Friedrich
Beißner (1983) kommt das Verdienst zu, in seinem 1952 gehaltenen Vortrag
"Der Erzähler Franz Kafka“ die Analyse der Erzählstrukturen des "Prozess“
einen entscheidenden Schritt vorangebracht zu haben. In einer Zeit, in der
die Bedeutung der Erzählperspektive zwar schon bekannt, aber noch nicht so
in eine systematisierende Begrifflichkeit gebracht war (vgl.
Keller 1983, S.12), betrat Beißner mit seinen Ausführungen über das so
genannte "einsinnige Erzählen“ Franz Kafkas ein
noch wenig bekanntes Neuland. Wenn
Beißner (1983, S.37) betont, dass Kafka "stets einsinnig, nicht nur in
der Ich-Form, sondern auch in der dritten Person (erzählt)“, dann stellt er
die "Monoperspektive“ (Keller
1983, S.12) als wesentlichen Grundzug der kafkaschen Erzählweise heraus.
In seinen vielzitierten Bemerkungen darüber, fasst
Beißner (1983, S.42) diese wie folgt zusammen: "Kafka lässt dem Erzähler
keinen Raum neben oder über den Gestalten, keinen Abstand von dem Vorgang.
Es gibt darum bei ihm keine Reflexion über Gestalten und über deren
Handlungen und Gedanken. Es gibt nur den sich selbst (paradox praeterital)
erzählenden Vorgang: daher beim Leser das Gefühl der Unausweichlichkeit, der
magischen Fesselung an das alles ausfüllende, scheinbar absurde Geschehen,
daher die oft bezeugte Wirkung des Beklemmenden. Kafka verwandelt, wenn wir
es recht auffassen, nicht nur sich, sondern auch den Leser in die
Hauptgestalt. Er tritt keinen Augenblick aus dem auf das Innerseelische der
Hauptgestalt gerichteten und um dieses Innerseelische erweiterten
Zusammenhang heraus und entlässt auch den Leser nicht daraus, lässt ihn
nicht los.“
Wenn
Beißner (1983, S.39) an anderer Stelle davon spricht, dass man das Wesen
von Kafkas Kunst "auf eine einfache Formel“ bringen könne, nämlich
"Darstellung eines traumhaften inneren Lebens“, dann meint er damit, die vom
Erzähler und Leser gleichermaßen eingenommene Blickrichtung aus "dem
Innenraum seiner Hauptperson […], eines geschundenen Menschen, dessen
Vorstellungen die verlässliche Orientierung in Raum und Zeit abhanden kam,
da seine Wahrnehmungen mit den Koordinaten der messbaren Außenwirklichkeit
nicht oder nur punktuell übereinstimmen. Der Erzähler stellt also, und darin
dokumentiert sich Kafkas unverwechselbare Erzählhaltung, eine völlig
subjektive Bewusstseinssituation einer Person ohne jede objektive Korrektur
dar, so dass die kategoriale Korrelation von Innen- und Außenwelt zerfällt.“
(Keller
1983, S12f.)
Wenn im Zusammenhang mit Kafkas Erzählungen, immer wieder ähnlich, von "erzählerischem
Magnetismus"
(Sokel (2006, S.14, Hervorh. d. Verf.) gesprochen wird, dann ist dies
auch auf die Wirkung der darin verwendeten Erzählperspektive zurückzuführen.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen
auktoriales Erzählen nachgewiesen werden kann, ist der "Prozess“
durchgehend in der von Franz K. Stanzel als
personal bezeichneten
Erzählperspektive verfasst, der "point
of view“, von dem aus erzählt wird, liegt im Inneren, im Bewussten und
Unbewussten von Josef K. (vgl.
Stanzel
91979.,
S. 43) Das Geschehen wird aus der
Innenperspektive dargeboten, nahezu reines "Showing"
in anderer Terminologie. So betrachtet, wird im "Prozess" wie auch im personalen Roman
schlechthin, "nicht eine Geschichte erzählt, so
wie sie sich in der Phantasie oder der Einbildung eines persönlichen, d. h.
von subjektiven Momenten bestimmten Erzählers einstellt, sondern
Wirklichkeit dargestellt. d. h. szenisch vorgeführt oder im
Bewusstsein einer Romangestalt gespiegelt." (Stanzel
91979, S. 50) Durch diese Monoperspektivierung entsteht "eine
Sogwirkung, ähnlich einem Kriminalroman: Auch der Leser des Process
fiebert einer Erklärung, einer Auflösung entgegen." (Stach
2005)
Kafka verzichtet bewusst auf einen auktorialen Erzähler (→Merkmale), der sich, mit Allwissenheit ausgestattet, sozusagen "über K.s
Kopf hinweg mit den LeserInnen verständigt“ (Beicken
1999, S.103). Wäre dies der Fall, dann könnte der auktoriale Erzähler ihnen z. B. erklären, warum dieses oder jenes so
von der Hauptfigur getan oder erlebt wird oder er könnte sie mit einer wechselnden
Innensicht an den Gedanken und Gefühlen anderer Figuren teilhaben lassen. Doch
nichts davon, stattdessen die manchmal doch recht unbequem wirkende "Entpersönlichung des Erzählens“
(ebd.), auch im "Prozess". Ob es sich bei
den auktorial erscheinenden Textstellen um tatsächliche
"Perspektivbrüche“ handelt oder um "Ansichten, die zum Bewusstseinsraum der
Figur gehören, so als ob Josef K. sein eigenes Verhalten einer Kritik
unterziehen wollte“ (Beicken
1999, S.105), lassen wir dahingestellt (→
Baustein 8).
Mit bestimmten Textsignalen markiert Kafka immer wieder die vom Erzähler
eingenommene Sichtweise von Josef K. Neben der
erlebten Rede,
die die personale Sicht der Figur über den ganzen Text hinweg als
Leitperspektive etablieren soll
(vgl.
Vogt
1990, S.169-173), und dem hin und
wieder verwendeten
inneren Monolog als
Darbietungsformen sind es vor allem
Verben der Wahrnehmung im (personalen) Erzählerbericht, die Josef K. als
Perspektivfigur ausweisen. (HL S. "K. achtete auf diese Reden kaum“,
"achtete nicht mehr soviel auf seine Worte", "ein leises Klopfen beachtete
er nicht mehr", "beobachtete er sorgfältig alle Passanten" u. ä. m.).
Außerdem hinterlassen etliche Aussagen auch den Eindruck, dass sie einem,
allerdings eingegrenzten Bewusstseinsbereich entstammen, in dem bestimmte,
allerdings immer noch streng subjektive Bewertungsmaßstäbe für das eigene
Denken und Handeln repräsentiert sind. Diese stehen Josef K. dann zur
Verfügung, wenn er sich selbst beobachtet oder genauer nachdenkt und eben
nicht von Triebimpulsen gesteuert, spontan und damit unüberlegt handelt.
(vgl. Beicken
1999, S.106) Signalisiert wird diese zweite Ebene mit ihrem kognitiven
und emotionalen Abstand zu der unmittelbar zugänglichen Lebens- und
Handlungswelt K.s mit Formulierungen wie "ohne es zu wollen“
(HL
8), "er
wusste selbst nicht“ (HL
11), "ohne zu bemerken“ (HL
17), "unwillkürlich“ (HL S.16,
35,
45,
91,
96,
135,
165), "unbewusst“ (HL S.
51 ) oder "ohne zu wissen“ (HL S.94,
161, ) (vgl. Beicken
1999, S.106)
Die personale Erzählperspektive des Romans dient zur Lenkung der Rezeption
des Lesers. Und Josef K. ist in diesem Zusammenhang "nicht mehr als eine
Hohlform, vielleicht buchstäblich ein Perspektiv, durch das hindurch der
Leser immer nur sehr eng begrenzte, fast stur auf das gerade Vorliegende
konzentrierte Blicke werden darf." (Allemann
1963/1998, S.42) Mit dem "eigentümliche(n)
Scheuklappenblick des Josef K."
(ebd.,
Hervorh. d. Verf.) als Leitperspektive sorgt die personale Monoperspektive
auch dafür, dass der Leser an die "Leidensperspektive" (Vogt
1990, S.171) des Hauptprotagonisten gebunden bleibt, "die Passivität,
Angst und Bedrohtheit widerspiegelt." (ebd.)
Dennoch bewirkt diese strukturell-suggestive "Aufdringlichkeit“ nicht, dass sich der Leser
mit der Hauptfigur Josef K. identifiziert. Selbst wenn die Elemente der dargestellten Welt
stets erscheinen, "als wären
sie ganz planlos und zufällig der Wirklichkeit entnommen, als hätte eine
unsichtbare und unbestechliche Kamera diese Aufnahmen dem Leben, so wie es
ist, abgelistet." (Stanzel
91979, S. 50), verfängt dies beim Leser nicht. All das kann
nämlich deshalb keine Identifikation befördern, weil sich die Hauptfigur und
ebenso der Leser "in den völlig widersprüchlichen Mutmaßungen über Fakten
und ihre Interpretation" verstricken: "Die Bezüge zu Menschen und Dingen
zerbrechen darüber, die Desorientierung wächst mit dem Versuch, sie zu
überwinden. Unterwegs zur vermeintlichen Gewissheit wird gewiss, dass jede
Ankunft misslingt und jedes Ziel entschwindet.“ (Keller
1983, S.13)
Einen Anteil daran hat u. U. auch die Tatsache, dass Kafka hin und wieder
zwischen der Erlebnisperspektive Josef K.s (Perspektivfigur) und einer
distanzierenden Beobachtungsperspektive (erzählender Autor) wechselt, wie
dies bei verschiedenen Kapiteleingängen beobachtet werden kann.
Textstellen, die, wie
Beicken (1999, S.105) betont, "das Moment der momentanen Distanzierung
in der Erzählerstimme“ ausdrücken, finden sich vor allem in Situationen, "in
denen K. nicht von einem unaufhaltsamen Geschehen überfallen wird, sondern
bestrebt ist, […] Klarheit über seine Lage zu bekommen“. So gesehen, muss
gewiss Beißners These des durchgängig "einsinnigen Erzählens“ dahingehend
relativiert werden, "dass der Erzähler zwar oft mit dem Helden kongruiert,
aber sich doch an den Romananfängen und häufig im weiteren Verlauf deutlich
distanziert, mehrfach an Stellen allererster Wichtigkeit.“ (Kudszus
1964/1973,
h:
1973,S.336)
In Kafkas "Prozess“ wird die personale Erzählperspektive immer wieder mit
einem als "hypothetischen Erzählstil“
(Allemann 1963,
S.39, Hervorh. d. Verf.) bezeichneten Sprachgestus kombiniert, der
in seiner Wirkung das Vertrauen des Lesers in die Wahrnehmungen und
Wirklichkeitsdeutungen von Josef K. immer wieder unterläuft. Mit bestimmten
Formulierungen und Worten wird nämlich die Wirklichkeit, wie sie Josef K.
wahrzunehmen wähnt, zu einen von prinzipieller Ungewissheit und bedrohlicher
Fremdheit bestimmten Erfahrungs- und Handlungsraum, der einem unablässigen
Deutungsprozess, ohne verlässliche Wahrnehmungs- und Handlungsschemata,
unterworfen ist. Die sprachlichen Spuren dieser permanenten Suche nach
Deutungs- und damit auch Orientierungssicherheit findet sich in Wendungen
und Vokabeln, die vom Gegenteil, einer Welt ohne verlässliche Fakten und
Erkenntnis- sowie Selbstgewissheit zeugen. In Formulierungen wie "glaubte“
zu bemerken, zu hören o. ä. (z. B.
HL S.11,
14,
14,
26,
31,
36,
57,
57,
63,
71,
72,
75,
92,
117,
127,
137,
144,
161,
171,
172,
180,
180,
184), mit der
häufigen Verwendung des Verbs "scheinen“ (z.B.
HL
S.5,
7,
8,
14...14,
16,
17,
20,
25,
30,
34,
37,
37, etc.), aber
auch durch die dauernde Verwendung von Adverbien wie "scheinbar“ (HL S.30,
39,
88,
111..., etc.), "angeblich“ (z. B.
HL S.
13,
32,
35,
37, etc. ), "wohl“ (z. B.
HL S.9,
28,
52,
62, etc. ), "möglicherweise“ (z.B.
HL S.14,
16,
124,
180,
186, etc.),
"wahrscheinlich“ (HL S. 8,
23,
31,
32 etc.), "offensichtlich“ (z. B.
HL S.16,
79)
oder "offenbar“ (z.B.
HL S.5,
8,
28,
34,
44,
50, etc.) zeigt sich Josef K. als im Inneren
gänzlich unsicherer Interpret von Welt draußen und in ihm selbst. (vgl. Beicken
1999, S.108)
Allerdings ist, was schon Beißner (1952/1983) betont hat, die von ihm
festgestellte, strukturbildende "Einsinnigkeit“ kein Selbstzweck. Sie führt
dem Leser mit ihrer extremen Subjektivierung des Erzählens die ausweglose
Situation Josef K.s vor Augen und macht ästhetisch erfahrbar, "wie sehr
Josef K. auf verlorenem Posten steht.“ (Beicken
1999, S.106) Dass die "Einsinnigkeit des Erzählens“ über den Text und
seine Wirkung hinausgehend auch eine historische Dimension besitzt, hat
schon Friedrich Beißner gesehen. Ihm war klar, dass man sie, besonders in
ihrer Entwicklung, in einem bestimmten historisch-sozialen und
gesellschaftlichen Kontext zu betrachten hat, dessen "Krisensymptome“ Kafka
durch die Monoperspektivierung und damit extreme Subjektivierung des
Erzählens als "Verstörungen“ zur Anschauung bringt: "zum einen die radikale
Subjektivierung des Bewusstseins, die im 18. Jahrhundert beginnt, und […]
zum anderen das Krankheitsstadium eines gesamteuropäischen Prozesses, in
dem, wie in einem gesprungenen Hohlspiegel, das verirrte Bewusstsein die
durch Säkularisierung, Vermassung und Technisierung hervorgebrachten
Verzerrungen aufnimmt.“ (Keller
1983, S.15) Indem die personale Erzählperspektive so "eine
Wirklichkeitserfahrung der Vereinzelung (präsentiert)“ (Beicken
1999, S.103) zeigt sie ihren Helden auch als einen Menschen, der "in
gesteigertem Maße der Entfremdung und Verdinglichung ausgesetzt“ ist und
dabei "einen zunehmenden Verlust an Selbstgefühl und Identität (erleidet)“
(ebd.).
Aus dieser "bezwingende(n) Verschmelzung von Form und Inhalt"
resultiert wohl die immer noch und unvermindert anhaltende Wirkung des
Romans auf seine Leserinnen und Leser. (vgl.
Stach
2005)