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Franz Kafkas
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Parabel
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Vor dem Gesetz« ist ungeachtet der
Tatsache, dass sie insgesamt zu den bekanntesten Kurzprosatexten des
Autors zählt, sofern sie nicht als Teil seines Romans • "Der Prozess"
rezipiert wird, ein besonders sperriger Text, der nach der Rezeption ein
Gefühl ▪
struktureller Fremdheit erzeugen kann.
Die von solchen Erfahrungen ausgelöste »kognitive
Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat,
sich einfach nicht so (kognitiv) verarbeiten lässt, wie man das gewohnt ist,
kann nämlich nicht so leicht beiseite geschoben werden. Wer sie überwinden
will, muss sich aktiv damit auseinandersetzen. Wenn die Muster, mit denen wir etwas Gelesenem
Bedeutung bzw. Sinn zuschreiben, einfach nicht mehr funktionieren
wollen, ist es also nötig, darüber nachzudenken, warum das so ist und nicht
anders.
Die mit dem Erleben kognitiver Dissonanz verbundenen
Unlustgefühle bergen aber auch Chancen, wenn sie Ausgangspunkt
einer Spurensuche werden, die nach den Ursachen ihrer Entstehung bei
einem selbst und in Bezug auf den Text fragt. Diese Spurensuche kann
"von einer erwarteten oder logischen, geradlinigen Stimmigkeit
wegführen und damit sowohl Denkrichtungen auslösen als auch dazu
anregen, das Denken selbst zu hinterfragen." (Andringa
2008, S.330). Sich selbstbewusst auf die Reflexion des eigenen
Textverstehens und den Text, der seinen Sinn so gar nicht preisgeben
will, einzulassen, das ist ein spannendes wie auch äußerst
lohnenswertes "Abenteuer", das einem am Ende viel über sich selbst
und über den Text, an dem man sich "gerieben" hat, sagen kann.
Nicht zuletzt deshalb hat er auch die
Literaturwissenschaft zu einer Flut unterschiedlicher Interpretationen
veranlasst und gehört zu den prominentesten Gegenstand der "Kafkalogie",
als jenem damit ein wenig despektierlich bezeichneten Kreis von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit immer wieder anderen
Erkenntnissen aus den unterschiedlichsten Kontexten, die zu seiner
Deutung herangezogen werden, sich von vorherigen Interpreten des Textes
abheben wollen. Vielleicht liegt die Tatsache,
dass » ▪
Vor dem Gesetz«
heute nicht unbedingt mehr zum Kanon der im Literaturunterricht
behandelten Kurzprosatexte Franz Kafkas gehört (zumindest ist die
Erzählung in den gängigen Lehrbüchern kaum noch zu finden) auch
daran, dass in den jüngeren literaturwissenschaftlichen
Interpretationen Ansätze dominieren, die den Text in den Bezugsrahmen
der jüdischen Theologie stellen. Seine Berücksichtigung dürfte im
Allgemeinen den Rahmen der in der Schule üblichen •
kontextualisierten werkimmanenten Interpretation von Parabeln
sprengen.
Der
• Literaturunterricht in der Schule kann zwar auch in diesem Fall
versuchen, Anschluss an den fachwissenschaftlichen Diskurs zu halten,
darf aber seine literaturdidaktische Orientierung nicht aus den Augen
lassen. Dies führt gerade auch im Umgang mit diesem Text dazu, dass der
literaturwissenschaftliche Diskurs darüber nur dann einbezogen werden
kann, wenn außer Frage steht, dass dieser nicht zu abgehoben daherkommt
und dem Ziel literarischer Bildung und des ▪
literarischen Lernens
Spinner (2006)
in der Schule zuträglich erscheint. Die Methoden im
Literaturunterricht sind eben nicht das Gleiche wie ▪
literaturwissenschaftliche
Interpretationsmethoden und verfolgen dazu auch
noch ganz andere Ziele.
Dass
» ▪
Vor dem Gesetz« ein Text ist, an dem
das hermeneutische Textverstehen ("Statt Hermeneutik - Hermetik."
Hansen-Löve 1992, 1994, S.147) zwar exemplarisch exerziert werden,
aber auch an seine Grenzen bringen kann ("Statt Hermeneutik - Hermetik."
Hansen-Löve 1992, 1994, S,147), dürfte einer der Gründe sein,
weshalb sie in gängigen Lehrbüchern für die Sekundarstufe II nicht
aufgenommen ist.
Hansen-Löve (1992, 1994, S.147) jedenfalls meint, dass die Parabel
"den Interpretationsbetrieb des menschlichen Bewusstseins selbst
(paralysiert)". Dem ist insoweit zuzustimmen, dass die »kognitiven
Dissonanzen, die er bei der
Rezeption entstehen, sich auch bei einer vertieften Lektüre nicht
unbedingt auflösen lassen und der Text damit auch zu einem Beispiel für
moderne Parabeln stehen kann, bei denen •
die Auflösung des
engen Verweiszusammenhangs von Bild- und Sachbereich
besonders deutlich hervortritt. Folgt man
Hansen-Löve (1992, 1994, S.146), dann ist diese Parabel "eine Falle,
genauer eine Interpretationsfalle - bestehend aus Wörtern und Sätzen,
Argumenten und Kalkülen. Indem wir sie interpretieren, befinden wir uns
schon im Räderwerk ihres unerbittlichen Mechanismus, im parabolischen
Brennpunkt einer paradoxalen Logik, die unseren Lebensnerv trifft."
Insgesamt identifiziert er 11 verschiedene solche Paradoxe im Text, die
am Ende dazu führen, "dass die sich aufdrängende Sinnlosigkeit der Sinn
selbst ist", weil "das wahre Paradox (...) als Wahrheit (...) keine
Auflösung in Sinngebungen (verträgt), die seinen Widerspruch
missachten:" (ebd.
S.155)
Wohlgemerkt:
Hansen-Löve (1992, 1994) Lesart der Parabel ist nur eine von
zahlreichen anderen, die in der Literaturwissenschaft kursieren und
denen sich inzwischen verschiedene Forschungsüberblicke gewidmet haben,
deren Ergebnisse nachzuzeichnen hier nicht möglich ist. Doch soll
Friedrich
Schmidt (2007, S.66f.) mit ein paar Bemerkungen zu Wort kommen, die
auch unter literaturdidaktischer Perspektive interessant sind. So betont
er, dass in den von ihm dargebotenen Interpretationen nur wenige
Deutungen "völlig unannehmbar oder schlichtweg abwegig (sind). Wenn sie
es dennoch sind, so vor allem deshalb, weil die Interpreten auf der
Suche nach einem bestimmten Textsinn einen Aspekt des
Textes, der oft genug nur durch Manipulation des Wortlauts aufzufinden
ist, verabsolutieren und dabei wie Richard Rorty sagt, 'den Text so
lange zurechtklopfen, bis er in ihre Schablonen paßt.' [zitiert nach Eco
1992, S.44,] Vorausgesetzt wird dabei jedesmal, daß jener Sinn dem Text
in der Art eines 'hintergründige(n) Rätsel(s)' mitgegeben ist, das nur
darauf wartet, 'entschlüsselt' zu werden, und zwar von denen, sich sich
auf das 'Knacken' 'knifflige(r) Kodes' [Rorty
1966, S.99,]verstehen. - Doch Kafka ist nichts für die
Dechiffiermaschine, und seine Türhüterlegende bleibt von diesen
detektivischen Methoden unberührt. Sie fährt fort zu beunruhigen und
läßt das hermeneutische Aufgebot um sie, sofern es nur auf die
Enthülling einer verborgenen und singulären Bedeutung aus
ist, zum vergeblichen, zum 'stehenden Sturmlauf' erstarren... Die
Bedeutung dieses Textes ist nicht einfach dadurch zu ermitteln, dass man
versuchte, so wie man Spielkarten aufdeckt, den 'Hintersinn seiner
zentralen Begriffe (des 'Gesetzes', des 'Mannes vom Lande" usw.) zu
entdecken und die so so 'gefundenen' semantischen Terme zu einer
kohärenten Theorie zusammenzufügen, die sich in einem der
humanwissenschaftlichen Diskurse darstellen ließe. Jede
Interpretation, die nach dieser Methode vorginge, müßte sich an an der
'notwendig totlaufen' (wie es Jürgen Born [1986, S.180] (unfreiwillig)
ausgedrückt hat). Denn diese Erzählung läßt sich nur so lange 'als ein
stimmiges Ganzes' mit einem einheitlichen Sinngehalt interpretieren, so
lange 'sich die Interpretationen auf einen einzigen Kontext als
Bezugsrahmen' [Witte
1993, S.110] beschränken, nur dann, wenn sie sich 'jeweils auf nur
einen Aspekt des in sich widersprüchlichen Textes beziehen' [Lubkoll
1990, S.292], alle anderen aber ignorieren. Doch niemand zwingt uns
zu einer solchen Beschränkung, und der Text selbst widersetzt sich ihr,
indem er durch den Facettenreichtum seiner semantischen Verweisungen die
'Zerstreuung' (Derrida) jedes festen und endgültigen Sinngefüges
betreibt. Dies ist sein eigentümlicher Charakter, den er durch die ihm
eingeschriebene semantische Inkonsistenz bewahrt."