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Aspekte der Erzähltextanalyse

Textnahe Interpretation

Jens Ludwig, Shared Cheatah

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Jens Ludwig Kurzgeschichten Die Lachnummer Vor dem Finale KopfrauschenKehrwoche Jetzt ist Friede Shared Cheatah Text • Didaktische und methodische Aspekte [ Aspekte der Erzähltextanalyse • Überblick
Inhaltliche Erfassung des TextesTextsortenmerkmaleErzählform, Sichtweise und Erzählverhalten Darbietungsformen  Figurengestaltung  Raumgestaltung Zeitgestaltung Sprachlich-stilistische Analyse  Textnahe Interpretation ]Bausteine Gegenverkehr Ab in die Zone Steinschichten ▪ One fits allCasablanca Katzenjammer Sehen uns Schreibformen Operatoren im Fach Deutsch
 

 

Schulische Methoden der Textinterpretation
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 Umgangsweisen mit Literatur und Schreiprozess
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Aspekte der Schreibaufgabe
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Einen literarischen Text untersuchend erschließen
Über Fragen und Antworten zu einem textnahen Textverständnis gelangen

Erzählende Texte interpretieren
Didaktische und methodische Aspekte
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Aspekte der Erzähltextanalyse
ÜberblickFunktionszusammenhang 
Kriterien- und fragenkataloge zur schulischen Erzähltextanalyse
Überblick
Kategorientafel zur Erzähltextanalyse (Petersen)
Kriterien für die Sekundarstufe I
Fragenkatalog zur sprachlich-stilistischen Analyse erzählender Texte

Die nachfolgende Interpretation versteht sich al textnahe, d. h. überwiegend textimmanente Interpretation, die im Rahmen der schulischen Schreibaufgabe als Beispiel für eine Deutung des Textes anzusehen ist, die zum Teil • textbegleitend, zum Teil • aspektorientiert bzw. systematisch, z. B. bei der Analyse der erzähltechnischen und sprachlichen Mittel, vorgeht. Die in den Text integrierten Links führen zu den entsprechenden Analyseseiten, die sich mit dem jeweiligen Aspekt auseinandersetzen. Dabei versteht sich die Interpretation nicht als Musteraufsatz, der in dieser oder ähnlicher Form von Schüler*innen erwartet werden kann, soll aber dennoch eine Orientierung geben.

Die Kurzgeschichte "Shared Cheatah" von Jens Ludwig, die auf der Webseite von teachSam.de als Teil der Sammlung "Geschichten kommen immer zurück. Erzählungen" im Jahr 2016 in überarbeiteter Fassung veröffentlicht worden ist, führt den Leser mit ihrem für die Textsorte typischen, unvermittelten Beginn mitten in eine Schulsituation, bei der eine Physikklausur in einer Klasse der Oberstufe beginnt. Als Klassenarbeit in der Schule ist diese auch für den Leser sicher nichts Neues und insofern alltäglich.

Die noch junge Lehrerin Frau Lutz, von der es später heißt, sie sei in ihrem ersten Jahr entweder an dieser Schule  oder überhaupt im Schuldienst ("an der Schule"), ist mit ihrer kurzen Bemerkung, die sie vor Beginn der Klausur an die Schülerinnen und Schüler adressiert ("Also, Leute, wie immer") offensichtlich darum bemüht, von Anfang an die Kontrolle über die Situation zu haben. Indem sie die Schülerinnen und Schüler daran erinnert, das die Klausur wie die vorangegangenen verlaufen wird, macht sie ihre Schüler*innen vor allem darauf aufmerksam, dass dafür besondere Verhaltensregeln gelten. Ihre flapsig-lockere wirkende Anrede ("Also, Leute") kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie vor allem eines mit allen Kräften verhindern wird: "Täuschungsversuche" der Schüler*innen oder schlicht ihr Spicken und Schummeln. Während sie sich zur Wandtafel umdreht, um die Arbeitszeit, den Abgabetermin und die Anweisung "Handys und Smartphones bitte vorne deponieren!" anzuschreiben, macht sich Christian mit seiner Bemerkung "Ja, ja, Betten an die Wand!" noch einmal Luft und signalisiert in ironischer Weise, dass in den nächsten 90 Minuten streng nach den Regeln von Frau Lutz gespielt wird. Mit ihrem Hinweis, wonach jede weitere Verzögerung von der vorgesehenen Arbeitszeit der Schüler*innen abgezogen werde und ihrem mimisch-gestischen Verhalten ("böser Blick") gelingt es ihr, schnell wieder Ruhe in die Klasse zu bringen.

Das weiß auch Yvonne, aus deren Perspektive die Geschichte in Er-Form ganz überwiegend erzählt wird, als sie gegen die Anweisung ihr i-Phone auf stumm stellt und unter dem Tisch versteckt. Offensichtlich will sie es später zum Schummeln nutzen. Als die Klausuraufgaben verteilt sind, sieht sie schon beim Lesen der ersten Aufgabe, dass sie damit heillos überfordert ist und macht ihrem Unmut darüber Luft ("Gott, nee, das ist ja echt assi"), was ihr eine Zurechtweisung durch Frau Lutz und eine Standpauke ("Privataudienz") nach der Klausur einbringt. Die Lehrerin reagiert damit offenkundig auf die Unterstellung reagiert, sie wolle die Schüler*innen mit besonders schwierigen Aufgaben das Leben absichtlich schwer machen und zeigt damit auch, dass sie solche Disziplinverstöße nicht auf sich beruhen lassen will.

Auch Dimitrij, ein erst seit zwei Jahren in Deutschland lebender Mitschüler, dreht sich während des kurzen Wortwechsels zwischen Yvonne und Frau Lutz nach hinten um und schaut Yvonne offenbar direkt ins Gesicht. Statt gegen Frau Lutz richtet sich Yvonne daraufhin sehr emotional und in aggressiven Worten gegen Dimitrij, über den sie sich ohnehin schon etliche Vorurteile gebildet hat. Sie beleidigt ihn und weist ihn brüsk zurecht: "Was guckst du so blöd, Affe?"

Neben der Tatsache, dass sich Yvonne offenbar über die öffentliche Rüge ihrer Lehrerin ärgert, sind es vor allem ihre Vorurteile über Dimitrij, die sie zu dieser harschen Reaktion verleitet. Sie wirft Dimitrij, den sie Cheatah nennt, einfach in einen Topf mit "Russen",  für die sie anscheinend überhaupt nichts übrig hat, und kann mit seinen kulturell bedingten Auffassungen über das Kopftuch-Tragen seiner Schwester, mit seiner Computerbegeisterung und seiner Vorliebe für Computerspiele wie World of Warcraft so wenig anfangen, dass sie all dies in ihren Gedanken über ihn klar abwertet, auch wenn sie einräumt, dass er sich "mit PCs und dem ganzen Drumherum" auskannte, wie eben kein anderer. Nur aus der der Kommunikation in sozialen Netzwerken wie z. B. Facebook, das wie sich später herausstellt, für Yvonne eine große Bedeutung hat, macht er sich nichts. Dies und die Tatsache, dass er nicht einmal ein Smartphone besitzt, macht ihn in den Augen von Yvonne darüber hinaus zu einer Art Außenseiter. Aber nicht nur das unterscheidet ihn von Yvonne.

Angesichts der Nöte, in die Yvonne bei der Physikklausur gerät, sieht sie in ihm vor allem einem Konkurrenten im individuellen Kampf um Noten unter Einsatz von Schummelmethoden. Sie hält ihn, da er es immer wieder schafft, gute Noten zu schreiben, beim "Cheaten", dem englischen Wort für Schummeln, für den mit Abstand besten. Anders kann sie sich das einfach nicht erklären, auch wenn sie weder in der aktuellen Klausursituation, bei der sie ihn eigentlich nie aus den Augen lässt, und wohl auch aus früheren Klausuren keine verlässlichen Beobachtungen oder Angaben machen kann. Was sie über seine vermeintliche Spickerei behauptet, könnte so einfach auch von ihr zusammengereimt sein und von ihren Vorurteilen gegenüber dem vermeintlichen "Großmeister" des Schummelns geleitet sein. Wie um diese Einschätzung in Worte zu meißeln, hat sie ihm den Spitznamen "Cheatah" gegeben, über dessen allgemeine Verbreitung in der Klasse allerdings keine Aussagen gemacht werden. Sie hat den Spitznamen "Cheatah", in einer Art Wortspiel und angepasster Schreibweise aus dem englischen "to cheat" (= betrügen, schummeln) und dem Namen des Affen Cheetah, eines Schimpansen, der in verschiedenen Tarzan-Filmen mitspielt, gebildet und gibt ihm damit einen abwertenden Akzent, der zu ihren Vorurteilen und ihrer Antipathie gegenüber dem vermeintlich erfolgreicheren Konkurrenten passt. Doch offenbar nicht alle in der Klasse teilen solche Ressentiments gegenüber dem Migrantensohn aus Armenien. Özgül, deren Name auch auf einen Migrationshintergrund verweist, nennt ihn, jedenfalls einfach nur "Dimi", was den üblichen Abkürzungen von Namen unter Jugendlichen entspricht und eine gewisse Sympathie ausdrückt.

Was Yvonne Dimitrij/Cheatah konkret vorwirft, ist seine offenkundige Weigerung, sein Wissen bei einer Klausur mit anderen dadurch zu teilen, dass er sie abschreiben lässt. Vom trendigen "Sharen" wie Yvonne die Bereitschaft ein Verhalten nennt, Wissen im Internet mit einzelnen Personen, einer Community oder mit allen Internetnutzerinnen und -nutzern auf der ganzen Welt ohne Gegenleistung zu teilen, hält Dimitrij nämlich offensichtlich gar nichts. So hat er sie bei einer anderen Klausur, als Yvonne schon einmal wegen eines verbotenen kurzen Gesprächs mit ihrer Banknachbarin ganz vorne auf die von ihr als "Strafbank" titulierte Bankreihe neben ihm, der offenbar immer ganz vorne platziert ist, hatte sitzen müssen, offensichtlich auflaufen lassen. Indem er seinen Ordner aufrecht so neben sich hingestellt hatte, hatte er nämlich dafür gesorgt, dass Yvonne bei ihm nicht abschreiben konnte. Dass sich Yvonne durch dieses in ihren Augen ganz und gar unsolidarische Verhalten verletzt fühlt, ist verständlich, wenn man berücksichtigt, dass sie offenbar in Mathe- und Physikklausuren meistens vor großen Problemen steht und ohnehin davon ausgeht, dass Dimitrij seine guten Noten ohnehin nur seinen Fähigkeiten als "Großmeister" aller Schummler verdankt. Kein Wunder auch, dass sie mit Argusaugen über ihn wacht, und jede Regung beobachtet, um herauszubringen, wie seine vermeintlich so erfolgreiche Schummelei funktioniert.

Dass sie Dimitrij mit dem nur vordergründig als Spitzname zu bezeichnenden • Schimpfwort abfällig als "Cheatah"" bezeichnet, ist dabei die kurzgefasste Formel ihrer verzerrten Wahrnehmung und ihrer diffamierenden Vorurteile. Diese wiederum erscheinen wie die Folgen des so genannten Meine-Seite-Denkens (My-side-Bias), mit dem sie das, was sie sehen will, auch in kognitiv verzerrter Art und Weise wahrnimmt und zur Maxime eines nicht mehr der Vernunft zugänglichen sozialen Handelns macht.

Während einige Schülerinnen und Schüler schon dabei sind, ihre Lösungen der Aufgaben niederzuschreiben, und andere alle Register der Schummelei ziehen, beobachtet Yvonne, dass Dimitrij sich offensichtlich Zeit lässt. Für sie ist klar, dass der einzige Grund dafür sein kann, dass Frau Lutz sich unmittelbar vor der ersten Bankreihe für ihre Aufsicht positioniert hatte und damit natürlich auch Dimitrij bestens im Blick hat. Yvonne freut sich heimlich darüber, dass dieser, so wie es nun aussieht, verrechnet hatte, zumal sie selbst völlig überfordert eine Aufgabe nach der anderen studiert, deren fachsprachliche Terminologie sie schon vor Rätsel stellt ("Ein Was bitte?")

Ohne den Blickkontakt zu Frau Lutz aufzunehmen, ein Verhalten, das ihr offenkundig signalisieren kann, dass man sich mit einem Kontrollblick Gewissheit darüber verschaffen will, ob sie gerade zu einem hinschaut oder nicht, schweift der Blick Yvonnes im Klassenzimmer herum. Ganz genau registriert sie, dass es Andrea ähnlich wie ihr selbst geht, Benny mit seinem "Standardtrick" einen Blick auf einen Spickzettel in seinem Mäppchen riskiert und Marina ihren Rock ein Stück weit hochschob, um dort offenbar einen Spickzettel nutzen zu können. Zuvor hat sie einen Augenblick darüber nachgedacht, wie sich selbst hätte besser auf das, was unweigerlich kommen würde, hätte vorbereiten können. Sie hat es aber nicht getan, obwohl sie sich sogar im Internet noch über einen Schummeltrick mit einer Colaflasche informiert hatte. Das einzige, was ihr bleibt, ist die Hoffnung, irgendwann noch ihr unter der Bank deponiertes Handy nutzen zu können.

Dann nimmt das Ganze allerdings eine aus Yvonnes Sicht ungewollte Wendung, als sie, vielleicht rein zufällig beim Umherschweifen ihres Blicks den strategischen Fehler macht, über die Augen Kontakt mit Frau Lutz aufzunehmen. Sogleich ist ihr klar, dass sie fortan unter intensiverer Beobachtung ihrer Lehrerin steht und die Aussichten, das Ganze doch noch irgendwie zum Guten zu wenden, damit schlechter stehen denn zuvor. So ein Fehler, das gesteht sie sich ein, wäre Dimtrij jedenfalls nie passiert, der während einer Klausur eben nie von seinem Tisch aufsieht und damit und mit anderen Tricks (z. B. Spitzen des Bleistifts) den Eindruck erweckt, dass er voll und ganz auf die Aufgaben konzentriert ist.

Noch einmal nimmt Yvonne Anlauf, um die Klausuraufgaben zumindest zu verstehen. Doch es bleibt ein aussichtsloses Unterfangen. Als die daraufhin mit Zustimmung von Frau Lutz das Fenster öffnet, macht sich ihr Handy unter ihrer Bank mit dem Vibrationsalarm bemerkbar und damit ist die Klausur für Yvonne zu Ende. Sie muss wegen dieses Täuschungsversuchs ihre Arbeit abgeben und obwohl sie dies mit einer betont "coolen" Bemerkung kommentiert und einem Grinsen quittiert, empfindet sie dies als eine "Blamage". Sie fühlt sich ganz offensichtlich mit ihrem so dämlich gescheiterten Täuschungsversuch vor ihren Mitschüler*innen, vor allem aber vor denen blamiert, die wie sie, aber offenkundig erfolgreicher beim Schummeln zu Werke gehen. Und ein Weiteres macht ihr zu schaffen. Frau Lutz ändert nämlich daraufhin ihren Standort in der Klasse und übt die Aufsicht nun von den hinteren Bankreihen aus, was die Situation für Dimitrij in der vordersten Reihe nach Ansicht von Yvonne schlagartig verändert. So beobachtet sie, dass er, kaum dass dieser Standortwechsel von Frau Lutz vollzogen ist, "plötzlich" drauflos schreibt, da damit, so glaubt sie, sein vermeintliches Kalkül aufgeht, weil "die Luft" jetzt ausgerechnet durch ihr Malheur für ihn "rein" geworden ist. Ihre zuvor gefühlte Schadenfreude darüber, dass Frau Lutz vorne direkt bei Dimitrij gestanden hat, ist damit ausgerechnet durch ihre Mißgeschick schlagartig haltlos geworden.

Offensichtlich kratzt das Ganze eine ganze Weile lang an Yvonnes sonst in Sprache und Gestus zur Schau getragene, unerschütterliche Selbstbewusstsein, einem Verhalten, das sie auch in Situationen, wo sie eigentlich ihre ganze Verletzlichkeit zeigt, wie bei den ständigen Misserfolgen bei Mathe- und Physikklausuren, nicht ändern kann und will. Am Nachmittag des gleichen Tages entdeckt sie auf einen Post auf ihrem Facebook-Account, dessen Urheber*in der Text offen lässt. Es ist eine Bildmontage, die sie und Dimitrij zum Opfer einer persönlichen Cyberattacke macht. Sie zeigt, wie zwei Affen mit den darauf montierten Köpfen der von Yonne und Dimitrij sich paaren.

Der offene Schluss der vergleichsweise kurzen Erzählung, ihr unvermittelter Beginn mitten in eine Schulsituation, bei der eine mehr oder weniger alltäglichen Physikklausur in einer Klasse der Oberstufe, der knappe Wirklichkeitssauschnitt von neunzig Minuten Klassenarbeit und dem nachfolgenden Nachmittag in der Schule, die mit jugendsprachlichen Elementen versetzte Alltagssprache und die weitgehende Typisierung der Figuren, die auch im Falle der Hauptfiguren (Yvonne, Dimitrij) keine voll ausgebildeten individuellen Charaktere darstellen, machen die den Kurzprosatext zu einem typischen Vertreter der Gattung  Kurzgeschichte.

Dabei wirft der Schluss der Geschichte wohl die meisten Fragen auf, die ein Leser im Rahmen seiner Sinnkonstruktion beantworten kann. Der Schlüssel dazu dürfte der Titel der Geschichte sein, der einen auf eine bestimmte Spur bringen kann, auch wenn der Text die Fragen grundsätzlich offen lässt.

Was bedeutet die Bildmontage? Worauf spielt sie an? Wer könnte dahinter stecken? Was könnten die Ursachen dafür sein? Und: Wie reagiert Yvonne wohl auf diese ehrverletzende Cyberattacke?

Die Reflexion, die durch solche Fragen ausgelöst wird, kann mehr oder weniger stark auf den Text selbst bezogen werden, wobei die Antworten auf diese Fragen natürlich auch den Text und sein Verständnis im Nachhinein neu "justieren" können. Trotzdem bleiben die Antworten auf den Text im Rahmen einer textnahen Interpretation weitgehend spekulativ. So kann hier auch nur angedeutet werden, in welche Richtung sie gehen könnten. Verschafft sich dadurch etwa gar Dimitrij Luft gegen die anhaltende verbale Entgleisungen wie dem abwertenden Schimpfnamen oder der Beleidigung als Affe, in dem er im Sinne des Titels das Gemeinsame zwischen beiden betont, sich nämlich mit gemeinsamen Cheaten in einer von Konkurrenz und Leistungsdruck geprägten Schülerwelt durchzusetzen? Oder ist es eine andere Person aus der Klasse, die solches Verhalten, mit denen sich die beiden Vorteile verschaffen gegenüber denen, die den Stoff lernen und beherrschen? Und schließlich, was sagt dies, über die sozialen Beziehungen der Schüler*innen aus, wenn sie zu solchen, anonym vorgebrachten Beleidigungen und Herabsetzungen über das Internet und die sozialen Netzwerke greifen?

Der Titel "Shared Cheatah" gibt auf solche Fragen auch keine Antwort. Eigentlich macht er für sich allein genommen auch keinen Sinn, bedeutet er doch in seiner Übersetzung einfach "Geteilte/r Cheatah". Dennoch verweist er den nach einem Sinn suchenden Leser zur textinternen Bedeutungskonstruktion auf den Text zurück und zugleich aber auch zur textexternen Bedeutungskonstruktion über den Text und sein erzähltes Ende hinaus. In jedem Fall lässt er unterschiedliche Deutungen zu.

Der Verfasser nutzt zur Gestaltung seiner Geschichte eine Reihe erzähltechnischer und sprachlich-stilistischer Mittel.

Er gestaltet die Geschichte in Form einer Er-Erzählung, dessen Erzähler ganz überwiegend die personale Perspektive der Hauptprotagonistin Yvonne einnimmt. Er ist damit auf die Innensicht von Yvonne beschränkt, an deren Inneren er den Leser bzw. die Leserin im Gedankenbericht und in Form der erlebten Rede teilhaben lässt (z. B. "Aber hallo!, dachte sie","Ein Was bitte?", "Und Cheatah? Der hatte die Ruhe weg), während das, was die anderen Figuren umtreibt, von Yvonne nur von außen gesehen werden können und sie deshalb auch nur aus ihrem Verhalten auf ihr Denken und Fühlen zurückschließen kann. Die Figuren werden in dem für die Handlung nötigen Maß typisiert. Yvonne wird als Figur ausschließlich in der Prüfungssituation dargestellt, zeigt aber vor allem durch ihre Sprache, die ihre wörtliche Rede (zitierte Figurenrede), die ihr zuzuordnende erlebte Rede wie die den sprachlich-stilistisch in ihrer Sprechweise und allgemeinen Sprachgestus stilistisch gefärbten Erzählerberichte gewisse individuelle Züge. In gewisser Hinsicht trifft dies auch auf Dimitrij zu und zwar insoweit seine Herkunft, seine Einstellungen und Vorlieben von Yvonne zum Thema gemacht werden. Frau Lutz, über deren Person der Leser nur wenig erfährt, handelt als typische Lehrerin in dem den Schüler*innen und den Leser*innen bekannten Prüfungssetting, das mit seinen Skripts ein weitgehend vertrautes Ereignisschema darstellt. Die übrigen Schüler*innen, die im Handlungsraum des Klassenzimmers agieren, sind unter dem Blickwinkel der Figurenkonstellation Randfiguren, die mit ihren Handlungen zur Atmosphäre der Geschichte beitragen  und zeigen, wie verbreitet Spicken in der Klasse ist. Sie haben jedoch keinen direkten Einfluss auf die Haupthandlung und dienen hauptsächlich der Darstellung der Schulklasse und der Dynamik des Spickens sowie dazu, ihre Beziehungen zur Hauptprotagonistin Yvonne zu verdeutlichen.

Sprache und Stil der Geschichte ist von der personalen Perspektive der Hauptprotagonistin Yvonne, von der aus die Er-Erzählung dargeboten wird, geprägt. Auffällig ist ihre typisch jugendsprachlich geprägte Sprechweise in Wortwahl und Satzbau. Etliche Wörter haben dementsprechend auch eine zeitlich begrenzte Geltung, weil auch sie die Zeit einer bestimmten Jugend wohl kaum überdauern (z. B. "ist ja echt assi" "sogar in echt".) Darüber hinaus finden sich in der wörtlichen Rede Yvonnes und im personal geprägten Erzählerbericht i. w. S. zahlreiche Beispiel für sprachliche Elemente, die der "Jugendsprache" bzw. jugendlichen Sprechweisen zugeordnet werden können wie z. B. "haarscharf", nach hinten raus wieder eng werden", "ey"  "briet sie ihm dafür eins über", "sogar in echt", "das muss man sich erst mal reinziehen", "memmte"). Außer auf der Ebene der Wortwahl zeigt sich die Jugendsprache auch beim Satzbau mit nicht vollständigen Sätzen (Ellipsen) und der emotionalen Färbung des Erzählten, die auch mit weiteren rhetorischen Mitteln wie z. B. indirekten und direkten Vergleichen ("kannte er sich aber aus wie kein anderer", "Beim Cheaten war Dimitrij für sie der größte"), Hyperbeln ("dem Untergang geweiht" (auf der , "öffentliche Hinrichtung"), der einen oder anderen Metapher sowie anderen sprachlichen Bildern ("Strafbank") in ihrer Wirkung unterstrichen wird.

Einen sprachlichen Kontrast zu dem personal geprägten Rest der Erzählung stellen die von Yvonne gelesenen und vollständig zitierten Aufgaben dar, die in der Sprache der Physik und der fachsprachlichen Didaktik gestaltet sind ( "Wertetabelle", "Funktionsterm", "Plattenkondensator", "Dosimeterplakette", "Geiger-Müller-Zählrohr"). Ihr Kontrast betont die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Welten, die Yvonne jedenfalls durch das erforderliche Verhalten und Wissen nicht miteinander verbinden kann. ("Ein Was bitte?")

Insgesamt zeichnet die Geschichte das Bild einer von Leistungsdruck und Konkurrenz gekennzeichneten Lebenswelt von Jugendlichen in der Schule, die dort Vorurteilen und Ausgrenzung Vorschub leistet, wo eigentlich solidarisches Verhalten und gegenseitiger Respekt angezeigt wären. Dabei bleibt das "ewige" Thema von Spicken und Schummelei in der Schule ohne jede weitere moralisch-ethische Bewertung und gehört zur Lebenswelt der Schüler*innen einfach genauso dazu wie alles andere. So fällt es auch nicht aus dem Rahmen dessen, was in der Welt um sie herum nicht weniger üblich ist, wo sich alles um Gewinn, Erfolg, Ansehen und Status zu drehen scheint. In dieser Welt um sie herum gilt es eben, sich  zu behaupten und alle Mittel einzusetzen, um seinen sozialen Platz einzunehmen oder zu behaupten.

Zugleich verdeutlicht die Kurzgeschichte mit der nur knapp erzählten Cyberattacke an ihrem Ende, wie die Probleme, die daraus in den sozialen Beziehungen von Schüler*innen untereinander entstehen, nicht mehr in direkter Kommunikation, Face-to-face, ausgetragen und geklärt werden, sondern sich in soziale Netzwerke verlagern und dort im Schutz von Anonymität ohne jede Rücksicht aufeinander ausgetragen werden. Die Verantwortung dafür aber allein den Jugendlichen anzulasten, greift freilich zu kurz.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 08.07.2024

 
 

 
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