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Der Geier

Überblick

Franz Kafka (1883 - 1924) Parabeln

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
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Halbschlafbilder und traumanaloges Dichten
Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka

Das kurze Prosastück • "Der Geier" von • Franz Kafka ist im Jahre 1917 entstanden, kurz nachdem sich der Autor von • Milena Jesenska getrennt und seine Tuberkuloseerkrankung diagnostiziert worden ist. Der Titel der Erzählung ist nachträglich von Max Brod (1884-1968), dem Freund und Herausgeber des literarischen Nachlasses von Franz Kafka, hinzugefügt.

• "Der Geier" wurde wie fünf weitere bis dahin nicht veröffentlichte Prosastücke (• Poseidon, Der Kreisel, Die Prüfung, • Gemeinschaft) in die erste mehrbändige Werkausgabe des Autors übernommen. Damit bekam ein breiteres Publikum, das Kafka bis dahin lediglich "als Autor expressionistisch getönter Erzählungen und gescheiterter Romanprojekte" (Stach 2011/42015, S.532f.) kennen gelernt hatte, neue Seiten des Autors zu Gesicht, die einen Erzähler präsentierten, der sich nicht mehr im opulenten Erzählen zeitweilig verlor, sondern - wie in den Stücken des »»Landarzt-Bandes (1920) - seine Vorliebe für abstraktere Formen zeigte. Mit diesen parabolischen Texten gelang es ihm, in metaphorischer Zuspitzung philosophische Probleme darzustellen und dafür vor allem das Paradoxon einzusetzen, "dem er ganz neue Effekte abgewann." (ebd.) Bis dahin hatte Kafka seine Kritiker besonders mit seiner sprachlichen Perfektion beeindruckt, was ihm auch die zugestanden, die mit seinen "phantastische(n) Zumutungen" (ebd.) wenig anfangen konnten. Die "neuen" Prosastücke, zu denen auch • "Der Geier" zählte, gaben eben "vor allem deshalb zu denken, weil sie zum Denken explizit und unwiderstehlich aufforderten." (ebd.)

• "Der Geier" kann dabei in besonders ausgeprägter Form das traumanaloge Dichten Franz Kafkas zu verdeutlichen. 

Halbschlafbilder, traumanaloges Dichten und Rhizom-Struktur der Darstellung

Immer wieder wurde in der Forschung die Nähe der Werke Kafkas zu Träumen betont und seine Werke als Ergebnis "traumanologen Dichtens" (Hiebel 2008, S.457) bzw. als eine Art Traumdichtung bzw. bezeichnet, die "ein nach der Logik des Traumes verfahrendes Komponieren" Erzählen darstelle: "Wie im Traum werden (private wie öffentliche) Ereignisse in Metaphern übersetzt, werden solche Metaphern miteinander verschaltet oder verdichtet, wenn ihnen Analoges zu Grunde liegt, werden metonymische Verschiebungen und Entstellungen zum Zweck der Chiffrierung vorgenommen, werden räumliche und zeitliche Ordnungen umgestellt oder aufgehoben. Dieses primär assoziative Verfahren - »Freud hat es in der »Traumdeutung« gültig festgehalten, prägt Kafkas suchendes, tastendes Schreiben." (ebd., S. 457) Die • Halbschlafbilder

In diesem traumanalogen Schreiben "vermischen sich [... ] Inneres und Äußeres, werden die verschiedensten metaphorischen und metonymischen Ersetzungen vorgenommen, werden die temporalen und kausalen Beziehungen umgestellt und purzeln die Einzelheiten - freilich nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, einer Traum-Logik - »rhizom«-artig durcheinander. Semantische und metaphorische Indizien verändern den Sinn der Phänomene von Punkt zu Punkt, so dass wir von einer gleitenden und zugleich paradoxen Metaphorik sprechen können." (ebd., S. 458)

Der Begriff des Rhizoms (griech. ῥίζωμα [rhizoma] = Wurzel) bezeichnet in der Botanik Wurzelgeflechte (Rhizome) von Pflanzen. Davon abgeleitet stellt der Begriff in der Philosophie und Wissenschaftstheorie von »Gilles Deleuze (19925-1995) und »Félix Guattari (1930-1992) eine Metapher für ein »postmodernes beziehungsweise »poststrukturalistisches Modell der »Wissensorganisation und Weltbeschreibung dar, das ältere, durch eine Baum-Metapher dargestellte, »hierarchische Strukturen ersetzt.

Was das bedeutet, kann man sich am leichtesten durch den Vergleich mit dem älteren, herkömmlichen Baum-Modell der Wissensorganisationen verdeutlichen. Darin hat alles seinen festen Platz in Über- und Unterordnungsbeziehungen und diese lassen sich als binäre Verzweigungen abbilden. Zu Ende gedacht steht, wenn sich alles nach dem binären Schema fügt, eins in zwei geteilt und in Dichotomien geordnet ist, ganz oben ein Konzept vom Einen, für manche Gott, für andere eine Art absoluter Geist. Setzt man diesem Konzept das Bild des dicht unter der Erdoberfläche wuchernden Wurzelgeflechts vielfältiger Pflanzen entgehen und überträgt diese Vorstellung auf die Organisation des Wissens, dann wird das Rhizom zu einer Metapher für ein anderes Denken, "das nicht hierarchisch ist, nicht tiefsinnig, nicht dialektisch, sondern schnell, vernetzt, heterogen, aparallel, asymmetrisch, mannigfaltig, vielschichtig - und das "nicht" schnell hinter sich lässt" (»noolog-Rezension von Deleuze/Guatarri, Rhizom 1973, 6.12.09)

In diesem vielwurzelig angelegten, traumanalogen Dichten Kafkas stehen die unterschiedlichsten Dinge also wie bei einem Rhizom miteinander in Verbindung, gehen einmal festere Verbindungen ein, dann nur für eine Weile, oder weichen einander aus, so wie eben ein Rhizom, das "an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden (kann)" um dann doch "entlang seiner eigen oder anderen Linien" weiterzuwuchern. (Deleuze/Guattari 1977, S. 16)

Michael Müller (2024) legt dar, dass Kafkas "Träume und alles, was ihnen nahekommt, der direkteste Weg" für ihn darstellt, um seinem "inneren Leben auf die Spur zu kommen." Seine »Halbschlafphantasien«, die in einer Phase entstanden seien, in denen das bewusste Denken nicht klar vom Unbewussten zu trennen sei und in der "ein gewisser Eingriff möglich" sei, seien "für Kafka in jahrelanger Übung zum perfekten Mittel" geworden, "um sich selbst zu erforschen und zu verstehen." (Müller 2024, S.155f.)

Indem Kafka Traumhaftes mit realistischen Mitteln erzählt und das Erzählte damit quasi in literarische Formen einer realistischen Darstellungsweise übersetzt, lässt sich Kafkas Kunst der "phantastischen Abstraktion" (Walter H. Sokel) auch als Traumkunst  verstehen. (vgl. Ries 2014, S.166): "In ihr gewinnen seelische Instanzen als die Kristallisation einer psychischen Dynamik eine visuelle Dichte der Darstellung, die nicht über sich hinausweist, sondern ist, was sie repräsentiert." (ebd.,S.167)

Halbschlafbilder und traumanaloges Dichten
Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 09.01.2025

 
 

 
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