Die "bürgerliche" Rezeption des "Nathan"
Die wissenschaftliche Rezeption des "Nathan" stand in den ersten beiden
Dritteln des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck des aufstrebenden
Bürgertums.
Daraus ergab sich, dass die gelehrte Rezeption des
"Nathan", die sich wie mit kaum einem anderen Werk so sehr beschäftigte, in der
Figur des philosophierenden jüdischen Kaufmanns immer wieder jene Werte und
Vorstellungen verkörpert sah, die dem Bürgertum selbst erstrebenswert
schienen. (vgl.
Demetz
1966/1984, S.168)
Nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und
der Reichsgründung 1871 änderten sich die Prioritäten für das deutsche
Bürgertum.
-
Es entschied sich für ein Bündnis mit den alten Eliten und rückte
"nach dem Kompromiss mit der autoritativen Staatsmacht und den brutalen
Wundern der Gründerjahre" (ebd.)
den "Nathan" zur Seite.
-
An seiner Stelle beschäftigte die
Interpreten und Kritiker fortan Goethes "Faust".
Das "bescheiden Bürgerliche und denkend Humane"
des "Nathan" passte da nicht recht beim Aufstieg zu nationaler Größe, wie es das Deutsche
Kaiserreich anstrebte, um sich einen "Platz an der Sonne" als
imperialistische Macht zu erstreiten: So trat an die
Stelle Nathans Faust, der so viel "Schuld auf sich lädt, aber doch noch
Hoffnung hat, Erlösung zu finden. In ihm war wirksamere
Selbstrechtfertigung." (ebd.)
Der "Nathan" in der Zeit nach dem Nationalsozialismus
Nachdem im Nationalsozialismus
Lessings Drama "Nathan der Weise" wegen
Nathans jüdischem Bekenntnis und wegen seiner pazifistischen
Grundhaltung von den Bühnen verbannt worden war, wollten einige deutsche
Theater nach dem Ende des Krieges offenbar das entgegengesetzte Zeichen
setzen und nahmen ihren Betrieb mit dem Stück Lessings wieder auf. Der
"Nathan" wurde dabei zu einem fast unverzichtbaren Bestandteil der
Bewältigungskultur gegenüber NS-Regime und Holocaust in der
Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Dabei
hat man, wie
Koebner (1987, S.141) bemerkt, "vor allem das Edelmütige und
Jüdische der Hauptfigur hervorgehoben, ihre geistreich-menschenkluge
Weisheit und Herzenswärme", während die andere Seite des Dramas, sein "polemische(r)
Charakter und die Tiefendimension der Konflikte" mehr und mehr aus
dem Blickfeld gerückt seien. (ebd.)
Die "Nathan"-Welle nach dem 11. September 2001
Doch mit einem Schlag standen der Welt diese Tiefendimensionen wieder
vor Augen. Schon bald nach dem »11. September 2001 ("Nine Eleven"), als
die Türme des »World Trade Centers ins Schutt und Asche zerfielen und ca.
6.000 Menschen in »New
York und »Washington dem Terror von
»al-Qaida zum Opfer fielen, war Lessings Drama
en vogue, wenn auch längst nicht bei allen. Selbst in New York wurde
"Nathan the Wise" als Reaktion auf den 11. September aufgeführt und
in Deutschland kam das Stück 2001 in 24 verschiedenen Inszenierungen auf
die Bühne, ohne dass alle diese Aufführungen als unmittelbare Reaktion
auf die Ereignisse in New York und Washington zustande kamen. Immerhin
gewannen alle Aufführungen so eine ungeheure Aktualität, die auch dazu führte, dass das
Stück in einzelnen Fällen spontan auf die Bühne gelangte. (vgl.
Kuschel
2011, S.15) In Berlin wurde das Stück sogar aus dem gegebenen Anlass heraus in zwei
verschiedenen Inszenierungen zur Aufführung gebracht. Im »Deutschen
Theater wurde die Inszenierung von »Friedo
Solter (geb. 1932) aus dem Jahr 1987 - er hatte das Stück schon 1966
einmal inszeniert - auf die Bühne gebracht. »Claus
Peymann (geb. 1937), der 1981 schon einmal am
»Schauspielhaus
Bochum bei diesem Stück Regie führte2, inszenierte auf der Bühne des »Berliner
Ensembles
einen im Vergleich zu Solter gänzlich anderen "Nathan". Seine Aufführung
stellte "bewusst den religiösen Fundamentalismus zur Diskussion" und
bediente "das Klischee vom Mephistophelisch-Bösen in roter Robe und
weißer Gesichtsmaske [...], was einem das kritische Mitdenken von
vornherein abnimmt", wie Ekkehart Krippendorff in seiner Kritik der
Inszenierung am 11.01.20023
bemerkt. Und auch die Kritikerin der Taz (= Die Tagezeitung),
Esther Sievogt, sieht in der Inszenierung Peymanns Elemente, die "zum Ausdruck
bringen, dass Lessings Toleranz-Traum abgewirtschaftet hat." So fielen
sich die Beteiligten in der Schlussszene in die Arme und ließen Nathan
allein auf der Bühne zurück. Dann schließe sich der Vorhang, um kurz
danach noch einmal für eine leere Bühne zu öffnen: "Aus
leuchtenden Schächten steigt Rauch auf und verbreitet einen Hauch
von »Ground-Zero-Atmosphäre."4
Die Inszenierung von »Claus
Peymann (geb. 1937) mit dem »Berliner
Ensemble, stand, wie der Regisseur 2003
im Deutschlandradio5
erklärte, "unter dem Eindruck dieser im September 2001 jählings
ausgebrochenen Finsternis." Und: "Es wird von Kreuzrittern gesprochen,
von Revanche, von Rache, vom Kampf gegen das Böse, und da schien mir
diese bedeutende Stimme der Vernunft aus dem brodelnden Topf der
deutschen Klassik gerade die richtige Antwort." Aber nicht allen
Zuschauern leuchtete offenbar ein, wie Peymann mit dem "Nathan" und den
angeblich aktuellen Bezügen umging. So kann Katharina Finke in ihrer
Kritik unter dem bezeichnenden Titel "Im Nathan nichts Neues"6
ihre Enttäuschung darüber nicht verhehlen, dass ein "Nathan, der eine
Antwort auf ein aktuelles Ereignis sein soll, [...] mit dem Hier und
Jetzt absolut nichts zu tun hat. Aus der Angst heraus 'Stücke nicht
zerstören zu wollen' ist hier eine Nathan-Inszenierung entstanden, auf
die man gut verzichten kann. Von einem Nathan im Jahre 2010 oder auch
2001, erwarte ich eine direkte Auseinandersetzung mit den aktuellen
Ereignissen und eine Reflektion darüber, wie man Nathan in [sic!]
tatsächlich in die Welt des 21. Jahrhunderts übersetzen kann. Das
erledigt der Heiner Müller-Text7,
der als Epilog
eingefügt wird, alleine nicht."
Lessings "Nathan" gehört heute zum Repertoire des seit 1999 von Claus
Peymann geleiteten »Theaters
am Schiffbauerdamm, wo er seinen "Nathan" auch im Jahr 2014
wieder mit dem traditionsreichen »Berliner
Ensemble auf die Bühne gebracht hat.8
Der Spurensuche nach aktuellen Bezügen und der oft etwas
leichtfertigen Indienstnahme des "Nathan" für politische bzw.
ideologische Aussagen zum Trotz ist das "Ideendrama mit unverkennbar lehrhafter Absicht"
allerdings auch
ein poetischer Text. (Nisbet
2008, S.796) Und so "trocken" manchem die Botschaft des "Nathan" auch
erscheinen mag, in diesem Drama wird das Problem der religiösen Wahrheit
mit ästhetischen und nicht nur mit rationalen Mitteln thematisiert.
Und es lohnt sich daher auch, sein Augenmerk auf die besondere
ästhetische Qualität des Textes zu richten. Aber: Das ist ein anderes
Thema.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
zit. n. Homar Attila Mück, Lessings Traum vom Sieg der Vernunft,
Deutschlandradio, 04.01.2003, online verfügbar unter:
http://www.lustaufkultur.de/kulturkalender/veranstaltungen/presse/Nathan-der-Weise-9514.html,
9.8.2014 2 In
der Bochumer Inszenierung musste Nathan um sein Leben reden. Zudem wurde
gezeigt, wie einsam er bleibt, (vgl.
Kröger 1991/1998, S.9); Peymann selbst äußerte sich wie folgt zu der
Inszenierung: "Ich meine das Schreckliche an dieser raffinierten,
glänzenden Konstruktion ist die glatte Lösung. Sie ist langweilig wie im
Kriminalroman, und das ist auch das Problem des Stückes. Also haben wir
einen Schluss gemacht, der nicht aufgeht. Nathan steht am Ufer, die
Eisscholle mit allen anderen treibt aufs Meer hinaus. Saladin und Sittah
haben ihm die Tochter genommen und ihn vergessen. Es hat dann auch
nichts mehr zu sagen." (in:
Dessau (1986), S.131f., zit. n.
Kröger 1991/1998, S.128f.), vgl. dazu u. a. auch:
Urs Jenny, Bescherung in Jerusalem, in: Der Spiegel 12/1981
3 Ekkehart
Krippendorff, Angst vor dem Pathos der Aufklärung: Der aktuelle Griff
zum Klassiker, Freitag, 11.01.2001, online verfügbar unter:
http://www.lustaufkultur.de/kulturkalender/veranstaltungen/presse/Nathan-der-Weise-9514.html,
9.8.2014 4
Esther Sievogt,
Der Traum ist aus, in: Die Tageszeitung, 07.01.2002, online verfügbar
unter: http://www.lustaufkultur.de/kulturkalender/veranstaltungen/presse/Nathan-der-Weise-9514.html,
9.8.2014 5
vgl. Anm. 2
6
Im Nathan nichts Neues. Ein Nutzerbeitrag von Katharina Finke, in: der Freitag.Kultur, v. 8.2.2010, online verfügbar unter:
http://www.freitag.de/autoren/katharinafinke/im-nathan-nichts-neues,
9.8.14 7
Als
Epilog wurde in
Peymanns Inszenierung aus »Heiner
Müllers (1929-1995)
Triptychon
"Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei"
(Uraufführung 1979 in Frankfurt a. M.) "Lessings. Schlaf Traum Schrei"
angefügt. Darin wird von einem Schauspieler u. a. vorgetragen: "Mein
Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe
ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen
Traum vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge
nachgedacht. die mich nicht interessierten. Das ist nun vorbei. Gestern
habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen, ein Stück Wüste: das
Sterben beginnt. Beziehungsweise: es wird schneller- Übrigens bin ich
damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein neues Zeitalter
nach dem anderen heraufkommen sehn, aus allen Poren Blut Kot Schweiß
triefend jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel." In
dieser letzten Szene eines Stückes, das sich "durch eine äußerst
komplexe Struktur und eine enorme Pluralität von Intertexten und
Kodizes, die sich vom Surrealismus, den Traum-Elementen und dem
grotesken Theater herleiten" (Kim
2000, S.205) auszeichnet. Dies zeigt sich u. a. darin, dass Lessing
darin dem letzten amerikanischen Präsidenten auf dem Autofriedhof in
Dakota begegnet und damit auf einen "Repräsentanten der materiellen
Zivilisation der Moderne" trifft. (ebd.,
S.209) 8
Auf der Webseite des Berliner Ensembles findet sich dazu folgende
Äußerung von Claus Peymann, die die Intentionen seiner
2014er-Inszenierung beinhaltet: "Das Stück handelt von einem Juden, der
seinen persönlichen Holocaust erlebt. Seine sieben Söhne sterben,
verbrennen in einem Pogrom. Und dieser Nathan übt keine Vergeltung,
keine Rache, sondern die Vernunft kehrt wieder. Und über die Vernunft
das Vergeben. Und das ist die Botschaft, die dieses helle Stück in
dunkler Zeit vermitteln kann. Ich denke, das muss man heute postulieren,
das muss man heute predigen, damit es alle Ohren hören." Und der
Kritiker der Herner Zeitung schreibt zur Inszenierung: "Peymann
überzeichnet die Figuren ganz bewusst, setzt auf komödiantische Elemente
– und sorgt mit seiner Inszenierung für ein bitteres Lachen der
Erkenntnis, ganz im Sinne des aufklärerischen Theaters."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.11.2020
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