Kafkas
Parabel
▪ Vor dem Gesetz
hat, wenn man dies an ihrer Aufnahme in die einschlägigen Lehrbücher für die
Sekundarstufe II misst, heute im Literaturunterricht der Sekundarstufe
II •
nicht unbedingt einen festen Platz hat. Das hat verschiedene Gründe,
dürfte aber auch daran liegen, dass er in der •
Einzeltextvariante ein
besonders sperriger Text, der nach der Rezeption ein Gefühl ▪
struktureller Fremdheit erzeugen kann, das nicht so ohne
Weiteres überwunden werden kann.
Der erzählende Text ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung immer wieder
unterschiedlichen Gattungen zugeordnet worden, was zeigt, dass es
mitunter sehr schwierig ist, Kurzprosatexte des Autors entlang klar
abgrenzbarer Gattungsgrenzen zu definieren. So hat man
▪ Vor dem Gesetz
als
▪
Parabel,
• Gleichnis,
▪
Fabel,
Legende,
Märchen,
Sage, Geschichte,
Erzählung u. a. m. bezeichnet. (vgl.
Andringa 1994,
S.108ff., zit. n. Zymner 2010,
S.460)
Dementsprechend wurde damit auch die Interpretation des
Textes beeinflusst, zumal die Textrezeption oft durch die Brille
der ▪ Gattungszuschreibung wahrgenommen und
dann
versucht wird, sie auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2) Hinzukommen weitere subjektive Theorien (•
Folk-Gattungstheorien)
die einerseits subjektive, andererseits aber doch auch mehr oder weniger
sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände darstellen, die unsere
Wahrnehmung und auch unser Verständnis von Gattungen bestimmen. (vgl. Zymner 2010a,
S.3.)
Kafkas
"älteste und berühmteste" (Zymner 2010,
S.458) ▪
Parabel
▪ Vor dem Gesetz
ist im Vergleich zu den Parabeln, mit denen der Autor den •
innenperspektivischen Ich-Reflektor (•
Ich-Erzählform) in die Gattung eingeführt hat, vergleichsweise
konventionell erzählt. In ihr dominiert die
personalen Erzählsituation
(•
Er-Erzählform).
Der Text
existiert in zwei verschiedenen Parabelvarianten. Sie wurde mehrfach als
Einzeltext veröffentlicht, ist aber auch Teil seines Romans •"Der
Prozess".
Dadurch
funktioniert ihre Parabelwirkung auch auf eine jeweils besondere Art und
Weise. (vgl. Zymner 2010,
S.458)
-
Im
• "Prozess",
in dem die Parabel in das Kapitel • "Im
Dom" eingebettet ist, wird
die Aufforderung, den Sinn des Textes außerhalb der Textebene zu
suchen und zu konstruieren, durch den Umstand, dass der Kaplan hier
die Geschichte des Mannes vom Lande erzählt, "gewissermaßen von
vornherein semantisiert" (ebd.).
Zudem wird seine Erzählung noch dadurch perspektiviert, dass er
seiner Erzählung vorausschickt, sie handle "von dieser Täuschung",
womit nichts anderes gemeint ist, als die Täuschung Josef K.s im
Gericht. Dementsprechend zieht Zymner daraus den Schluss, dass die
Parabel-Geschichte im Kontext des Romans darauf zu beziehen sei,
"dass und wie sich K. in dem Gericht täuscht" (ebd.),
mit dem er sich in dem Roman immer wieder auseinandersetzen muss.
-
Als
Einzeltext ist die Parabel mit dem Titel
•"Vor
dem Gesetz" versehen und endet mit der strukturbildenden
paradoxen Pointe:
•"Hier konnte niemand
sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich
gehe jetzt und schließe ihn." In dieser Textvariante weist die
Parabel etliche Elemente auf, die als
•
implizites Transfersignal signalisieren, dass der Sinn des Textes außerhalb der Textebene
gesucht und konstruiert werden soll.
Der
Einzeltext und die in den Prozess-Roman eingebettete Variante ist von
zahlreichen Interpreten analysiert und gedeutet worden.
Auch
die Anhänger der •
Dekonstruktion im Gefolge »Jaques Derridas
(1930- 2004) haben sich ausführlich gerade mit diesem Text befasst,
der auf der "paradigmatischen wie auf der syntagmatischen Ebene
(...) ausgesprochen einfach strukturiert (ist) und (sich) dennoch (...)
dem Verstehen entzieht." (Burkhart
2008, S.387) In ihrem Programm geht es nicht mehr darum, "die
Intention des Autors zu dechiffrieren und/oder die endgültige Bedeutung
eines Textes festzulegen." (ebd.,
S.390) Vielmehr komme es darauf an, in einem unendlichen Spiel der
Zeichen den maßgeblichen Signifikanten des Textes zu folgen. (vgl.
ebd.)
Dazu gelte es, "jede angenommene bedeutungsmäßige Einheit des Textes eben zu dekonstruieren.“ (Steinmetz
1996, S.478) und "etablierte Lesarten von Texten zu attackieren" und
"scheinbar Marginales, das von früheren Interpreten oder im Text selbst
an den Rand gedrängt wurde, in den Vordergrund zu rücken, um die
»logozentrische« Unterscheidung zwischen Zentralem und Marginalem,
Wesentlichen und Unwesentlichen in einem zweiten Schritt grundsätzlich
in Frage zu stellen." (Bogdal (2000,
S.14)
Gefordert wird
statt einer Lektüre, die vorgibt, den einheitlichen Sinn eines
Textes ermitteln zu können, ein Lesen, das den Texten
"möglichst wenig Gewalt antut. Möglichst wenig Gewalt im Sinne
einer Zurichtung und Reduktion auf die eigenen Begriffe, die man
für die Lektüre mitbringt und an den Text heranträgt. Aber auch
möglichst wenig Gewalt im Sinne der Ausrichtung der Lektüre auf
ein Ziel." (Engelmann
1990, S.30f., zit. n.
Bogdal 2000, S.14) Und: "Der Unterschied zwischen •
hermeneutischen und dekonstruktiven
(antihermeneutischen) 'Textbefragungen' besteht darin, dass die
Hermeneutik von einem quasi
dialogischen Verhältnis zwischen
Text und Interpret ausgeht, das auf ein zunehmend besseres
Verständnis einer im Text enthaltenen Botschaft abzielt. Dabei
wird eine rekonstruierbare Sinneinheit, ein Sinnzusammenhang,
unterstellt." (ebd.)
Die dekonstruktivistische Extremposition negiert jede feste Bedeutung
eines Textes und zielt im Kern auf "die Demonstration ständiger, nicht
abzuschließender Bedeutungsveränderung und – erweiterung". (Steinmetz
1995, S.478) Die damit konstatierte unendliche und prinzipiell
unabgeschlossene Bedeutungsvielfalt von Texten hat insbesondere die
▪ werkimmanente Interpretationspraxis
kräftig erschüttert und sie in •
Turbulenzen gestürzt,
auch wenn sie in der Praxis des •
Literaturunterrichts an den
Schulen wohl wenig Bedeutung gewonnen hat, zumal die Dekonstruktion
selbst eingefleischten Wissenschaftlern schnell als "rein semiotische
Spielerei mit etwas schielendem Blick als absehbar und daher schnell
ermüdend" (Burkhart
2008, S.393)vorkommt. Diesem Gedanken schließen wir uns an.