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Stereotype Deutungsansätze vs.
Analyse von Codes
Es gibt einen Pluralismus toleranter Interpretationen
Heute gilt, dass ein literarischer Text
wie ▪ Franz
Kafkas "▪
Der Aufbruch"
keine fest umrissene Bedeutung besitzt. Der in den "Daten" eines Textes
verborgene Textsinn lässt sich nämlich auch bei bestem Willen im Text
nicht finden, denn "welchen Sinn, welche Bedeutung man mit literarischen
Texten verbindet, ist ... eine Entscheidung, die der Interpret fällt." (Horst
Steinmetz 1995, S.475). Dementsprechend sind auch alle derartigen
Interpretationsansätze legitim, ohne jedoch auch
gleichermaßen überzeugend oder
schlüssig zu
sein. Der kurze Prosatext ▪
Franz Kafkas, dem sein
Herausgeber
Max Brod (1884-1968) den Titel "Der Aufbruch"
gegeben hat, ist gerade mal 14 Sätze lang. Wer sie
liest, spürt schnell, dass das banale Geschehen, das ihr zugrunde liegt,
nicht den Sinn ausmacht, den er/sie der Leser dem Text zu geben versucht.
Zu
spärlich sind die raumzeitlichen Koordinaten vorgegeben, zu wenig über die
handelnden Personen ausgesagt, als dass man deren Handeln mit den einem
Leser vertrauten Schemata aus seinem Alltagshandeln wirklich (be-)greifen
kann. So stellt sich nach der Lektüre wohl im Allgemeinen ein gewisses
Befremden ein verbunden mit der Frage, was das Ganze denn bedeuten soll.
Diese • Fremdheitserfahrungen lohnt
es sich immer wieder zu thematisieren.
Kurzüberblick über verschiedene Deutungsansätze
Der nachfolgende Überblick stellt lediglich eine Auswahl gängiger
Deutungsansätze dar, die aber die Anzahl individueller Lesarten
erschöpfend abbilden kann.
1.
Symbolik des Geiers als zerstörerische Kraft
Der Geier kann als Symbol für eine unaufhaltsame, zerstörerische
Macht oder Bedrohung stehen, die das Leben der Menschen zermürbt.
Diese Bedrohung kann für verschiedene Aspekte des Lebens stehen:
Existenzängste, innere Konflikte oder auch äußere gesellschaftliche
oder politische Zwänge, die den Menschen zerstören. Der Mann ist
machtlos gegen den Geier, was zeigt, wie hilflos er dieser
übermächtigen Kraft gegenübersteht.
2. Passivität und
Ohnmacht
Die Hauptfigur tut lange nichts und versucht erst spät, sich zu
wehren. Das kann man so interpretieren, dass der Mensch ohnmächtig
ist, wenn er vor Herausforderungen steht. Außerdem zeigt die
verzweifelte Abhängigkeit von der Hilfe anderer, wie fremdbestimmt
die Figur ist.
3. Tod als letzte
Befreiung
Der Vorschlag des Außenstehenden, der den Geier auffordert, das
Opfer schnell zu töten, könnte man als Metapher für den Tod als
letzte Erlösung oder Befreiung interpretieren. Der Mann wird durch
den ständigen Angriff des Geiers gequält. Der Tod könnte ihn von
diesem Leiden erlösen. Interessant ist, dass der Geier am Ende sich
selbst tötet. Das könnte darauf hindeuten, dass das Böse oder die
quälende Macht am Ende in sich selbst zugrunde geht.
4. Beziehung
zwischen Opfer und Täter
Die Parabel könnte auch auf die Beziehung zwischen Täter und
Opfer hinweisen. Der Geier steht für den Täter, der das Opfer
ständig quält, aber das Opfer scheint diese Gewalt bis zu einem
gewissen Grad zu akzeptieren. Diese Dynamik könnte eine
metaphorische Darstellung von Unterdrückung oder Ausbeutung sein,
bei der das Opfer nicht aktiv versucht, die Gewalt zu beenden,
sondern in einer passiven Rolle verharrt.
5.
Existenzialistische Interpretation
In einer existenzialistischen Lesart kann "Der Geier" als
Darstellung der Absurdität des Lebens und der unvermeidlichen
Begegnung mit dem Tod interpretiert werden. Der Mann ist unfähig,
den Sinn oder das Ziel seines Leidens zu begreifen, und es scheint
keine Möglichkeit zu geben, dem Schmerz zu entkommen. Die
Selbsttötung des Geiers kann als Symbol für das Scheitern von
Versuchen gedeutet werden, das Leben oder den Tod zu kontrollieren.
6. Psychologische Deutung
Die Parabel lässt sich auch als Allegorie innerer Konflikte
interpretieren. Der Geier könnte dabei einen inneren Feind oder
destruktive Gedanken symbolisieren, die den Menschen zerfressen. Der
Kampf gegen den Geier wäre dann der Versuch des Menschen, mit seinen
eigenen inneren Dämonen umzugehen, denen er sich jedoch ausgeliefert
fühlt.
7. Gesellschaftskritik
Der Geier kann als Symbol für gesellschaftliche Unterdrückung
oder die unaufhörliche Gewalt, die von Autoritäten oder
gesellschaftlichen Strukturen ausgeht, interpretiert werden. Die
Passivität des Mannes spiegelt dabei die Ohnmacht des Einzelnen, der
sich den Kräften der Macht oder des Systems nicht entgegenstellen
kann.
Fingerhut
(2007, S.95f.) betont, dass, wie in anderen Geschichten des Autors auch,
dem Leser freigestellt sei, auf welche Wirklichkeitsausschnitte er die neu
erzählte •
Prometheus-Geschichte beziehen wolle. Gehe man "von der Funktion aus,
die ihr im seelischen Haushalt des Autors zukommen könnte, so ist es
denkbar, dass Kafka in dem zerstörerischen Geier (zwei Flügel, zwei
Lungenflügel) ein Bild der Krankheit sieht, die ihn eben überfallen hat,
dass er im Herkules, der ihm umständlich Hilfe zusagt, die ermunternden und
tröstlichen Worte der Ärzte porträtiert und dass er im katastrophischen Ende
seine Befürchtung artikuliert, die Krankheit werde ihn zerstören, noch bevor
die versprochene Hilfe eintrifft."
Für Alt
(2005/ 22008, S.577) wird am Ende der Erzählung, die er im
Kontext von Kafkas 1918 entstandener »Prometheus-Erzählung
betrachtet, die vier verschiedene Versionen des antiken Prometheus-Mythos
darbietet, "der Tod [...] der Ort der befreienden Auslöschung des letzten
Gedächtnisses“ darüber, was die Ursache für die Qualen des Mannes gewesen
ist. Insofern ist, in diesem Kontext gesehen, das Gedächtnis über den Mythos
verloren und die Qualen des Mannes erscheinen als durch und durch grundlos.
Binder (1975/31982,
S.250) verweist darauf, dass der Geier als Erzählmotiv schon in Kafkas
Erzählung Beschreibung eines Kampfes und "an einer sehr späten Briefstelle
ein Bild für die inneren Leiden, Ängste und Sorgen Kafkas, die ihn
»überflogen«". Das Wort »zerrissen« in Kafkas Geier korrespondiere dabei mit
einer Notiz Kafkas aus dem Sommer 1917: »Falls ich in nächster Zeit sterben
oder gänzlich lebensunfähig werden sollte ... so darf ich sagen, daß ich
mich selbst zerrissen habe. Wenn mein Vater früher in wilden, aber leeren
Drohungen zu sagen pflegte: Ich zerreiße dich wie einen Fisch ... so
verwirklicht sich jetzt die Drohung von ihm unabhängig.«
Nach Wiebrecht
Ries (2014)
lebt Kafka "sadomasochistische Folterphantasien" aus, wie er sie u. a. auch
in einem Brief an Max Brod vom 3.4.1913 geäußert hat. Darin heißt es:
"Vorstellungen wie z. B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie
ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der
Hand einem Hund in der Ecke zuschiebe – solche Vorstellungen sind die
tägliche Nahrung meines Kopfes." (zit. n. Ries 2014, S. 168) In diesem
Text werde, so betont
Ries (2014, S.163
ff.) weiter, "die Zwangsvorstellung
einer lustvollen Vereinigung mit der Zerstörungsgewalt einer schrecklichen
Vogelfigur ins unerträglich Grausame" gesteigert. Zugleich kombiniere das Ende der Erzählung
den Schock, des Ichs, den es mit seiner gewonnenen Erkenntnis erlebe mit der Lust am
Untergang, bei dem in einer paradoxen Art und Weise der Tod selbst umkommt.
So verrate diese Todesfantasie am Ende "die
orale Penetration durch einen 'Speerschnabel' eine sexuell getönte Lust am Vernichtetwerden in einem See von Blut." (ebd.)
Am Ende dringe das Ich über diese Erfahrung
zu den tiefsten und fremdesten Schichten der menschlichen Seele vor.
• Stereotype Deutungsansätze vs.
Analyse von Codes
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.01.2025
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