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Halbschlafbilder und traumanaloges
Dichten
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Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka
Das kurze Prosastück • "Der
Geier" von • Franz Kafka ist im Jahre 1917
entstanden, kurz nachdem sich der Autor von
•
Milena Jesenska getrennt und
seine Tuberkuloseerkrankung diagnostiziert worden ist. Der Titel der
Erzählung ist nachträglich von
Max Brod
(1884-1968), dem Freund und Herausgeber des literarischen Nachlasses von
Franz Kafka, hinzugefügt.
• "Der
Geier" wurde wie fünf weitere bis dahin nicht veröffentlichte
Prosastücke (• Poseidon, •
Der Kreisel,
• Die
Prüfung, •
Gemeinschaft) in die erste
mehrbändige Werkausgabe des Autors übernommen. Damit bekam ein breiteres
Publikum, das Kafka bis dahin lediglich "als Autor expressionistisch
getönter Erzählungen und gescheiterter Romanprojekte" (Stach
2011/42015, S.532f.) kennen gelernt hatte, neue Seiten des
Autors zu Gesicht, die einen Erzähler präsentierten, der sich nicht mehr im
opulenten Erzählen zeitweilig verlor, sondern - wie in den Stücken des
»»Landarzt-Bandes
(1920) - seine Vorliebe für abstraktere Formen zeigte. Mit diesen
parabolischen Texten gelang es ihm, in metaphorischer Zuspitzung
philosophische Probleme darzustellen und dafür vor allem das Paradoxon
einzusetzen, "dem er ganz neue Effekte abgewann." (ebd.)
Bis dahin hatte Kafka seine Kritiker besonders mit seiner sprachlichen
Perfektion beeindruckt, was ihm auch die zugestanden, die mit seinen "phantastische(n)
Zumutungen" (ebd.)
wenig anfangen konnten. Die "neuen" Prosastücke, zu denen auch • "Der
Geier" zählte, gaben eben "vor allem deshalb zu denken, weil sie zum
Denken explizit und unwiderstehlich aufforderten." (ebd.)
• "Der
Geier" kann dabei in besonders ausgeprägter Form das traumanaloge
Dichten Franz Kafkas zu verdeutlichen.
Immer wieder wurde in der
Forschung die Nähe der Werke Kafkas zu Träumen betont und seine Werke als
Ergebnis "traumanologen Dichtens" (Hiebel 2008,
S.457) bzw. als eine Art Traumdichtung bzw. bezeichnet, die "ein nach der
Logik des Traumes verfahrendes Komponieren" Erzählen darstelle: "Wie im
Traum werden (private wie öffentliche) Ereignisse in
Metaphern übersetzt, werden solche Metaphern miteinander verschaltet
oder verdichtet, wenn ihnen Analoges zu Grunde liegt, werden
metonymische Verschiebungen und Entstellungen zum Zweck der Chiffrierung
vorgenommen, werden räumliche und zeitliche Ordnungen umgestellt oder
aufgehoben. Dieses primär
assoziative Verfahren - »Freud
hat es in der »Traumdeutung«
gültig festgehalten, prägt Kafkas suchendes, tastendes Schreiben." (ebd.,
S. 457)
Die • Halbschlafbilder
In diesem traumanalogen Schreiben "vermischen sich [... ] Inneres und
Äußeres, werden die verschiedensten metaphorischen und metonymischen
Ersetzungen vorgenommen, werden die temporalen und kausalen Beziehungen
umgestellt und purzeln die Einzelheiten - freilich nach einer bestimmten
Gesetzmäßigkeit, einer Traum-Logik - »rhizom«-artig
durcheinander. Semantische und metaphorische Indizien verändern den Sinn der
Phänomene von Punkt zu Punkt, so dass wir von einer
gleitenden und
zugleich paradoxen Metaphorik sprechen können." (ebd.,
S. 458)
Der Begriff des
Rhizoms (griech. ῥίζωμα [rhizoma]
= Wurzel) bezeichnet in der Botanik Wurzelgeflechte (Rhizome) von Pflanzen.
Davon abgeleitet stellt der Begriff in der Philosophie und
Wissenschaftstheorie von »Gilles
Deleuze (19925-1995) und »Félix
Guattari (1930-1992) eine Metapher für ein »postmodernes
beziehungsweise »poststrukturalistisches
Modell der »Wissensorganisation und Weltbeschreibung dar, das ältere, durch
eine Baum-Metapher dargestellte, »hierarchische
Strukturen ersetzt.
Was das bedeutet, kann man sich am leichtesten durch
den Vergleich mit dem älteren, herkömmlichen Baum-Modell der
Wissensorganisationen verdeutlichen. Darin hat alles seinen festen Platz in
Über- und Unterordnungsbeziehungen und diese lassen sich als binäre
Verzweigungen abbilden. Zu Ende gedacht steht, wenn sich alles nach dem
binären Schema fügt, eins in zwei geteilt und in Dichotomien geordnet ist,
ganz oben ein Konzept vom Einen, für manche Gott, für andere eine Art
absoluter Geist. Setzt man diesem Konzept das Bild des dicht unter der
Erdoberfläche wuchernden Wurzelgeflechts vielfältiger Pflanzen entgehen und
überträgt diese Vorstellung auf die Organisation des Wissens, dann wird das
Rhizom zu einer Metapher für ein anderes Denken, "das nicht hierarchisch
ist, nicht tiefsinnig, nicht dialektisch, sondern schnell, vernetzt,
heterogen, aparallel, asymmetrisch, mannigfaltig, vielschichtig - und das
"nicht" schnell hinter sich lässt" (»noolog-Rezension
von Deleuze/Guatarri, Rhizom 1973, 6.12.09)
In diesem vielwurzelig angelegten, traumanalogen Dichten Kafkas stehen die
unterschiedlichsten Dinge also wie bei einem Rhizom miteinander in Verbindung,
gehen einmal festere Verbindungen ein, dann nur für eine Weile, oder weichen
einander aus, so wie eben ein Rhizom, das "an jeder beliebigen Stelle
gebrochen und zerstört werden (kann)" um dann doch "entlang seiner eigen
oder anderen Linien" weiterzuwuchern. (Deleuze/Guattari
1977, S. 16)
Michael Müller
(2024) legt dar, dass Kafkas "Träume und alles, was ihnen nahekommt,
der direkteste Weg" für ihn darstellt, um seinem "inneren Leben auf die
Spur zu kommen." Seine »Halbschlafphantasien«, die in einer Phase
entstanden seien, in denen das bewusste Denken nicht klar vom
Unbewussten zu trennen sei und in der "ein gewisser Eingriff möglich"
sei, seien "für Kafka in jahrelanger Übung zum perfekten Mittel"
geworden, "um sich selbst zu erforschen und zu verstehen." (Müller
2024, S.155f.)
Indem Kafka Traumhaftes
mit realistischen Mitteln erzählt und das Erzählte damit quasi in
literarische Formen einer realistischen Darstellungsweise übersetzt,
lässt sich Kafkas Kunst der "phantastischen Abstraktion" (Walter H. Sokel)
auch als Traumkunst verstehen. (vgl.
Ries 2014, S.166): "In ihr gewinnen seelische Instanzen
als die Kristallisation einer psychischen Dynamik eine visuelle Dichte der
Darstellung, die nicht über sich hinausweist, sondern ist, was sie
repräsentiert." (ebd.,S.167)
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Halbschlafbilder und traumanaloges
Dichten
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Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.01.2025