Jens Ludwig, Die Lachnummer
Es ist gerade erst Mittag, als sie wieder bei der Polizei anruft. "Sie
müssen unbedingt herkommen", verlangt die alte Frau am Telefon, "vor
meiner Haustüre steht ein Kamel."
"Ein Was?", fragt die Polizeibeamtin am Ende der Leitung verdutzt nach.
"Ein Kamel, haben Sie mich nicht verstanden?", gibt die Frau zurück und
wiederholt: "Ein Kamel, ein richtiges Kamel!"
"Das gibt's doch nicht", sagt die Polizistin, ehe sie die Frau
fragt: "Wie sieht das Kamel denn aus, liebe Frau?"
Die Frau hat schon die Geduld verloren. "Glauben Sie etwa, ich weiß
nicht, was ein Kamel ist?", rüffelt sie ärgerlich zurück.
Sie denkt schon daran aufzulegen, überlegt es sich dann aber
offenbar doch noch einmal. "So ein Riesentier mit einem Höcker auf dem
Rücken ist doch ein Kamel, oder etwa nicht?", rechtfertigt sie sich und
hebt dabei die Stimme.
"Aber das ist doch dann ein Dromedar", prustet es aus dem Hörer, "wir
müssen ja wissen, mit wem wir es zu tun haben, oder?"
Im Hintergrund hört die alte Frau ein Gelächter am anderen Ende der
Telefonleitung. Was bildet die sich eigentlich ein, schießt es ihr in
den Kopf. So eine Göre!
Aber noch ehe sie darauf reagieren kann, hat man schon sie nach ihrem
Namen und ihrer Adresse gefragt. Nachdem sie die Angaben gemacht hat,
wird ihr versprochen: "Na gut, Frau Knürr, wir schicken eine Streife
vorbei. Es dauert allerdings eine Weile, wie immer?" Und nach einer
kleinen Pause "Ja?"
"Gut, aber, was soll ich denn solange machen?", will die alte Frau am
Ende noch wissen.
"Am besten schließen Sie Ihre Tür ab und warten, bis meine Kollegen da
sind", sagt die Frauenstimme vom Polizeirevier noch, bis das Piepen am
Ende der Leitung anzeigt, dass sie inzwischen das Gespräch beendet hat.
Aber kurz bevor das geschieht, hat die alte Frau noch einmal gehört, wie
dort laut gelacht worden ist.
Es dauert knapp eine Stunde, bis sie ihren Schlüssel wiederfindet.
Irgendwie ist er in den Backofen gekommen. Seltsam.
Als sie damit zu ihrer Haustüre geht und durch den Spion in der Türe
hinaussieht, ist weit und breit nichts zu sehen. Warum denn abschließen?
Beruhigt schlurft sie zurück ins Wohnzimmer, setzt sich in ihren Sessel
und schaltet ihr Fernsehgerät ein. Sie wacht erst wieder auf, als die
Spätnachrichten gesendet werden: "Hier sind die Tagesthemen!" hört sie
und macht aus.
"Wieder ein Tag, an dem nichts weiter passiert ist", denkt sie sich,
geht durch den Flur und schließt die Haustüre ab. Dann geht sie
schlafen.
"Habe ich abgeschlossen?", ist der letzte Gedanke, ehe sie einschläft.
Die Angst über diese Ungewissheit nimmt sie mit in den Schlaf.
(aus: Jens Ludwig, Geschichten kommen immer zurück.
Erzählungen, erstveröffentlicht Konstanz: teachSam, 2019)
Gegenverkehr von
Jens Ludwig ist lizenziert unter einer
Creative Commons Namensnennung - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
Beruht auf dem Werk unter
jelu_lachnummer_txt.htm.