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Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden: Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
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Bausteine
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Baustein: Das Gesetz auf der Textebene erschließen
Die Ratlosigkeit
und Verwirrung, für die •
Kafkas "
Text •
Vor
dem Gesetz" bei seinen Rezipientinnen und Rezipienten sorgen
kann, mündet oft in dem Urteil, dass es sich um einen besonders
sperrigen Text handelt, der eben als solcher Gefühle
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struktureller Fremdheit erzeugen kann,
Auch wenn die »kognitive
Dissonanz, die derartigen Erfahrungen zugrunde liegt, zum
Ausgangspunkt einer Spurensuche werden kann, die nach den Ursachen
ihrer Entstehung bei einem selbst und in Bezug auf den Text fragt,
sitzt der Schock, den vor allem der Schluss des Textes bei den
Leserinnen und Lesern, wie auch den Interpretinnen und
Interpretinnen auslöst, offenbar so tief, dass sich die
entscheidenden Fragen, die der Text aufwirft, immer wieder um ihn
dreht.
(Andringa 1994,
S.179f.) Wer sich auf auf die Spurensuche nach dem Sinn
dieses Textes machen will, kommt um den Schluss also nicht herum,
muss die Spurensuche "von einer erwarteten oder logischen,
geradlinigen Stimmigkeit wegführen und damit sowohl Denkrichtungen
auslösen als auch dazu anregen, das Denken selbst zu hinterfragen."
(Andringa
2008, S.330)
Dies gilt natürlich
in besonderem Maße für den Literaturunterricht. Sich allerdings am
Beispiel von •
Vor
dem Gesetz"
selbstbewusst auf die Reflexion des eigenen Textverstehens und den
Text, der seinen Sinn so gar nicht preisgeben will, einzulassen,
ist, so spannend und lohnenswert dieses "Abenteuer" der Spurensuche
ansonsten auch sein mag, in diesem Fall besonders. Denn dieser Text
verweigert mit seinem paradoxen Schluss wohl alles das, was
insbesondere Schülerinnen und Schüler zur Sinnkonstruktion
heranziehen können. Folgt man
Hansen-Löve (1992, 1994, S.146), dann ist diese Parabel nämlich "eine Falle,
genauer eine Interpretationsfalle - bestehend aus Wörtern und Sätzen,
Argumenten und Kalkülen." Jeder, so seine These, der versucht, ihren
Sinn zu ergründen, befindet sich "schon im Räderwerk ihres unerbittlichen Mechanismus, im parabolischen
Brennpunkt einer paradoxalen Logik, die unseren Lebensnerv trifft."
Dabei ist das Schlussparadox nicht einmal das einzige Paradox, das
sich einer Sinngebung entgegenstellt. Insgesamt identifiziert er 11 verschiedene solche Paradoxe im Text, die
am Ende dazu führen, "dass die sich aufdrängende Sinnlosigkeit der Sinn
selbst ist", weil "das wahre Paradox (...) als Wahrheit (...) keine
Auflösung in Sinngebungen (verträgt), die seinen Widerspruch
missachten:" (ebd.
S.155)
Wer sich auf die
Spurensuche mit diesem Text einlässt, kann also mit vergleichsweise
hoher Wahrscheinlichkeit bei der Sinnkonstruktion scheitern und
sollte dieses Scheitern quasi als ästhetische Erfahrung eines Textes
verstehen, der u. U. nichts anderes will.
Die Deutung des Schlussparadoxes in der Literaturwissenschaft
Die große Anzahl
der Interpretationen zu •
Kafkas " •
Vor
dem Gesetz" kann hier natürlich nicht dargestellt werden und
auch ihre Entwicklung, sowie die Voraussetzungen dieser Entwicklung
ist ein eigenes Forschungsgebiet im Rahmen im wissenschaftlichen
Literaturbetrieb. (vgl.
Andringa 1994;
Schmidt 2007).
Zwei miteinander verbundene Probleme beschäftigen die
Interpreten, so
Andringa (1994,
S.179
dabei besonders:
In der Beschäftigung
mit diesen Kernproblemen werden dabei immer wieder Deutungen des
Textes vorgenommen, die die von ihm aufgeworfene Sinnfrage auf ihre
jeweils eigene Art und Weise zu beantworten suchen.
Die unterschiedlichen
Akzente, die die Interpreten in der Beschäftigung mit diesen
Kernproblemen und ihren Antworten darauf setzen, oszillieren nicht
zuletzt um die Frage, welche Botschaft von dem Text ausgeht bzw. wie
es um ihren belehrenden Charakter als •
Gleichnis bestellt ist.
Die im Strom der
Interpretationen frühen Deutungen tendieren dabei immer wieder dazu,
ihren Sinn
"in der Richtung einer moralischen Botschaft oder einer Belehrung"
zu sehen, während spätere sich eher auf eine psychologische Lesart
festlegen.
Hinsichtlich des belehrenden Charakters fragen sich viele
Interpreten: "(Ist) ... die Legende als negatives oder
vielmehr als positives "Gleichnis" aufzufassen?"
(Andringa 1994,
S.179f.)
Andringa (1994,
S.179f.) hat die Antworten, die die verschiedenen Interpreten
darauf geben, im einzelnen und im Vergleich miteinander untersucht
und dabei drei bzw. vier verschiedene Antwortmöglichkeiten
unterschieden, die im Folgenden ohne bibliografische Angaben zu den
jeweils zitierten Autorinnen und Autoren wiedergegeben werden.
Auffällig ist dabei, dass die überwiegende Anzahl früherer Deutungen
bemüht sind, "eine Ursache für den paradoxen Ausgang anzugeben,
indem sie einer der sich gegenüberstehenden Parteien die Schuld
zuschieben: entweder der Mann versagt in irgendeiner Weise oder er
ist Opfer des a priori Bösen. Dabei fällt auf, daß die dritte
Möglichkeit relativ selten vertreten ist. Und das gilt auch für das
positive Gegenstück. Die optimistische Einschätzung bietet zwar eine
klare Alternative, sie wird jedoch nur von wenigen vertreten. Die
Mehrheit der Deutungen setzt also, allgemein formuliert, ein
Scheitern voraus."
(Andringa 1994,
S.181)
Dabei
kommt es, wie
Andringa (1994,
S.187) feststellt, in manchen frühen Interpretationen auch zu
einem Widerspruch: einerseits erkenne man nämlich (Zimmermann,
Kaiser, Henel, Allemann) bereits, daß die Legende eine Paradoxie
enthält und sich damit auch einer eindeutigen Sinngebung entziehe,
andererseits bemühe man sich doch um die Auflösung der Paradoxie:
"Der Glaube an die Einheit des Sinnes und die Möglichkeit einer,
vorzugsweise positiven, Lösung - Erbe des hermeneutischen
Deutungsideals aus dem 19. Jahrhundert - ist noch zu stark. Das
Paradox wird gleichsam verdrängt."
(Andringa 1994,
S.187)
Die
vier von
Andringa (1994)
dargestellten Möglichkeiten sind:
-
Die Legende wird positiv betrachtet. Diese Variante
geht davon aus, dass der Text dem Leser das Verhalten des Mannes
als ein negatives Beispiel darbietet, das aber damit
zugleich auch auf eine positive Alternative verweist.
-
Die Legende wird ebenfalls positiv betrachtet, das
Verhalten des Mannes als positives Vorbild bewertet.
-
Die Legende wird negativ gesehen, weil "sie insgesamt
nur Negatives" präsentiert.
-
Die Legende
wird ohne positive oder negative moralische Bewertung für in
dieser Hinsicht unentscheidbar aufgefasst.
Geordnet nach diesen vier globalen Gruppen ordnet
Andringa (1994,
S.179f.) die verschiedenen Interpretationen des Schlusses wie
folgt:
"
-
"Positiv" als "Warnung" in der Form eines negativen
Beispiels: die Legende soll auf eine positive Alternative
hinweisen oder, weniger stark, Einsicht in die Situation
verschaffen.
a.
Der Mann versagt existentiell durch menschliche Schwächen, er
hätte anders handeln sollen. Als Ursachen werden genannt: Angst,
Feigheit, Willensschwäche [Henel, Born, Eschweiler],
Verhaftetsein an der irdischen Existenz, Zweifel (Emrich].
b.
Der Mann versagt religiös durch Glaubensschwäche, er hätte
anders handeln sollen. Erklärungsvarianten sind Verlust der
Beziehung zu Gott, das Verlorengehen der Religion oder der
religiösen Einsicht [Buber, Zimmermann, Diller, Voigts],
religiöses Versäumnis [Weinberg], Mangel an Glaubensstärke und
Einsatz [Rosteutscher, Abraham].
c.
Der Mann bewirkt sein eigenes Scheitern, indem er sich auf eine
Möglichkeit fixiert. Varianten sind Fixierung auf die Macht, auf
die Autorität [Nägele], Fixierung auf das, was er sich einmal
vorgenommen hat: er kann seine Sichtweise nicht aufgeben, kann
sich nicht aus dem Zwiespalt zwischen Verlockt- und
Abgeschrecktwerden befreien, macht von seiner Freiheit, wie. der
zu gehen, keinen Gebrauch [Sokel 2, Kobs, Duhamel], fixiert sich
auf seine eigenen falschen Voraussetzungen [Steinmetz], auf das
Vertrauen in die Logik [Elm, Detsch].
Die
positive Konsequenz ist in c weniger stark als in a und b; es
geht mehr um die Erhellung der Situation als um das Anprangern
moralischen Versagens oder den Hinweis auf einen alternativen
Weg.
-
"Positiv" im Sinne einer Aufklärung durch ein positives
Beispiel.
a.
Dadurch, daß der Mann mit Geduld und in Demut ausharrt, wird er
zuletzt des Glanzes ansichtig [Citati]. Variante: das Aufgeben
der Logik macht mystische Erfahrung erst möglich [Detsch).
b.
Der Tod gilt letztendlich als Daseinsbestimmung und
Rechtfertigung [Allemann), der Mann gelangt durch den Tod ins
Gesetz [Kurz).
c.
Erkenntnis und Tod fallen zusammen (in diese Richtung weisen die
analytischen Versuche Verbeecks).
-
"Negativ"
im Sinne einer Exemplifizierung oder sogar Anwendung des
Negativen."
a.
Die Hoffnung enthüllt sich als Täuschung; damit ist im Roman die
Täuschung durch Täuschung illustriert [Deinert, Pascal].
b.
Es zeigt sich die Unbarmherzigkeit einer satanischen Macht, die
den Mann quält und vom Glanz, den er im letzten Moment erblickt,
definitiv ausschließt. Ist zu deuten als Vergeblichkeit des
Daseins und religiös als "Auflösung der Heilstradition" [Ries,
Ansatz auch bei Buber und Weinberg]
-
Eine Entscheidung ist nicht möglich. Die Ursache dieser
Unmöglichkeit und der Sinn der Legende bestehen in einem
unabschließbaren Prozeß des Suchens oder Deutens.
a.
Es bleibt sowohl für Josef K als auch für den Mann unmöglich,
die Sinnschwelle zu überschreiten, dem Sinne ist einfach nicht
beizukommen [Kaiser].
b.
Der paradoxe Zirkel ist Grundmuster des Textes. Das, was im
endlos sich wiederholenden Deutungsprozeß erklärt werden soll,
entzieht sich letztlich der Bestimmung: Der Mann kommt mit
seinen rationalen Erwartungen und Deutungsversuchen, auf denen
sein Handeln beruht, nicht zurecht; auch Josef K verwirrt sich
in den logischen, aber sich widersprechenden Deutungen [Kobs,
Gaier, Hart Nibbrig, Nägele].
c.
Der Deutungsprozeß des Lesers wird explizit als Parallele zum
Textinhalt formuliert. Der Leser bemüht sich mit ähnlichen
Erwartungen um eine Deutung als der Mann und Josef K. Auf allen
Ebenen manifestiert sich der Entzug einer Wahrheit oder eines
Sinnes [Elm, Derrida]."
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Baustein:
Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden: Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...
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Baustein: Das Gesetz auf der Textebene erschließe
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2024
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