Der
letztlich in die Irre führende Titel Kleine Fabel kann
für die Interpretation von ▪
Franz Kafkas
• »Kleine Fabel« für den Einstieg genutzt
werden.
Das ist zwar
nicht unbedingt der Stand der modernen Kafka-Forschung, ist
aber dennoch als Zugang zum Text
am meisten verbreitet und für die schulische Textarbeit kaum
verzichtbar.
Die Hinzufügung dieses Titels für die äußerst knappe Erzählung
durch den Herausgeber Max Brod hat die Rezeption des Textes
maßgeblich beeinflusst. Der Titel wirkt nämlich für die
Rezeption des Textes suggestiv und lenkt den Leser von Anfang an
darauf, die Geschichte auf der Grundlage seines
Textmusterwissens zur
Literaturgattung
▪
Fabel zu lesen.
Literaturdidaktisch ist vor allem unter dem Aspekt seiner
Rekontextualisierung
ein kritischer Umgang mit Max Brods Titelgebung wichtig.
Die neuere Kafka-Forschung, die das • jüdische
Leben stärker in den Vordergrund der Interpretation rückt, stellt dabei,
zumindest nach Ansicht der diese Forschungsrichtung tragenden
Repräsentanten, auch für die Literaturdidaktik eine Herausforderung dar.
Wenn sie Anschluss an die Fachwissenschaft halten will, so z. B.
Nayhauss
2006, S.62) dann müsse sie Materialien bereitstellen, die "zum besseren
Verständnis, zur Klärung der Verstehensbedingungen" beitragen.
Der Tendenz, die
Kleine Fabel ohne den Anspruch auf ihre
(Re-)Kontextualisierung fassen zu
wollen, wird von
Nayhauss
(2006, S.62) widersprochen, der damit die Positionen, die er in seiner früheren
Analyse des Textes (Nayhauss
1974) eingenommen hat, deutlich revidiert.
Wer den
• jüdischen Hintergrund "im Denken, Fühlen und Darstellen" nicht kenne oder
nicht zur Kenntnis nehmen wolle, "der vermag zwar mit gutem Recht die
Leerstellen mit allen möglichen Fragmenten seiner Welterkenntnis
auszufüllen, ist jedoch nicht in der Lage, weder der ästhetischen noch der
poetischen durch das Judentum eingefärbten Semantik des Autors auf die Spur
zu kommen. Er bleibt, um es mit Kafka zu sagen, trotz seiner ungeheuren
Welt, die er im Kopfe hat, draußen vor der der Tür dieser Geistigkeit." (Nayhauss
2006, S.62)
Dies gelte um so mehr, "wenn jegliches
Textverständnis durch totale Fremdheit blockiert ist". (ebd.,
S.58) Ohne die Rekontexualisierung könne jemand, der "den
theologisch-anthropologischen Hintergrund der ostjüdischen Erzählungen von
Gilgui (das göttliche Gericht am Menschen als Strafe der Seelenwanderung)"
nicht kenne und
"keine Ahnung" von kabbalistischen Sagen und Geschichten"
habe, die Kafka seinerseits gut kannte, "den Text letztlich nur (!)" aus
einem begrenzten Horizont und damit selektiv wahrnehmen und die Kleine
Fabel damit "als surrealistische oder phantastische Geschichte
rezipieren, vielleicht gar psychologisieren, da das der leichteste Weg ist."
(ebd.)
Auch wenn die Ergebnisse der neueren Kafka-Forschung einen unter
literarwissenschaftlichen Überlegungen betrachtet, enormen Erkenntnisgewinn
bringt, indem sie einer rekontextualisierenden Interpretation ganz neue Wege
eröffnet hat, bleibt die
"ahnungslose", allerdings deshalb nie
voraussetzungslose Konkretisierung der Ansatz, der auch weiterhin einen
legitimen Zugang zu diesem Text verschaffen kann.
Dies gilt, dem erhobenen Geltungsanspruch, ja geradezu
"Alleinvertretungsanspruchs" der zeitgenössischen Kafka-Forschung in besonderem
Maße in der Schule im Umgang mit der Kleinen Fabel, die, wie kaum ein
anderer Text in einer weitgehend unbefangenen Rezeption zu den
unterschiedlichsten Deutungsversuchen geradezu einlädt, ohne den Anspruch
auf eine rekontexutalisiert "richtige" Interpretation zu erheben.