »Knubbel«, der nicht jetzt seine kleinen, rosa Öhrchen spitzte!
Das reine Christglöckchen! Es klingelte jetzt, dass es nur so eine
Art hatte.
Ja! Ja! Das war der Herr Spaarmann, der liebe, gute Herr Spaarmann!
Der Herr Spaarmann! Jetzt brauchten sie nicht mehr zu sterben. Jetzt
war die schreckliche, schreckliche Stunde aus. Jetzt ... Oh! Der
Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann!
Der kleine Bäckermeister Trimpeter, dem die vielen dicken Tränen
schon unten bis unter den Hals gelaufen waren, atmete erleichtert
auf. Jetzt durfte er endlich, endlich mal rausgehn ...
Der Herr Rektor Borchert hatte jetzt sein neues, schönes, rotgelb
lackiertes Lineal zu packen gekriegt und es mitten unter die
»Knubbels« geschleudert.
»Raus! Raus!! Raus!!!«
Er kannte sich selbst nicht mehr!
Das infame, rotznasige Judentier war schon längst neben das Katheder
in den Spucknapf geflogen.
Er hatte jetzt auch die große, stählerne Rechenmaschine zu packen
gekriegt.
»Raus! Raus!! Raus!!!«
Ah! Diese Knubbels! Diese verfluchten, vermaledeiten Knubbels!!
Aber diese »Knubbels«, diese verfluchten, vermaledeiten
»Knubbels« waren schon längst alle die Treppe hinuntergepoltert.
Hals über Kopf! Wie es grade gekommen war!
Der kleine Konditor Knorr, der kleine Steuereinnehmer Zippe, der
kleine Schiffszimmermeister Bohl, der kleine Jonathan Grule und wie
sie alle hießen!
Allen voran aber natürlich wieder der kleine, dicke Bäckermeister
Trimpeter!
Es war wirklich die höchste, allerhöchste Zeit gewesen ...
Oh! Der Hof! Der Hof!!
Wie die warme, weiche Luft dort ihnen wohltat! Wie die Sonne dort
oben hoch auf den Dächern lag! Auf den Dächern!! Die roten
Schornsteine drauf rauchten, die Spatzen zwitscherten und die Sonne
schien!
Oh!! Der Hof!! Der Hof!!
Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, hatte
soeben seine halsbrecherischen Produktionen beendet und verbeugte
sich nun submissest vor seinem geneigten Publico.
Seine große, goldpapierne Mütze war ihm vorn über
die fuchsrote,
dreieckige Frisur weg bis unten tief in die breite, niedrige Stirn
gerutscht, sein ganzes grauenhaftes Teufelsgesicht drunter bestand
nur noch aus Mehl, Schweiß und Zinnober. Seine dicken, kohlschwarzen
Badehosen mussten jetzt klitschnass sein.
Die »Pudels«, die sich so lange wie große, anständige Leute betragen
hatten, fingen jetzt laut zu brüllen an. Ihre dicken, grauen,
zerknitterten Tuchmützen waren alle hoch in die Luft geflogen.
Kotel Thiel, der heute selbstverständlich schwänzte, war natürlich
wieder mitten drunter.
Sein dünner, runder, orangeroter
Quintanerdeckel war entschieden der allerforscheste. Er wirbelte
immer wieder und wieder in die Höhe. Immer wieder und wieder!
»Ari-ben-Aribell, Ari-ben-Aribell!«
Der größte Seilkünstler beider Welten verbeugte sich wieder.
Er war nur noch Schweiß, Mehl und Zinnober! Nur noch Schweiß, Mehl
und Zinnober!
Die Sonne auf seiner langen, goldgelben Balancierstange glitzerte
...
Oben in das stille, geleerte Schulzimmer, in das jetzt der große,
runde Kastanienbaum draußen seinen ganzen scharfgezackten Schatten
warf, war der stürmische Applaus der enthusiasmierten
Jahrmarktsmenge wie ein lauter, lang anhaltender Wutschrei
gebrochen.
Der dicke, blaue Brummer hinten in der letzten Scheibe war entsetzt
auf das breite, gelb gestrichene Fensterbrett zurückgetaumelt. Er lag
jetzt mitten in der tiefen, ausgetrockneten Regenrinne und hampelte
dort verzweifelt mit seinen sechs dickbehaarten schwarzen Beinen
umher.
Ab und zu versuchte er, sich auch mit seinen kleinen,
graudurchäderten, glasharten Flügelchen aufzuhelfen. Schon mehr als
einmal war ihm das auch mit Hilfe seines dicken, kohlschwarzen
Rüssels fast gelungen; aber regelmäßig kullerte er wieder zurück.
Noch eine kleine Weile, und er musste rechts durch das große, runde
Loch mitten unten in den schrecklichen, stockdunklen Wasserkasten
stürzen!
Sein zorniges, abgerissenes Brummen mischte sich abwechselnd in das
scheußliche, ohrenzerreißende Gelächter, das noch immer durch das
ganze große Zimmer gellte.
Der Herr Rektor Borchert stand da wie gelähmt. Er war mit seinem
dicken, krummen Rücken schwer gegen das große, gelbe Gerüst neben
die offene Tür getaumelt.
Seine
schwarzen, abgeschabten Rockärmel schlotterten ihm wie um zwei
lange, dünne Knochen. Seine kleinen, unheimlichen Ferkeläugelchen
stierten entsetzt in die große, grellbeleuchtete Ecke neben dem
Katheder.
Dort, dicht neben dem kleinen, eisernen Spucknapf, der jetzt
umgestülpt war, wand sich etwas, das mit seinen dünnen, krummen
Beinchen fortwährend zappelte und mit seinen kleinen, geballten
Fäustchen wie wild um sich schlug. Das alte, schmierige
Judenkaftanchen war ihm hinten mitten durchgerissen, aus seinen
dicken, blauaufgeworfenen Lippen floss es wie Geifer.
Es war der kleine Lewin, der den Lachkrampf bekommen hatte. –
II
»Hier, meine Herrschaften,
das Paradies des Sultans von Marokko!
Treten Sie ein, meine Herrschaften, treten Sie ein! Man muss so
etwas gesehen haben, meine Herrschaften! Man muss so etwas gesehn
haben! Die weltberühmte Miss Pepita! Geboren drei Tage hinter dem
Mond in der Wüste Sahara! Wo die Bäume ohne Wurzeln wachsen!
Speit
40 Fuß in die Höhe und fängt es mit ihrem Rachen wieder auf! Man
muss so etwas gesehn haben! Treten Sie ein! Die Vorstellung wird
sogleich beginnen! Soldaten und Kinder zahlen nur die Hälfte! Treten
Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!«
Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, konnte kaum noch jappen.
Er hatte sich
heute sein dickes, rundes Kartoffelgesicht mit Ruß
eingerieben und seinen spitzen, speckigen Bierbauch in ein dünnes,
weißbaumwollenes Trikot gezwängt. Durch die weiten, groben Maschen
schimmerte deutlich seine rosa Haut durch.
»Das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine
Herrschaften! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten
Sie ein!«
Seine Stimme überschlug sich,
seine runden, weißen Froschaugen waren
ihm dick aus den dunklen Höhlen gequollen.
Das Publikum, das die Bude dicht umdrängte, sperrte Nasen und Mäuler
auf. Dieser Mohr aus Pernambuco imponierte ihm!
Mit einem einzigen, furchtbaren Faustschlag, der allen durch Mark
und Bein fröstelte, hatte er sich eben seine hohe, spitze Filzmütze,
die fingerdick mit Kreide bestrichen war, bis unten, hinten in das
rote, wulstige Genick runtergeschlagen und begann nun den bisher
noch unübertroffenen, noch nie dagewesenen
Kriegstanz des Königs Murri-Tschidschi-Wauwau. »Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú,
uhahihahú, ptschau!«
Seine dicken, runden Fäuste, die rot mit Ochsenblut beschmiert
waren, hieben wie wütend auf die große, himmelblaue Pauke ein, die
ihm an einem langen, gelben Ledergurt vorn von den Schultern herab
bis unten grade mitten vor den Bauch baumelte, die dünnen Bretter
unter ihm krachten.
»Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«
Noch fünf Minuten, und er musste in die grässlichsten Zuckungen
verfallen sein!
Die »Pudel« wagten kaum zu atmen.
Um besser sehn zu können, hatten
sie sich alle auf Spitzzehen gestellt. Pole Lackner
war sogar auf
eine Wagendeichsel geklettert! Etwas weiter nach rechts, auf der
anderen Seite des Podiums, stand steif wie aus Holz geschnitzt
Eliza Barberini, der Stern aus Paramaribo. Er war wie eine Balletttänzerin
kostümiert und schlug die Triangel.
Dazwischen hinter den dünnen, kirschroten Portièren, grade über der
kleinen, hölzernen Treppe, auf der großen, umgekippten Zuckerkiste,
die heute aber dick mit Goldbronze bepinselt war, saß Mardochai. Die
schönen, langen, schneeweißen Troddeln an seinen Ohren hingen ihm
unten bis auf die große, kohlschwarze Kasse aus Ebenholz herab, die
er bewachte.
»Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«
Da! Jetzt! Pffff ... bauz, rin in die Pauke!
Das Publikum, aus dessen Mitte der Stein geschleudert worden war,
hatte sich unwillkürlich etwas geduckt.
Nanu? Donnerwetter! Alle Hälse waren jetzt wieder in die Höhe
gereckt. Der große, ziegelrote Kanten war der armen Pauke grade oben
durch das runde, weiße Fell mitten in den himmelblauen Bauch
geplautscht.
»Aah!! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Ptschau, ptschau, ptschau!!«
Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, hatte plötzlich seinen
bisher noch unübertroffenen, noch nie dagewesenen Kriegstanz des
Königs Murri- Tschidschi-Wauwau mitten entzweischnappen lassen.
Sakra!! Er hatte es ganz deutlich gesehn! Die Bestie war so ein
kleiner, verschrumpelter Rotzjung' gewesen, der einen runden,
orangeroten Lateinschülerdeckel aufgehabt hatte.
»Na wacht! Wacht!«
Er hatte seine infame Pauke hinter sich auf das dünne, bretterne
Gerüst gebullert und
bohrte sich nun mit seinem dicken, runden
Niggerschädel mitten durch die verblüfften Bauern. Seine spitze,
weiße Mütze war ihm hinten unter die kleine, hölzerne Treppe
gerollt, er hob sie nicht einmal auf!
»Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg,
wenn ick di kreeg!«
Das Publikum, welches sich von seinem Schreck wieder erholt hatte,
johlte.
»Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!«
Tschullu schäumte!
Links aus dem Cagliostrotheater setzte eben die Blechmusik ein.
M-ta, m-ta, m-tata,
M-ta, m-ta, m-tata,
Bum, bum, bum!
Mardochai saß oben auf seiner Zuckerkiste und heulte. Der ganze
Jahrmarkt war jetzt wie verrückt geworden! Die Meerkatzen drüben aus
der Menagerie zeterten, die Löwen brüllten, die Kakadus schrien, die
Schmalzkuchen dufteten, die Schusterbuden stanken.
»Griep em, Tschullu! Griep em, griep em!«
Nur der Stern aus Paramaribo hatte sich nicht gerührt. Er stand noch
immer wie aus Holz geschnitzt auf der andren Seite und schlug die
Triangel. Seine langen, dünnen Beine, die noch immer in den
zerplatzten, grässlich grünen Trikots staken, standen noch genauso
steif da wie vorhin.
Seine spärlichen, straffen
Haare hingen ihm wie ein Gewirr von
langen, schwarzen Bindfäden über die gelben, knochigen Schultern.
»Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!«
Der Stern aus Paramaribo rührte sich nicht.
Er stand nur ruhig da
und schlug seine Triangel. Es ging nun schon in das
siebenundvierzigste Jahr, dass er taub war ...
»Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg,
wenn ick di kreeg!«
Aber Kotel Thiel war längst über alle Berge! Tschullu Wabuhu, der
Mohr aus Pernambuco, konnte ihm jetzt den Buckel langrutschen!
Draußen auf der sogenannten Bauernvorstadt, zwischen den letzten
kleinen, verkrumpelten Häuserchen, die zu beiden Seiten der Chaussee
mit ihren alten, gelben, geflickten Strohdächern bis unten in die
vielen kleinen, kreisrunden Pfützen tauchten, in denen Holzscheite,
Papierkähne, Enten und Strohwische schwammen, hatten die
Jahrmarktsleute ihr Barackenlager aufgeschlagen.
Dicht vor seinem Eingange,
neben einer alten, umgekippten Tonne, aus
der sich ein langer, dünner Teerfaden bis unten mitten in den gelben
Sand gebohrt hatte, war
Kotel Thiel endlich stehngeblieben.
»Puh, die Hitze!«
Das Diarium, das ihm von seinem schnellen Humpeln bis unten auf den
Bauch gerutscht war, hatte er sich wieder fest unter seine Weste
geknöpft.
Die ganze Bauernvorstadt war heute wie auf den Kopf gestellt.
Hier, neben einem kleinen, dreieckigen Vorgärtchen, über dessen
graue, schiefgenagelte Bretter sich nur eine einzige große, gelbe
Sonnenblume bog, stand ein
großer, roter, abgeschirrter Wagen, aus
dessen beiden Blechschornsteinen es dick rauchte; dort, zwischen
zwei braunen, wackligen Lehmmauern hatte eine
keifende
Bajazzofamilie ihr buntes, niedriges, zerrissenes Zelt
aufgeschlagen. Auf einem langen, gelben Leiterwagen, an dem
drei
kleine, dürre, kohlschwarze Klepper angehalftert waren,
hockte ein
altes, weißhaariges Zigeunerweib und lutschte aus einer dicken,
verstaubten Weinflasche kalten Kaffee. Ihre roten Triefaugen hatte
sie stier aufgerissen, die gelben Münzen an ihrem blauen Kopfputz
klackerten.
Dazwischen überall kleine, ungezogene Bälge, die sich die Gesichter
mit Ziegelrot beschmiert hatten,
Kobolz schossen und dabei die
vielen großen, angeketteten Hunde ärgerten.
Die meisten barfuß und
im Hemde. Alle aber braungebrannt und flachshaarig.
Auf einem umgekippten, kupfernen Kessel saß ein Clown und nähte sich
Schellen an seine Kappe. Dahinter, halbnackt zwischen zwei
ausgespannten Wolltüchern kauernd, vor einem kleinen, runden
Taschenspiegelchen, ein junges, rothaariges Weib. Ein kleines,
splitternacktes Kind steckte sich neben ihm grade seine kleinen,
rosa Zehchen in den Mund und lachte. Nicht weit davon, in dem
ausgetrockneten, staubigen Chausseegraben, zwischen den Wurzeln
einer riesigen, dunkelgrünen Pappel, ein Brett mit der Aufschrift:
»Heute Abend bei Eintritt der Dunkelheit feenhafte Beleuchtung.« –
»Quatsch!«
Kotel Thiel hatte seine Hände großspurig in die Hosentaschen
gesteckt und spuckte nun verächtlich aus.
Die kleinen, flachsköpfigen Bälge zwischen den Tümpeln hatten eben
dicht hinter der Mauer unter Steinen und Brennesseln einen alten,
zerbrochenen Kochtopf gefunden und tuteten nun die Nationalhymne auf
ihm. Um den ersten kleinen, blauen Tümpel herum
veranstalteten sie
einen Gänsemarsch. Der Lehm unter ihren kleinen Füßen platschte,
ihre Hemden flatterten. Ulle Lüders, der einen Dreispitz aus
Strohpapier aufhatte, allen voran.
Kotel Thiel überlegte noch.
Die beiden
großen, weißen Störche oben auf Linkerholts Scheune
waren
jetzt von dem plötzlichen Lärm unten scheu geworden und
schwammen
mit großen, weitausgebreiteten Flügeln, die langen, dünnen Beine wie
zwei riesige, rote Streichhölzer zurückgeklappt, nach dem fernen,
grünen Stadtwalde zu. Dort lag die Eselswiese, auf der es still war
und Frösche gab. Ihr großes, rundes, schwarzes Nest starrte leer
hinter ihnen auf dem spitzen, weißgemauerten Giebel in den
dunkelblauen Himmel.
Nee! Hier war nischt los! Partutemang nischt!
Kotel Thiel hatte wieder verächtlich in die dämliche Tonne gespuckt.
Partutemang nischt!
Er wollte jetzt durch das Tor wieder in die Stadt zurück.
Aber noch ehe er die kleine, hölzerne Brücke passiert hatte, war er
schon wieder stehngeblieben.
»Donnerwetter! Das ... nee! – Du! Jung! Rotzvieh! Du schwänzt doch
nich etwa? Ich denke, du Aff, du ochst jetzt?!«
Der kleine Jonathan war puterrot geworden. Er war eben hinten durch
das kleine, gelbe Häuschen an der Mauer dem
Herrn Rektor Borchert,
der den armen, kleinen Judenjungen totgeschlagen hatte, ausgerückt
und wollte sich nun hinten um die Bauernvorstadt rum zu dem alten
Vater Lorenz oben in den Wald schleichen.
Nach Hause wollte er nie
mehr zurück. Aber er hatte
seine dicke, blanke Doppelkrone genommen,
die ihm sein Papa heute in den Kittel gesteckt, und fest drum die
Hand zugemacht.
»Na, du Kuhjung'? Wird's bald?«
Kotel Thiel hatte ihm eins forsch auf die Schulter geschlagen. »Na?«
Er kramte eifrig in seinen Taschen rum.
»Na? Oder willst du Backzähne schlucken, Jungchen?!«
Der kleine Jonathan zitterte an seinem ganzen Leibe.
Kotel Thiel fing sich immer Frösche!
»Na? Eins – zwei – Himmel – und? Und? Na?«
Kotel Thiel hatte sich jetzt dicht vor ihn hingestellt und fuchtelte
ihm nun mit seinem grässlichen, blanken Federmesser in einem fort
vorm Gesicht rum.
»Ach, du! Ach, du! Ach, Kotel! Ach, lieber, lieber Kotel!«
Der kleine Jonathan hatte jetzt laut zu weinen angefangen. Kotel
Thiel schlitzte ihnen damit immer den Bauch auf!
»Nich? Na, denn nich, du Schafskopp!«
Kotel Thiel hatte sein gräuliches Groschenmesser großmütig wieder
zuschnappen lassen.
»Glaubst du, dass ich nich weiß, dass dein Vater Pillendreher is?
Glaubst du, dass ich mir an dir die Finger schmutzig machen wer'?«
Kotel Thiel wusste sich auf einmal kaum zu lassen vor Ekel. Er
hatte
eben das dicke, blanke, runde Ding in seiner Hand gesehen und war
sich sofort darüber klar geworden, was das sein musste. Er steckte
sein Messer wieder ruhig in die Tasche.
Sein Plan war gefasst.
»Glaubt der Aff', dass ich ihm den Bauch aufschlitzen wer'! Nee
Duchen! Weißt du, was du bist? 'n Aff' bist du!«
Der kleine Jonathan trocknete sich noch immer mit seinen beiden
Fäusten die Tränen aus den Augen.
Kotel Thiel spielte immer
Indianerchen! Er schluchzte nur so.
Kotel Thiel hatte sich jetzt nach allen Seiten hin vorsichtig
umgesehen.
Es war niemand in der Nähe. Nur die kleinen, halbnackten
Flachsköpfe, die mit ihren kleinen, schmuddligen Füßchen in den
vielen runden Tümpeln ringsum rumpatschten, und die paar kleinen
Mädchen, die sich hinten an den kurzen, zerrissenen Hemdchen gepackt
hielten, damit sie nicht mitten zu den Papierkähnen unter die Enten
purzelten. Eine alte Frau, die auf einer Steinschwelle hockte, war
über ihrem blauen Strickstrumpf eingeschlafen. Ihre Hornbrille war
ihr über ihre kleine, eingefallne Stubsnase auf ihr spitzes,
behaartes Kinn gerutscht.
Es war alles sicher.
Die bunten Gräser oben auf der Stadtmauer nickten, ihre langen,
blauen Schatten fielen unten auf die rosa Rücken zweier kleinen,
dicken Ferkelchen, die sich mit ihren spitzen Schnauzen in den
gelben Sand gewühlt hatten und nur noch mit den Ohren zuckelten,
wenn eine Fliege über sie wegkroch. Weiter hinten bei den Bajazzos
wurde grade ein kleiner Bengel durchgeprügelt. Sein jämmerliches
Geschrei zeterte über die ganze Bauernvorstadt hin. Hinten, ganz
fern auf der Chaussee, ein großer weißer Mehlwagen ...
Kotel Thiel war jetzt gradezu manierlich geworden.
»Weißt du, Mensch? Soll ich dir mal was sagen?«
Der kleine Jonathan sah auf.
Wenn Kotel Thiel zu einem »Mensch«
sagte, brauchte man keine Angst vor ihm zu haben.
»Ich mein' ...«
Er war jetzt auf einmal puterrot geworden. Er hustete.
»Ich mein' ... also ... kurz und gut, du Aff',
du sollst mir was
pumpen!«
Er hatte sich wieder die Hände mitten in die Hosentaschen gesteckt
und sah nun den kleinen Jonathan drohend an.
Der kleine Jonathan hatte seine Augen vor Schrecken groß
aufgerissen. Er war kreidebleich geworden.
»Natürlich brauchst du Knubbeljung' nich gleich zu denken, dass ich
dir dein koddriges Geld nich wieder zurückgeb'!
Glaubst du, ich bin
ein Jud'?
Du gibst mir einfach von deinem Alten noch was
Lakritzensaft zu, und dann geb' ich dir Maikäfer für. Na? Zu, du Aff'! Glaubst du, ich hab' hier so lange Zeit, zu stehn un nich in
die Schul' zu gehn? Glaubst du, wir haben heute keine Schul', du
Aff? Du bist ausgekniffen, du Aff'! Du schwänzt! Na? Willst du nu
oder nich? Eine ganze Schachtel voll! Eine ganze dicke, große
Schachtel! Lauter Müller und Schornsteinfeger! Na?«
Kotel Thiel hatte seine ganze Beredsamkeit aufgeboten. Er stand
jetzt breitbeinig vor ihm da.
»Na?«
Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen, denen eben zu gleicher Zeit
zwei dicke, blaue Brummer über die Schnauzen gekrochen waren, hatten
sich jetzt beide auf ihre runden Rücken rumgesühlt und grunzten.
Ihre acht kleinen, dicken Beine stakerten in die Luft.
Der kleine Jonathan schwankte noch.
»Maikäfer?«
»Zum Donnerwetter, ja doch! Maikäfer, du Aff'! Verstehst du denn
nich? Maikäfer!«
Kotel Thiel fing jetzt endlich wirklich an, die Geduld zu verlieren.
Er musste heute noch absolut seinen
Aufsatz einschreiben: »Der
seltene Edelmut des Horatius Cocles!« Er fing an: »Schon die alten
Phönizier.«
»Also, willst du nu oder nicht? Eine ganze Schachtel voll!«
»Auf Ehre?«
Der kleine Jonathan hatte gehört, wenn Kotel Thiel zu einem »auf
Ehre!« sagte, dann war alles wirklich und auf Ernst.
»Auf Ehre?«
Kotel Thiel war wieder rot geworden.
»Natürlich, du Aff'! Auf was denn sonst? Ich bin doch kein Jud'?
Wenn du noch mal sagst, du Aff', dass ich ein Jud' bin, dann knuff'
ich dir das Fell voll, aber wer' dir keine Maikäfer schenken!
Glaubst du, ich bin ein Jud'? Wenn du nich gleich sagst, dass ich
kein Juditzig bin ...«
»Da!«
Der kleine Jonathan hatte seine dicke, weiße Patschhand groß
aufgemacht. Er hatte sie so lange hinter seinem Rücken gehalten. Die
schöne, harte, blanke Doppelkrone lag mitten drin.
»Also eine ganze große, dicke Schachtel voll! Müller, Bäcker und
...«
»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«
Der kleine Jonathan stand da!
Kotel Thiel war mit seiner schönen, harten, blanken Doppelkrone die
lange, dunkle Torstraße in die Höhe gelaufen und stand jetzt
breitbeinig über dem Rinnstein. Das schöne, silberne Ding schwenkte
er immer nur so rund um seine Mütze rum.
»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«
Der kleine Jonathan dachte nicht einmal dran, seinen Mund
aufzumachen.
Die bunten Gräser oben auf der Stadtmauer zitterten, unten in dem
Teerstreifen spiegelte sich die Sonne.
Plötzlich war der kleine Jonathan wieder zusammengefahren. Aus dem
nächsten Bauernhaus mitten unter die kleinen, halbnackten
Flachsköpfe hatte sich eben ein
altes, triefäugiges Weib gestürzt
und bearbeitete sie nun mit einem großen, strubbligen Besen, der auf
einen roten Birkenpfahl gespießt war.
»Will'n ji rin un stoppen Strümp?!«
Die kleinen Bälge liefen was sie konnten. Mutter Kerstens
hinterdrein.
»Will'n ji rin un stoppen Strümp?«
Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen hatten sich erschreckt unter die
alte Stadtmauer geflüchtet, mitten zwischen die dicken Nesseln!
Der große, weiße Mehlwagen war die lange, staubige Chaussee
runtergekommen und ratterte schwerfällig über die Brücke.
»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«
Der kleine Jonathan stand da wie tot. Er sah nur noch die Sonne, die
sich unten in dem schwarzen Teerstreifen spiegelte.
III
Endlich, am Abend, als die Sonne schon rot hinter den stillen,
schwarzen Tannen stand, wagte sich der kleine Jonathan wieder aus
seinem Versteck. Sein
ganzes schönes, neues Kittelchen
war mit Moos
beklebt, seine kleinen, kurzen Stulpstiefelchen staken voll Erde. Er
war furchtbar hungrig!
Wenn er sich jetzt nicht zu dem alten Lorenz
traute und um ein
Stückchen Brot bettelte, musste er sterben. Dann zerrissen ihn die
Wölfe, und die Krähen hackten ihm die Augen aus. Dann war er so tot
wie der kleine Lewin.
Er war wieder stehngeblieben.
Ein großer, roter Strauch hatte ihm hinten in sein zerrissenes
Kittelchen einen Dorn eingehakt. Die dicken, blauen Beeren dran
waren gewiss giftig.
Oh, er konnte nicht einmal mehr weinen!
Die Farren standen hier noch so hoch, dass sie ihm bis über den
Bauch reichten. Ein Bündel Glockenblumen schwamm wie eine kleine,
blaue Insel drin. Die großen, bunten Schmetterlinge drüber waren
alle schon schlafen gegangen. Über einer kleinen, runden Lichtung
spielte nur noch ein dicker, dunkler Schwarm Mücken in der goldnen
Luft. Jetzt, irgendwo in der Ferne, sang ein Vogel Bülow. Der ganze
Wald roch nach Pilzen.
Der kleine Jonathan seufzte. Er konnte sich kaum noch
weiterschleppen.
Seine Händchen waren ihm dick geschwollen, seine langen, braunen
Locken hingen ihm wirr über die kleine, weiße Stirn und über die
großen, blauen Augen drunter, die ihm wehtaten. Bei jedem Schritt
über die dicken, braunen Wurzeln unten stolperte er.
Der alte Lorenz war dem kleinen Jonathan sein bester Freund. Er kam
immer unten in die Apotheke und verkaufte Kräuterchen.
Sein kleines, rotes Häuschen stand draußen dicht am Waldrand. Aus
seinen beiden niedrigen Fensterchen, hinter denen das ganze Jahr
durch immer Goldlack, Fuchsien und Verbenen blühten, konnte man
grade unten auf die vielen alten, spitzen, grauen Dächer sehn.
Oben auf seinem kleinen, kohlschwarzen Schornsteinchen saßen heute
zwei Tauben, die sich schnäbelten. Die dicken, dunklen Tannen
drüber, die jetzt im Abendwinde leise ihre spitzen, vergoldeten
Kronen schaukelten, duckten ihre starren, untersten, grünen Äste bis
grade dicht auf ihr weiches, weißes Gefieder. Der alte, dicke, faule
Plumpsack Pluto unten lag quer vor der Tür und schnarchte. Die
kleinen, breiten Fensterchen zu beiden Seiten blitzten, der ganze,
weiche Waldboden davor war mit Stroh bestreut.
Dazwischen die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen, die nach
Regenwürmern pickten und dabei in einem fort gackerten.
Der kleine Jonathan atmete tief auf. Er hatte sich eben hinten durch
das kleine, grüne Petersiliengärtchen verstohlen über die graue,
ausgetretne Steinschwelle geschlichen und stand nun
mitten in dem
langen, schmalen, dunklen Flur.
Die Sonne, die von vorn her schräg durch die runde, rissige Tür
schien, deren untere, viereckige Hälfte offenstand,
lag noch auf
einem Teil des Fußbodens. Er war rot geziegelt. Der kleine Jonathan
hatte sich jetzt mit seinem kleinen, runden Kopf schwer gegen die
dicke, weiße Wand gelehnt. Sie war eiskalt! Er fühlte, wie ihm
sein kleines Herz klopfte. Seine Augen hatte er fest zugemacht ...
Rechts hinter der dünnen, braunen Tür, die in die große, blaue
Wohnstube führte, hörte er deutlich, wie in das Ticken der alten
Kuckucksuhr etwas schnurrte.
Schnurr ... schnurr ...schnurr ...
Das war das kleine, rote Eichkaterchen drin, das sein Bauerchen
drehte.
Dazwischen über ein morsches Holz tippelte etwas mit seinen Pfoten.
Tipp-tapp ... tipp-tapp ... tipp-tapp ...
Immer hin und her! Immer hin und her!
Das war der alte Rabe Jakob, der wieder spazierenging.
Der kleine Jonathan hörte es ganz deutlich! Ab und zu blieb er stehn
und schimpfte.
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Dann blieb das kleine, rote Eichkaterchen jedes Mal ganz erschreckt
sitzen, und alles war wieder eine Zeitlang ganz still.
Ganz still ...
Der kleine Jonathan hatte jetzt seine Augen wieder groß aufgemacht.
Die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen draußen, ab und zu,
gackerten, der alte, dicke Pluto, der mit seinem grauen Hinterteil
noch grade vorn in das rote, warme Sonnenviertel reichte,
schnarchte, die Tauben oben über dem Dache gurrten, die Tannen
drüber rauschten.
Der kleine Jonathan horchte.
Das war grade wie ein Märchen! Das war wie das Haus von der alten
Hexe ...
Nur der alte Papa Lorenz ließ sich nicht hören! Der saß jetzt
wahrscheinlich wieder in dem großen, ledernen Lehnstuhl neben dem
Fenster und schlief. Bloß, er schnarchte heute nicht!
Der kleine Jonathan schwankte noch. Endlich aber fasste er sich ein
Herz.
Er stellte sich auf Spitzzehen und klinkte den runden, eisernen
Drücker auf.
»Schnurr ... schnurr ... schnurr ... Dummkopf!«
Er stand jetzt mitten in der Stube!
Die Sonne, die schräg durch das breite, niedrige Fensterchen
fiel, schien dem alten Vater Lorenz grade mitten in den alten,
runzligen Mund. Er stand groß auf und hatte keine Zähne mehr. Vorn
auf seiner dicken, blauen Zunge saß eine kleine Fliege. Sie putzte
sich eben ihre schwarzen Hinterbeinchen.
Ganz erschreckt war der kleine Jonathan stehngeblieben.
Noch nie hatte er gewusst, dass ein Mensch so die Augen aufhatte,
wenn er schlief!
Der alte Papa Lorenz hatte sie starr oben auf den großen, weißen
Balken an der Decke gerichtet, von dem an dem roten, zerrissenen
Schnupftuch noch vom vergangenen Winter her das alte, leere,
hölzerne Vogelbauerchen baumelte.
Seine runde, blaue Brille, die in der Mitte dick mit Werg umwickelt
war, saß ihm grade vorn auf der dünnen, schneeweißen Nasenspitze.
Rechts und links auf den blanken, ledernen Lehnen seine beiden
Hände. Die Finger dran alle weit auseinandergespreizt, die dicken,
blauen Adern drum schwarz geschwollen.
Seine schöne, neue, lange Pfeife war ihm eben ausgegangen. Sie stak
mitten zwischen seinen alten, dünnen Beinen, die heute dick mit
weißen Lappen umwickelt waren.
»Dummkopf!«
Der kleine Jonathan war unwillkürlich zurückgeprallt.
So zornig hatte er den alten Raben Jakob noch nie gesehn.
Die dünnen, schwarzen Federn auf seinem Rücken hatten sich
gesträubt, seine Augen funkelten.
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Er hackte jetzt mit seinem großen, schwarzen Schnabel wie wütend auf
das breite, morsche Fensterbrett ein.
Die vielen kleinen, bunten Blumentöpfe drauf wackelten, von den
mittelsten Fuchsien plumpten jetzt nacheinander drei dicke, rosa
Blüten runter.
Der kleine Jonathan sah alles ganz genau!
Er hatte sich nach und
nach bis hinten hinter das grüne, wacklige Küchentischchen
geflüchtet.
Die erste lag unten mitten in dem kleinen, weißen Zuckerschälchen,
die zweite hing der großen, himmelblauen Kaffeetasse dicht daneben
noch grade schief über den dünnen abgeschabten Goldrand, die dritte
war gleich dahinter mitten in die tiefe, runde, grünbraune
Schnupftabaksdose gefallen. Quer davor aus dem alten, rotgefütterten
Lederfutteral stak das Rasiermesser von dem alten Vater Lorenz!
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Seine beiden alten, welken Hände waren kraftlos rechts und links
über die Lehnen runtergeschlottert, seine Pfeife lag jetzt unten
mitten zwischen dem blauen Blumenschatten. Das dicke, schwarze Vieh
hatte sich ihm eben mitten auf den Bauch plumpen lassen.
Der kleine Jonathan zitterte an allen Gliedern.
Der alte Papa Lorenz schlief noch immer!
Seinen dicken, schwarzen Schnabel hatte der alte Rabe Jakob mitten
in die alte, blassrote Flanelljacke gehakt. Um nicht unten in die
dicke Pfeifenasche zu fallen, schlug er dabei wütend mit den
Flügeln. Sie waren kurz und an ihren Enden abgehackt. Jetzt hatte er
endlich auch den ersten großen, runden Hornknopf zu packen gekriegt.
Er biss sich dran fest! Die Nähte drumrum krachten, er kletterte
langsam in die Höhe. Er konnte jetzt vor lauter Wut nicht einmal
mehr schreien. Er krächzte nur noch.
»Kraah ... kraah ... kraah ...«
Der kleine Jonathan hatte sich jetzt bis ganz hinten hinter den
großen, grünen Kachelofen verkrochen.
Eine entsetzliche Angst hatte
ihn gepackt. Er wollte schreien! Großvater!! Aber er konnte nicht!
Seine kleine Kehle war ihm wie zugeschnürt ...
Der alte Vater Lorenz saß noch immer da. Die kleine, schwarze Fliege
aus seinem Munde war aufgesurrt und stieß jetzt mit ihren kleinen,
blauen, glasharten Flügelchen fortwährend gegen den dicken, weißen
Balken oben.
»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«
Das kleine, rote Eichkaterchen in seinem Bauerchen hatte sich mit
seinen krummen Pfoten vorn in die Drahtsprossen gehakt und sah
neugierig nach dem Raben rüber. Der war das rotgestreifte Kissen in
die Höhe bis oben auf den Lehnstuhl geklettert und saß nun dem alten
Vater Lorenz grade mitten über dem Kopfe. »Dummkopf! Dummkopf!
Dummkopf!«
Seine spitze, abgelederte Brust hatte sich ihm dick aufgebläht,
seine schwarzen Flügel schlugen.
Der kleine Jonathan hätte am liebsten zu weinen angefangen.
Wenn der alte Papa Lorenz jetzt nicht endlich aufwachte, hackte er
ihm den Kopf ab!
»Großvater! Großvater!«
Ah! Jetzt hatte das alte, schwarze Vieh ihn gesehn.
Seine
Schwanzfedern hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten. Fast
wäre es mit seinem dicken, schwarzen Schnabel vornübergewippt. Aber
er hielt sich noch!
»Kraah! Kraah!! Kraah!!!«
Mit einem Ruck war es jetzt dem alten Lorenz mit seinen scharfen,
spitzen Krallen auf den alten, nackten Kopf gesprungen.
»Kraah!!!«
Dem kleinen Jonathan war es eiskalt über den Rücken gelaufen.
Der alte Papa Lorenz hatte nicht einmal Muck gemacht! Sein Kopf war
lautlos vornübergewippt, die Kinnlade unten auf die rote,
eingefallne Brust gestoßen, der Mund grässlich zugeklappt und die
kleine, schwarze Fliege drin, die sich eben wieder auf seine Zunge
gewagt hatte, begraben. Der alte Rabe Jakob aber war bis unten auf
die gelben, schrunzligen Dielen mitten in die dicke, graue
Pfeifenasche gekullert.
»Kraah! Kraah!!«
Er hatte sich wieder aufgerappelt und kam sehr zornig auf den
kleinen Jonathan zugehumpelt.
»Kraah! Kraah!«
Über die Pfeife stolperte er.
»Kraah!«
Das kleine, rote Eichkaterchen drehte wieder wie toll sein
Bauerchen.
Schnurr ... schnurr ... schnurr ...
Der kleine Jonathan hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Er
wusste von nichts mehr!
Nur noch die Mama, die Mama!
Als er sich dann aber draußen über den alten, dicken Pluto weg
mitten unter die kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen stürzte, schlugen
von unten aus der Stadt her grade die Glocken an. Feierabend!
Das war dem kleinen Jonathan sein erster Schultag.
Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet. Frankfurt a.M. 1979,
S. 85-123.
http://www.zeno.org/nid/20005096502 – gemeinfrei – behutsam an
die moderne Rechtschreibung angepasst
»Arno
Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)