Die nachfolgende
Interpretation versteht sich al textnahe, d. h. überwiegend
textimmanente Interpretation, die im Rahmen der schulischen
Schreibaufgabe als Beispiel für eine Deutung des Textes anzusehen
ist, die zum Teil •
textbegleitend, zum Teil •
aspektorientiert bzw. systematisch, z. B. bei der Analyse der
erzähltechnischen und sprachlichen Mittel, vorgeht. Die in den Text
integrierten Links führen zu den entsprechenden Analyseseiten, die
sich mit dem jeweiligen Aspekt auseinandersetzen. Dabei versteht
sich die Interpretation nicht als Musteraufsatz, der in dieser oder
ähnlicher Form von Schüler*innen erwartet werden kann, soll aber
dennoch eine Orientierung geben.
Die Kurzgeschichte
"Shared Cheatah" von
Jens Ludwig, die auf der Webseite von teachSam.de
als Teil der Sammlung "Geschichten kommen immer zurück. Erzählungen"
im Jahr 2016 in überarbeiteter Fassung veröffentlicht worden ist,
führt den Leser mit ihrem für die
Textsorte typischen,
unvermittelten Beginn
mitten in eine Schulsituation, bei der eine Physikklausur in einer
Klasse der Oberstufe beginnt. Als Klassenarbeit in der Schule ist
diese auch für den Leser sicher nichts Neues und insofern
alltäglich.
Die noch junge
Lehrerin Frau Lutz,
von der es später heißt, sie sei in ihrem ersten Jahr entweder an
dieser Schule oder überhaupt im Schuldienst ("an
der Schule"), ist mit ihrer kurzen Bemerkung, die sie vor Beginn
der Klausur an die Schülerinnen und Schüler adressiert ("Also,
Leute, wie immer") offensichtlich darum bemüht, von Anfang an die
Kontrolle über die Situation zu haben. Indem sie die Schülerinnen
und Schüler daran erinnert, das die Klausur wie die vorangegangenen
verlaufen wird, macht sie ihre Schüler*innen vor allem darauf
aufmerksam, dass dafür besondere Verhaltensregeln gelten. Ihre
flapsig-lockere wirkende Anrede ("Also,
Leute") kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie vor allem
eines mit allen Kräften verhindern wird: "Täuschungsversuche"
der Schüler*innen oder schlicht ihr Spicken und Schummeln. Während
sie sich zur Wandtafel umdreht, um die Arbeitszeit, den Abgabetermin
und die Anweisung "Handys
und Smartphones
bitte vorne deponieren!" anzuschreiben, macht sich
Christian mit
seiner Bemerkung "Ja,
ja, Betten an die Wand!" noch einmal Luft und signalisiert in
ironischer Weise, dass in den nächsten 90 Minuten streng nach den
Regeln von Frau Lutz gespielt wird. Mit ihrem Hinweis, wonach jede
weitere Verzögerung von der vorgesehenen Arbeitszeit der
Schüler*innen abgezogen werde und ihrem mimisch-gestischen Verhalten
("böser
Blick") gelingt es ihr, schnell wieder Ruhe in die Klasse zu
bringen.
Das weiß auch
Yvonne, aus deren
Perspektive die Geschichte in
Er-Form ganz
überwiegend erzählt wird, als sie gegen die Anweisung ihr i-Phone
auf stumm stellt und unter dem Tisch versteckt. Offensichtlich will
sie es später zum Schummeln nutzen. Als die Klausuraufgaben verteilt
sind, sieht sie schon beim Lesen der ersten Aufgabe, dass sie damit
heillos überfordert ist und macht ihrem Unmut darüber Luft ("Gott,
nee, das ist ja echt assi"), was ihr eine Zurechtweisung durch
Frau Lutz und eine Standpauke ("Privataudienz")
nach der Klausur einbringt. Die Lehrerin reagiert damit offenkundig
auf die Unterstellung reagiert, sie wolle die Schüler*innen mit
besonders schwierigen Aufgaben das Leben absichtlich schwer machen
und zeigt damit auch, dass sie solche Disziplinverstöße nicht auf
sich beruhen lassen will.
Auch
Dimitrij, ein erst
seit zwei Jahren in Deutschland lebender Mitschüler, dreht sich
während des kurzen Wortwechsels zwischen Yvonne und Frau Lutz nach
hinten um und schaut Yvonne offenbar direkt ins Gesicht. Statt gegen
Frau Lutz richtet sich Yvonne daraufhin sehr emotional und in
aggressiven Worten gegen Dimitrij, über den sie sich ohnehin schon
etliche Vorurteile gebildet hat. Sie beleidigt ihn und weist ihn
brüsk zurecht: "Was guckst du so blöd, Affe?"
Neben der Tatsache,
dass sich Yvonne offenbar über die öffentliche Rüge ihrer Lehrerin
ärgert, sind es vor allem ihre Vorurteile über Dimitrij, die sie zu
dieser harschen Reaktion verleitet. Sie wirft Dimitrij, den sie
Cheatah nennt, einfach in einen Topf mit "Russen",
für die sie anscheinend überhaupt nichts übrig hat, und kann mit
seinen kulturell bedingten Auffassungen über das Kopftuch-Tragen
seiner Schwester, mit seiner Computerbegeisterung und seiner
Vorliebe für
Computerspiele wie World of Warcraft so wenig anfangen, dass sie
all dies in ihren Gedanken über ihn klar abwertet, auch wenn sie
einräumt, dass er sich "mit PCs und dem ganzen Drumherum"
auskannte, wie eben kein anderer. Nur aus der der Kommunikation
in sozialen Netzwerken wie z. B.
Facebook, das wie sich später herausstellt, für Yvonne eine
große Bedeutung hat, macht er sich nichts. Dies und die Tatsache,
dass er
nicht einmal ein Smartphone besitzt, macht ihn in den Augen von
Yvonne darüber hinaus zu einer Art Außenseiter. Aber nicht nur das
unterscheidet ihn von Yvonne.
Angesichts der
Nöte, in die Yvonne bei der Physikklausur gerät, sieht sie in ihm
vor allem einem Konkurrenten im individuellen Kampf um Noten unter
Einsatz von Schummelmethoden. Sie hält ihn, da er es immer wieder
schafft, gute Noten zu schreiben, beim "Cheaten",
dem englischen Wort für Schummeln,
für den mit Abstand besten. Anders kann sie sich das einfach
nicht erklären, auch wenn sie weder in der aktuellen
Klausursituation, bei der sie ihn eigentlich nie aus den Augen
lässt, und wohl auch aus früheren Klausuren keine verlässlichen
Beobachtungen oder Angaben machen kann. Was sie über seine
vermeintliche Spickerei behauptet, könnte so einfach auch von ihr
zusammengereimt sein und von ihren Vorurteilen gegenüber dem
vermeintlichen "Großmeister"
des Schummelns geleitet sein. Wie um diese Einschätzung in Worte zu
meißeln, hat sie ihm den Spitznamen "Cheatah" gegeben, über dessen
allgemeine Verbreitung in der Klasse allerdings keine Aussagen
gemacht werden. Sie hat den Spitznamen "Cheatah", in einer Art
Wortspiel und angepasster
Schreibweise aus dem englischen "to cheat" (= betrügen,
schummeln) und dem Namen des Affen Cheetah, eines
Schimpansen, der in verschiedenen Tarzan-Filmen
mitspielt, gebildet und gibt ihm damit einen abwertenden Akzent, der
zu ihren Vorurteilen und ihrer Antipathie gegenüber dem vermeintlich
erfolgreicheren Konkurrenten passt. Doch offenbar nicht alle in der
Klasse teilen solche Ressentiments gegenüber dem Migrantensohn aus
Armenien. Özgül, deren Name auch auf einen Migrationshintergrund
verweist, nennt ihn, jedenfalls einfach nur "Dimi",
was den üblichen Abkürzungen von Namen unter Jugendlichen entspricht
und eine gewisse Sympathie ausdrückt.
Was Yvonne
Dimitrij/Cheatah konkret vorwirft, ist seine offenkundige Weigerung,
sein Wissen bei einer Klausur mit anderen dadurch zu teilen, dass er
sie abschreiben lässt. Vom trendigen "Sharen"
wie Yvonne die Bereitschaft ein Verhalten nennt, Wissen im Internet
mit einzelnen Personen, einer Community oder mit allen
Internetnutzerinnen und -nutzern auf der ganzen Welt ohne
Gegenleistung zu teilen, hält Dimitrij nämlich offensichtlich gar
nichts. So hat er sie bei einer anderen Klausur, als Yvonne schon
einmal wegen eines verbotenen kurzen Gesprächs mit ihrer
Banknachbarin ganz vorne auf die von ihr als "Strafbank"
titulierte Bankreihe neben ihm, der offenbar immer ganz vorne
platziert ist, hatte sitzen müssen, offensichtlich auflaufen lassen.
Indem er seinen Ordner aufrecht so neben sich hingestellt hatte,
hatte er nämlich dafür gesorgt, dass Yvonne bei ihm nicht
abschreiben konnte. Dass sich Yvonne durch dieses in ihren Augen
ganz und gar unsolidarische Verhalten verletzt fühlt, ist
verständlich, wenn man berücksichtigt, dass sie offenbar in
Mathe- und Physikklausuren meistens vor großen Problemen steht
und ohnehin davon ausgeht, dass Dimitrij seine guten Noten ohnehin
nur seinen Fähigkeiten als "Großmeister"
aller Schummler verdankt.
Kein Wunder auch, dass sie mit Argusaugen über ihn wacht, und jede
Regung beobachtet, um herauszubringen, wie seine vermeintlich so
erfolgreiche Schummelei funktioniert.
Dass sie Dimitrij
mit dem nur vordergründig als Spitzname zu bezeichnenden •
Schimpfwort abfällig als "Cheatah""
bezeichnet, ist dabei die kurzgefasste Formel ihrer verzerrten
Wahrnehmung und ihrer diffamierenden Vorurteile. Diese wiederum
erscheinen wie die Folgen des so genannten
Meine-Seite-Denkens
(My-side-Bias), mit dem sie das, was sie sehen will, auch in
kognitiv verzerrter
Art und Weise wahrnimmt und zur Maxime eines nicht mehr der
Vernunft zugänglichen sozialen Handelns macht.
Während einige
Schülerinnen und Schüler schon dabei sind, ihre Lösungen der
Aufgaben niederzuschreiben, und andere alle Register der Schummelei
ziehen, beobachtet Yvonne, dass Dimitrij sich offensichtlich Zeit
lässt. Für sie ist klar, dass der einzige Grund dafür sein kann,
dass Frau Lutz sich unmittelbar vor der ersten Bankreihe für ihre
Aufsicht positioniert hatte und damit natürlich auch Dimitrij
bestens im Blick hat. Yvonne freut sich heimlich darüber, dass
dieser, so wie es nun aussieht, verrechnet hatte, zumal sie selbst
völlig überfordert eine Aufgabe nach der anderen studiert, deren
fachsprachliche Terminologie sie schon vor Rätsel stellt ("Ein Was bitte?")
Ohne den
Blickkontakt zu Frau Lutz aufzunehmen, ein Verhalten, das ihr
offenkundig signalisieren kann, dass man sich mit einem
Kontrollblick Gewissheit darüber verschaffen will, ob sie gerade zu
einem hinschaut oder nicht, schweift der Blick Yvonnes im
Klassenzimmer herum. Ganz genau registriert sie, dass es
Andrea ähnlich wie
ihr selbst geht,
Benny mit seinem "Standardtrick" einen Blick auf einen
Spickzettel in seinem Mäppchen riskiert und
Marina ihren Rock ein
Stück weit hochschob, um dort offenbar einen Spickzettel nutzen
zu können. Zuvor hat sie einen Augenblick darüber nachgedacht, wie
sich selbst hätte besser auf das, was unweigerlich kommen würde,
hätte vorbereiten können. Sie hat es aber nicht getan, obwohl sie
sich sogar im Internet noch über einen
Schummeltrick mit einer Colaflasche informiert hatte. Das
einzige, was ihr bleibt, ist die Hoffnung, irgendwann noch ihr unter
der Bank deponiertes Handy nutzen zu können.
Dann nimmt das
Ganze allerdings eine aus Yvonnes Sicht ungewollte Wendung, als sie,
vielleicht rein zufällig beim Umherschweifen ihres Blicks den
strategischen Fehler macht, über die Augen Kontakt mit Frau Lutz
aufzunehmen. Sogleich ist ihr klar, dass sie fortan unter
intensiverer Beobachtung ihrer Lehrerin steht und die Aussichten,
das Ganze doch noch irgendwie zum Guten zu wenden, damit schlechter
stehen denn zuvor. So ein Fehler, das gesteht sie sich ein, wäre
Dimtrij jedenfalls nie passiert, der während einer Klausur eben
nie von seinem Tisch aufsieht und damit und mit anderen Tricks
(z. B.
Spitzen des Bleistifts) den Eindruck erweckt, dass er voll und
ganz auf die Aufgaben konzentriert ist.
Noch einmal nimmt
Yvonne Anlauf, um die Klausuraufgaben zumindest zu verstehen. Doch
es bleibt ein aussichtsloses Unterfangen. Als die daraufhin mit
Zustimmung von Frau Lutz das Fenster öffnet, macht sich ihr Handy
unter ihrer Bank mit dem Vibrationsalarm bemerkbar und damit ist die
Klausur für Yvonne zu Ende. Sie muss wegen dieses Täuschungsversuchs
ihre Arbeit abgeben und obwohl sie dies mit einer betont
"coolen" Bemerkung kommentiert und einem Grinsen quittiert,
empfindet sie dies als eine "Blamage".
Sie fühlt sich ganz offensichtlich mit ihrem so dämlich
gescheiterten Täuschungsversuch vor ihren Mitschüler*innen, vor
allem aber vor denen blamiert, die wie sie, aber offenkundig
erfolgreicher beim Schummeln zu Werke gehen. Und ein Weiteres macht
ihr zu schaffen. Frau Lutz ändert nämlich daraufhin ihren Standort
in der Klasse und übt die Aufsicht nun von den hinteren Bankreihen
aus, was die Situation für Dimitrij in der vordersten Reihe nach
Ansicht von Yvonne schlagartig verändert. So beobachtet sie, dass
er, kaum dass dieser Standortwechsel von Frau Lutz vollzogen ist, "plötzlich"
drauflos schreibt, da damit, so glaubt sie, sein vermeintliches Kalkül aufgeht,
weil
"die Luft"
jetzt ausgerechnet durch ihr Malheur für ihn "rein"
geworden ist. Ihre zuvor gefühlte Schadenfreude darüber, dass Frau
Lutz vorne direkt bei Dimitrij gestanden hat, ist damit ausgerechnet
durch ihre Mißgeschick schlagartig haltlos geworden.
Offensichtlich
kratzt das Ganze eine ganze Weile lang an Yvonnes sonst in Sprache
und Gestus zur Schau getragene, unerschütterliche Selbstbewusstsein,
einem Verhalten, das sie auch in Situationen, wo sie eigentlich ihre
ganze Verletzlichkeit zeigt, wie bei den ständigen Misserfolgen bei
Mathe- und Physikklausuren, nicht ändern kann und will. Am
Nachmittag des gleichen Tages entdeckt sie auf einen Post auf ihrem
Facebook-Account, dessen Urheber*in der Text offen lässt. Es ist
eine Bildmontage, die sie und Dimitrij zum Opfer einer persönlichen
Cyberattacke macht. Sie zeigt, wie zwei Affen mit den darauf
montierten Köpfen der von Yonne und Dimitrij sich paaren.
Der
offene Schluss
der
vergleichsweise kurzen Erzählung, ihr
unvermittelter Beginn
mitten in eine Schulsituation, bei der eine mehr oder weniger
alltäglichen Physikklausur in einer Klasse der Oberstufe, der
knappe Wirklichkeitssauschnitt von neunzig Minuten Klassenarbeit
und dem nachfolgenden Nachmittag in der Schule, die mit
jugendsprachlichen Elementen versetzte Alltagssprache und die
weitgehende
Typisierung der Figuren, die auch im Falle der Hauptfiguren
(Yvonne, Dimitrij) keine voll ausgebildeten individuellen Charaktere
darstellen, machen die den Kurzprosatext zu einem typischen
Vertreter der Gattung Kurzgeschichte.
Dabei wirft der
Schluss der Geschichte wohl die meisten Fragen auf, die ein Leser im
Rahmen seiner Sinnkonstruktion beantworten kann. Der Schlüssel dazu
dürfte der Titel der Geschichte sein, der einen auf eine bestimmte
Spur bringen kann, auch wenn der Text die Fragen grundsätzlich offen
lässt.
Was bedeutet die
Bildmontage? Worauf spielt sie an? Wer könnte dahinter stecken? Was
könnten die Ursachen dafür sein? Und: Wie reagiert Yvonne wohl auf
diese ehrverletzende Cyberattacke?
Die Reflexion, die
durch solche Fragen ausgelöst wird, kann mehr oder weniger stark auf
den Text selbst bezogen werden, wobei die Antworten auf diese Fragen
natürlich auch den Text und sein Verständnis im Nachhinein neu
"justieren" können. Trotzdem bleiben die Antworten auf den Text im
Rahmen einer textnahen Interpretation weitgehend spekulativ. So kann
hier auch nur angedeutet werden, in welche Richtung sie gehen
könnten. Verschafft sich dadurch etwa gar Dimitrij Luft gegen die
anhaltende verbale Entgleisungen wie dem abwertenden Schimpfnamen
oder der Beleidigung als Affe, in dem er im Sinne des Titels das
Gemeinsame zwischen beiden betont, sich nämlich mit gemeinsamen
Cheaten in einer von Konkurrenz und Leistungsdruck geprägten
Schülerwelt durchzusetzen? Oder ist es eine andere Person aus der
Klasse, die solches Verhalten, mit denen sich die beiden Vorteile
verschaffen gegenüber denen, die den Stoff lernen und beherrschen?
Und schließlich, was sagt dies, über die sozialen Beziehungen der
Schüler*innen aus, wenn sie zu solchen, anonym vorgebrachten
Beleidigungen und Herabsetzungen über das Internet und die sozialen
Netzwerke greifen?
Der Titel "Shared
Cheatah" gibt auf solche Fragen auch keine Antwort. Eigentlich macht
er für sich allein genommen auch keinen Sinn, bedeutet er doch in
seiner Übersetzung einfach "Geteilte/r Cheatah". Dennoch verweist er
den nach einem Sinn suchenden Leser zur textinternen
Bedeutungskonstruktion auf den Text zurück und zugleich aber auch
zur textexternen Bedeutungskonstruktion über den Text und sein
erzähltes Ende hinaus. In jedem Fall lässt er unterschiedliche
Deutungen zu.
Der Verfasser nutzt
zur Gestaltung seiner Geschichte eine Reihe erzähltechnischer und
sprachlich-stilistischer Mittel.
Er gestaltet die
Geschichte in Form einer
Er-Erzählung,
dessen Erzähler ganz überwiegend die
personale Perspektive der Hauptprotagonistin Yvonne einnimmt. Er
ist damit auf die
Innensicht von Yvonne beschränkt, an deren Inneren er den Leser
bzw. die Leserin im Gedankenbericht und in Form der
erlebten Rede
teilhaben lässt (z. B. "Aber
hallo!, dachte sie","Ein
Was bitte?", "Und Cheatah?
Der hatte die Ruhe
weg), während das, was die anderen Figuren umtreibt, von Yvonne nur von
außen gesehen werden können und sie deshalb auch nur aus ihrem
Verhalten auf ihr Denken und Fühlen zurückschließen kann. Die
Figuren werden in dem für die Handlung nötigen Maß
typisiert. Yvonne wird als Figur ausschließlich in der
Prüfungssituation dargestellt, zeigt aber vor allem durch ihre
Sprache, die ihre wörtliche Rede (zitierte Figurenrede), die ihr
zuzuordnende erlebte Rede wie die den sprachlich-stilistisch in
ihrer Sprechweise und allgemeinen Sprachgestus stilistisch gefärbten
Erzählerberichte gewisse individuelle Züge. In gewisser Hinsicht
trifft dies auch auf Dimitrij zu und zwar insoweit seine Herkunft,
seine Einstellungen und Vorlieben von Yvonne zum Thema gemacht
werden. Frau Lutz, über deren Person der Leser nur wenig erfährt,
handelt als typische Lehrerin in dem den Schüler*innen und den
Leser*innen bekannten Prüfungssetting,
das mit seinen Skripts ein weitgehend vertrautes
Ereignisschema
darstellt. Die übrigen Schüler*innen, die im Handlungsraum des
Klassenzimmers agieren, sind unter dem Blickwinkel der Figurenkonstellation
Randfiguren,
die mit ihren Handlungen zur Atmosphäre der Geschichte beitragen
und zeigen, wie verbreitet Spicken in der Klasse ist. Sie haben
jedoch keinen direkten Einfluss auf die Haupthandlung und dienen
hauptsächlich der Darstellung der Schulklasse und der Dynamik des
Spickens sowie dazu, ihre Beziehungen zur Hauptprotagonistin Yvonne
zu verdeutlichen.
Sprache und Stil der
Geschichte ist von der
personalen Perspektive der Hauptprotagonistin Yvonne, von der
aus die Er-Erzählung
dargeboten wird, geprägt. Auffällig ist ihre typisch
jugendsprachlich geprägte Sprechweise in Wortwahl und Satzbau.
Etliche Wörter haben dementsprechend auch eine
zeitlich begrenzte Geltung,
weil auch sie die Zeit einer bestimmten Jugend wohl kaum überdauern
(z. B. "ist
ja echt assi" "sogar in
echt".) Darüber hinaus finden sich in der wörtlichen Rede
Yvonnes und im personal geprägten Erzählerbericht i. w. S.
zahlreiche Beispiel für sprachliche Elemente, die der
"Jugendsprache" bzw. jugendlichen Sprechweisen zugeordnet werden
können wie z. B. "haarscharf",
nach hinten raus wieder eng werden", "ey"
"briet
sie ihm dafür eins über",
"sogar in
echt", "das
muss man sich erst mal reinziehen", "memmte").
Außer auf der Ebene der Wortwahl zeigt sich die Jugendsprache auch
beim Satzbau mit nicht vollständigen Sätzen (Ellipsen)
und der
emotionalen Färbung des Erzählten, die auch mit weiteren
rhetorischen Mitteln wie z. B. indirekten
und direkten Vergleichen ("kannte er sich aber aus wie kein
anderer", "Beim
Cheaten war Dimitrij für sie der größte"),
Hyperbeln ("dem
Untergang geweiht" (auf der
, "öffentliche
Hinrichtung"), der einen oder anderen
Metapher sowie anderen sprachlichen Bildern ("Strafbank")
in ihrer Wirkung unterstrichen wird.
Einen sprachlichen
Kontrast zu dem personal geprägten Rest der Erzählung stellen die
von Yvonne gelesenen und vollständig zitierten Aufgaben dar, die in
der Sprache der Physik und der fachsprachlichen Didaktik gestaltet
sind ( "Wertetabelle",
"Funktionsterm",
"Plattenkondensator",
"Dosimeterplakette",
"Geiger-Müller-Zählrohr").
Ihr Kontrast betont die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Welten,
die Yvonne jedenfalls durch das erforderliche Verhalten und Wissen
nicht miteinander verbinden kann. ("Ein
Was bitte?")
Insgesamt zeichnet
die Geschichte das Bild einer von Leistungsdruck und Konkurrenz
gekennzeichneten Lebenswelt von Jugendlichen in der Schule, die dort
Vorurteilen und Ausgrenzung Vorschub leistet, wo eigentlich
solidarisches Verhalten und gegenseitiger Respekt angezeigt wären.
Dabei bleibt das "ewige" Thema von Spicken und Schummelei in der
Schule ohne jede weitere moralisch-ethische Bewertung und gehört zur
Lebenswelt der Schüler*innen einfach genauso dazu wie alles andere.
So fällt es auch nicht aus dem Rahmen dessen, was in der Welt um sie
herum nicht weniger üblich ist, wo sich alles um Gewinn, Erfolg,
Ansehen und Status zu drehen scheint. In dieser Welt um sie herum
gilt es eben, sich zu behaupten und alle Mittel einzusetzen,
um seinen sozialen Platz einzunehmen oder zu behaupten.
Zugleich
verdeutlicht die Kurzgeschichte mit der nur knapp erzählten
Cyberattacke an ihrem Ende, wie die Probleme, die daraus in den
sozialen Beziehungen von Schüler*innen untereinander entstehen,
nicht mehr in direkter Kommunikation, Face-to-face, ausgetragen und
geklärt werden, sondern sich in soziale Netzwerke verlagern und dort
im Schutz von Anonymität ohne jede Rücksicht aufeinander ausgetragen
werden. Die Verantwortung dafür aber allein den Jugendlichen
anzulasten, greift freilich zu kurz.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.07.2024