▪
Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden:
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
Sozialgeschichtliche Zugänge zum Werk Franz Kafkas
wurden Ende der 1960er Jahre für einige Zeit zum populärsten
Deutungsansatz, nachdem die Dominanz der •
werkimmanenten
Methode (Werkinterpretation) mit ihrer wissenschaftlichen Prämisse "Das sprachliche Kunstwerk lebt als solches
und in sich." (Kayser
1968, S. 24) endete. Die Neuorientierung, die die Germanistik in
dieser Zeit vornahm, führte dazu, dass die Literaturwissenschaft sich
fortan mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Fragestellungen
befasste.
Neben einem erweiterten Literaturbegriff, der auch
Gebrauchstexte umfasste, wurden literarische Texte auf ihre
gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Bezüge befragt, die
Wechselbeziehung zwischen literarischem Text und sozialem Kontext
analysiert und interpretiert.
Aufgabe der sozialgeschichtlichen Analyse
von Literatur ist es danach, "die Funktionen von Literatur innerhalb ihres
gesellschaftlichen und historischen Entstehungsumfelds freizulegen." (Becker/Hummel/Sander
22018, S.206) Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht nur der
Inhalt, sondern auch die Form eines literarischen Werkes
gesellschaftliche Prozesse widerspiegelt.

Für
größere
(740px) und
große
Ansicht (1200px) bitte an*klicken*tippen!
Kafkas Werke weisen und das sogar einschließlich seiner Tagebuchnotizen,
darin sind sich wohl alle einig, nur wenige direkte Zeitbezüge auf.
(vgl. Andringa
2008, S.322). So kam es wohl, dass sich sich Interpreten seiner
Werke, die sich darüber wunderten, auf eine Spurensuche in seinem Werk
begeben haben, in der Hoffnung auf "verborgene Hinweise auf die Wirren
des ersten Weltkriegs, auf sozial-politisches Engagement und Empathie
mit den Opfern des Krieges und der Gesellschaft" (vgl.
ebd.) zu
stoßen. Und tatsächlich wurden sie immer wieder fündig, auch wenn der
konkrete Textbezug nicht immer überzeugend gelungen ist.
Wer will, kann zwei verschiedene Aspekte des sozialgeschichtlichen
Deutungsansatzes unterscheiden, die auch für die Analyse von Kafkas
Werken bedeutsam sind. Pointiert gesagt kann man die
Sozialgeschichte eines literarischen Textes von der
•›Sozialgeschichte im
Text‹ (Schönert 1985) unterscheiden.
In der Praxis sozialgeschichtlicher Analyse eines Textes
spielen daher Fragen "nach dem Milieu, nach der Herkunft und
Sozialisation der Autoren, aber auch nach den in einer Gesellschaft
gegebenen Instanzen der Vermittlung von Literatur und nach der
literarischen Kommunikation insgesamt (Literaturbetrieb und -vertrieb,
Lesesozialisation, Verhältnis zwischen Autor und Leser, Buchmarkt,
Verlagswesen, Zeitschriften, Lesegesellschaften, Leihbüchereien und
Bibliotheken)" die entscheidende Rolle. (vgl. Becker/Hummel/Sander
22018,
S.207)
Zeitbezüge dieser Art wurden auf das Werk Franz Kafkas angewendet, indem
man den Niederschlag, den der
Strukturwandel in Prag um die Jahrhundertwende in sozialer Hinsicht
mit seiner besonderen Großstadtproblematik und der technologischen
Wandel dieser Zeit mit sich brachte, in Kafkas Werk aufspüren wollte.
Vor allem aber beschäftigte man sich mit dem
"multikulturellen" Umfeld, indem
Kafka in Prag aufwuchs und lebte. Dabei wurde Kafkas "jüdischer
Hintergrund und die relativ isolierte Position der deutschsprachigen
jüdischen Gemeinschaft in Prag"
(Andringa 2008,
S.323) von etlichen Wissenschaftler*innen bis ins Detail erforscht.
Dabei rückte immer wieder die daraus abgeleitete zwei- bzw.
dreifache Ghettoerfahrung
Kafkas in den Blickpunkt, der in einem jüdischen Ghetto aufgewachsen
sei, das von einem Ghetto aufsässiger Slawen umgeben und schließlich von
einem Wall umgeben gewesen sei, den die Verwaltung der
altösterreichischen Beamtenschaft gezogen hatte, die bis 1918 im Namen
Habsburgs Prag regierte. (vgl.
Politzer 1978)
Dass Kafka sein Leben lang an »Klaustrophobie,
der Angst vor geschlossenen Räumen, verbindet diese inzwischen von der
Wissenschaft erheblich relativierte Ausfassung mit •
biografischen und
•
psychoanalytischen
Deutungsansätzen.
Die ›Sozialgeschichte im Text‹ setzt bei ihrer Analyse dagegen den
Akzent darauf, wie und wieweit gesellschaftliche Erfahrungen, die der
Autor oder die Autorin gemacht haben, in einen literarischen Text
eingehen. Dadurch wird das Schreiben eines Autors, dessen Eigenart sich
erst durch Berücksichtigung seiner politischen, gesellschaftlichen und
kulturellen Bezüge erschließt, vom Sockel einer wie immer gearteten
"Genieästhetik" geholt und die gesamte Ästhetik unter dem Vorzeichen
ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit betrachtet.
Auf das Werk Franz Kafkas angewendet, geht es der überwiegenden Mehrheit
der Literaturwissenschaftler*innen, die sich zum sozialgeschichtlichen
Deutungsansatz und seinen Prämissen bekennen, darum "die Konstellation
zwischen dem Helden als (angeblich) unschuldigem Opfer und einer ihn
bedrohenden oder gar vernichtenden anonymen Macht"
(Engel
2010, S.421) herauszustellen. Diese wird dann, je nach
eigenen Überzeugungen der Interpret*innen, z. B. mit der von ihr
hervorgebrachten "Entfremdung" dem kapitalistischen System zugeordnet.
Oft wird sie auch, ähnlich der gesellschaftlichen Vision eines
Überwachungsstaates, die »George
Orwell (1903-1950) in seinem 1949 erschienenen »dystopischen
Roman »1984
als Ausdruck einer bis in die Nischen menschlichen Daseins
vordringenden, totalitären Welt und ihrer Apparate gesehen. In der »poststrukturalistischen
Diskursanalyse »Michel
Foucaults (1926-1984) wird sie zu einer "ominösen ›Macht‹, die alle
Diskurse regiert und in die Körper ›einschreibt‹"
(ebd.)
wie etwa in Kafkas parabolischen Erzählung •"In
der Strafkolonie".
Natürlich bleiben solche Deutungen nicht unwidersprochen, zumal sie
Kafka bzw. seinen Werken eine quasi prophetische Aussagekraft für
später eingetretene Entwicklungen in den totalitären faschistischen und
kommunistischen Staaten zuschreiben. Insbesondere die Medien haben sich
solchen Interpretationen angeschlossen. So hat »Orson
Welles (1915-1985) in seine Verfilmung von Kafkas Prozess, »The
Trial (1962), Reminiszenzen an KZ-Häftlinge einmontiert.
Dass sozialgeschichtliche Deutungen nach Ansicht
Engels (2010),
ungeachtet ihrer bis heute großen Beliebtheit, die sich auch in
zahlreichen Medienproduktionen unterschiedlicher Formate zeigt, in der
Literaturwissenschaft "einigermaßen aus der Mode gekommen sind"
(ebd.),
liegt seiner Ansicht nach vor allem an zwei Problemen.
Zum einen stelle sich die • anti-realistische
Erzählweise, die vor allem das spätere Werk Kafkas auszeichne, einer
Deutung entgegen, die in den Werken dieser Zeit einfach Elemente und
Probleme der vormodernen Lebenswelt widergespiegelt sehen will. Wenn
dies in Werken wie
"Das Urteil" (1912), "Die
Verwandlung" (1912), "Der
Verschollene" (1911/1914), •
"Der Prozess" (1914/15) oder auch •"In
der Strafkolonie" (1914)" zwar
noch aufgespürt werden könne, sei dies in späteren Werken durch
zunehmend zur Verfremdung der Darstellung zum Einsatz kommende
anti-realistische Erzählweise kaum mehr möglich.
Zum anderen sperre sich einer sozialgeschichtlichen Deutung auch die
Tatsache, dass in Kafkas fiktionalen Welten die Innenwelt des personalen
Erzählers stets die Außenwelt dominiere. Ob die dargestellten Probleme
als "Folge deformierter sozialer Strukturen" gedeutet werden können,
erscheint
Engel (2010),
der eine eher allgemeine anthropologische und ontologisch begründete
Perspektive bevorzugt, als "›linke(s)‹ Deutungsmodell"
(ebd.)
mehr als zweifelhaft.