Das Leben, das Lessing während seiner letzten 11 Jahre in
Wolfenbüttel abseits großstädtischer Szenerie führte, war, wenn man so
will, "das sesshafte Dasein eines stillen Gelehrten" (Drews
1962, S.124), der sich mehr und mehr religionskritischen Fragen
zuwandte.
Bis heute scheinen die Motive, "warum Lessing glaubte, sich
gerade in seinen letzten Jahren unablässig mit Theologen herumschlagen
zu müssen" (Daunicht
1977, S. 707) nicht vollends geklärt zu sein:
"Mag sein, dass ihn
persönliche Erlebnisse und Erfahrungen dazu trieben.Vielleicht wollte
er vor allem ein Vermächtnis erfüllen, wenn er das rationalistische Opus
eines radikalen Deisten öffentlich zur Diskussion stellte. Vielleicht
traute er sich zu, in einem solchen Fall mit seiner perfektionierten
Dialektik besonders zu brillieren. Sicher ist, dass ihn das Spiel mit
den Gedanken lockte, denn immer wieder ließ er durchblicken, dass er das
Ganze als eine großartige Komödie betrachtete." (ebd.)
Und dieses Ganze, so wird weiter vermutet, war für Lessing wohl der
"gesamte politische und moralische Horizont" (ebd.)
eines Systems, das die orthodoxe, dogmatisch argumentierende Theologie
legitimierte.
Der für Lessing neue Lebensstil eines verbeamteten Gelehrten im
Hofdienst bedeutet also keineswegs, dass Lessing sich zu einem
Fürstendiener entwickelte. Das hätte im Übrigen auch wohl kaum zu einem
Mann gepasst, dessen "beharrlicher Nonkonformismus" (Gombrich
1957, S.134) sich in seinem Denken wie auch im Verhalten zeigte,
wenn er z. B. "Außenseitern und Benachteiligten zu Hilfe kam", darunter
oft "Existenzen an Ran der wohlanständigen Gesellschaft" (Nisbet
2008, S.807f.) So verkroch sich Lessing auch in Wolfenbüttel vnicht hinter seine Bibliothekarstätigkeit, die ihm einen bescheidenen
Lebensunterhalt bescherte, sondern verstand sein Amt als Aufgabe und
Möglichkeit, "die angehäuften Bücherschätze wenigstens teilweise der
Öffentlichkeit zugänglich" zu machen. (Barner
u .a. 5. Aufl. 1987,
S.289)

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Dazu muss man im Vergleich mit unseren heutigen Verhältnissen
natürlich auch wissen, dass Öffentlichkeit zur Zeit Lessings etwas
vollkommen anderes war als heute im Informationszeitalter. Es war
zunächst einmal eine bürgerliche Öffentlichkeit, an der nur teilhaben konnten, wer
überhaupt lesen und schreiben konnte und auch ansonsten
über eine gerüttelt Maß an Bildung verfügte. Öffentlichkeit war so vor
der Französischen Revolution, die zumindest in Frankreich andere Akzente
setzte, die begrenzte Öffentlichkeit des gehobenen Bürgertums und zum
Teil auch die gegenüber den Ungebildeten streng abgegrenzte
Gelehrtenöffentlichkeit, die zudem von ihren adeligen Landesherrn meist
finanziell extrem abhängig war. Und dieser Öffentlichkeit waren unter
den Bedingungen des kontinentalen Absolutismus auch
Grenzen gesetzt: Wer im weitesten Sinne über Gott und die Welt
räsonieren bzw. politisieren wollte, konnte das eigentlich nur im Rahmen
bestimmter tolerierter Institutionen wie z. B. »literarischen
Salons, in »Lesegellschaften
oder »Logen
tun, "die der 'öffentlichen' Diskussion der Untertanen und Privatleute
einen 'legalen' Rahmen gaben." (ebd.,
S.65). Für bestimmte Diskussionsgegenstände, insbesondere theologische
Fragen gab es Regeln, wie über sie in gelehrten Kreisen gestritten oder, wie man sagte,
disputiert werden durfte. Wer sich daran hielt, dass, salopp formuliert,
auch gewagte Ansichten in Latein vorzubringen waren, war vielleicht ein
ungeliebter Freigeist, galt aber für politisch wenig gefährlich. Solche
im Gelehrtenlatein vorgetragenen Ansichten konnten schließlich die des
Lateinischen und ihres eigenen Verstandes vermeintlich nicht mächtigen,
jedenfalls nicht mündigen, Untertanen, nicht verstören. Wer indessen
religionskritische Ansichten in Deutsch unter die Leute bringen wollte,
riss die sozialen Mauern des Wissens ein und konnte damit die unmündigen
Untertanen gar auf die Idee bringen, dass die Welt, so wie sie angeblich
von Gott so vortrefflich eingerichtet war, auch hinterfragt werden
konnte. Wer die Regeln brach, hatte mit massivem Gegenwind und
Repressalien der Herrschenden zu rechnen, die ihre Herrschaft mit der
angeblich gottgewollten Ordnung legitimierten. Und: Unter diesen
politisch-gesellschaftlichen Bedingungen wurden religionskritische
Fragen zwangsläufig zu sehr brisanten politischen Fragen.
Die Fragen, die die Aufklärung in Bezug auf das Christentum aufwarf,
insbesondere aber die Maßstäbe, mit denen Gott und die Welt betrachtet
wurden, nämlich Vernünftigkeit und Natürlichkeit, konnten auf
Dauer zu einer Legitimationskrise des politisch-gesellschaftlichen
Systems führen. Zunächst förderten sie freilich eine Reihe von
christlichen Glaubenssätzen zutage, die diesen Maßstäben eindeutig
widersprachen. Dazu gehörte die Lehre von der Dreieinigkeit, die dem
Gebot der Vernünftigkeit, und die Lehren von der unbefleckten Empfängnis
und von Christi Auferstehung, die den Naturgesetzen widersprachen. Diese
christlichen Dogmen hatten in den Konzepten eines aufgeklärten
Christentums wenig zu suchen, stellten damit aber keineswegs den Glauben
an sich in Frage, dem auch die so genannten Deisten auf ihre Weise die
Treue hielten, wenn sie es als den Naturgesetzen widersprechend
betrachteten, dass Gott in den Lauf der Welt eingriffe.
Als Lessing 1773 erstmals seine Zeitschrift "Beiträge zur Geschichte
und Literatur aus den Schätzen der Herzogischen Bibliothek zu
Wolfenbüttel" herausgab, erregte das, was er darin
veröffentlichte, zunächst noch wenig Aufsehen. Darin erschien 1774 die
erste von
insgesamt 6 Abhandlungen eines "Ungenannten", die Lessing wohl deshalb
Fragmente nannte, weil
er damit auf die Unabgeschlossenheit des gedanklichen Gesamtkonstruktes
verweisen wollte. Das Fragment "Von Duldung der Deisten", in dem
der von Lessing nicht preisgegebene Autor sich dagegen wandte, dass man
die Deisten und andere Gegner der Offenbarungsreligionen mundtot machen
wollte, entfachte eigentlich noch keine größere Debatte und war so
gesehen recht harmlos. So wie es »Immanuel
Kant (1724-1804) ein paar Jahre später in seinem berühmten Aufsatz "Was
ist Aufklärung" formulierte, forderte der "Ungenannte" darin dazu auf, sich
in religiösen und anderen Fragen seines eigenen Verstandes, also der
Vernunft, zu bedienen, statt sich von selbsternannten Vormündern
vorschreiben zu lassen, was man zu glauben hat. (vgl.
Nisbet
2008, S.706) Und dies entsprach den Überzeugungen Lessings, der mit
seinen klar und anschaulich, volkstümlich bis mitunter umgangssprachlich
abgefassten Veröffentlichungen ein möglichst großes Publikum erreichen
wollte. Auch wenn er auf das Denken des Publikums Einfluss nehmen
wollte, "ging es ihm nicht darum, dass es sich seine Gedanken zu eigen
machte, sondern dass es ermutigt wurde, sich seine eigene Meinung zu
bilden." (ebd., S.734)
Nach drei Bänden, die
von Lessings Zeitschrift in den Jahren 1773 und 1774
erschienen, ruhte das Zeitungsprojekt ein paar Jahre, ehe 1777 der vierte Band
bzw. Beitrag erschien. Darin veröffentlichte Lessing fünf weitere
Fragmente
des Ungenannten und dazu seinen eigenen Kommentar, die er als
Gegensätze des
Herausgebers bezeichnete. Die Fragmente, die er, wohl auch um
den Zensor zu umgehen, als
Funde in der Wolfenbüttler Bibliothek ausgab, und deren Verfasser »Hermann
Samuel Reimarus (1694-1768) von
Lessing selbst nicht bekanntgegeben wurde, stießen wegen ihrer
Inhalte, aber wohl auch wegen ihrer Missachtung gängiger
Disputregeln unter den theologischen Gelehrten der Zeit, eine öffentliche Kontroverse
an, die ihresgleichen suchte. Der Fragmentenstreit, wie der mit einer
Reihe von Publikationen von Lessing und seinen Gegnern aus dem Lager des lutheranischen Protestantismus
geführte öffentliche Streit genannt wird, ging dabei um Fragen, die
die Grundlagen der christlichen bzw. protestantischen Glaubenslehre
betrafen. Mit Lessing und dem Hamburger Hauptpastor »Johann
Melchior Goeze (1717-1787) als Hauptwidersacher trafen dabei zwei
Männer unversöhnlich und kompromisslos mit ihren Überzeugungen
aufeinander, die während ihres längere Zeit andauernden "Papierkrieges"
(ebd.,
S. 727) in ihrer immer schärfenden werdenden Polemik wenig Respekt
voreinander zeigten und sich immer wieder zu persönlichen Angriffen auf
ihr jeweiliges Gegenüber hinreißen ließen. Auch Lessing
überschritt dabei nicht selten "die Grenze zwischen sachlicher Debatte
und unverhohlener Satire“ (ebd.,
S.726). So gesehen führt es auch nicht unbedingt weiter, in dem einen
nur einen orthodoxen Fanatiker (Goeze), im anderen nur den modernen
Aufklärer (Lessing) zu sehen. Lessing habe nämlich, wie
Nisbet
(2008, S.741 betont, mit seinen theologischen Gegnern ein falsches
Spiel getrieben, indem er manchmal zu ausweichenden und selbst
doppelspielerischen Taktiken gegriffen habe, oft auch Sophistereien
veranstaltet habe und die Tatsache, dass er "Reimarus' Geheimwerk"
gewählt habe, um gegen Dogmatismus, Vorurteil und Intoleranz anzugehen,
sei von Anfang an eine Entscheidung "für ein nicht eben transparentes
Vorgehen" gewesen.
Ein echter Dialog jedenfalls kam in diesem verwickelten Hin und Her
ständig sich wiederholender gegenseitiger Anschuldigungen nie
zustande. (vgl.
ebd.,
S.727). Dabei besaß die
Auseinandersetzung Lessings mit Goeze vier Dimensionen, die Hugh Barr
Nisbet
(
2008, S.721) wie folgt herausgearbeitet hat: "Zunächst einmal
handelte es sich um einen persönlichen Konflikt: Goezes Angriff richtete
sich nicht so sehr gegen den Fragmentisten als gegen Lessing selbst.
Zweitens stand Lessing jetzt zum ersten Mal ein Gegner gegenüber, der
ebenso unerschütterlich zielbewusst und in der Polemik erfahren war wie
er selbst. Drittens führte die Auseinandersetzung mit Goeze, obwohl es
niemals Lessings Absicht gewesen war, gegen die lutherische Orthodoxie
anzutreten, immerhin dazu, das sich die theologischen Anschauungen
besonders deutlich polarisierten. Und schließlich hat Lessing im Verlauf
dieser theologischen Auseinandersetzungen mehr zu Papier gebracht als in
allen anderen im Anschluss an die Fragmente entstandenen Kontroversen
zusammen."
Die
Fragmente waren Ausführungen
des angesehenen Hamburger Orientalisten und Gymnasiallehrers »Hermann
Samuel Reimarus (1694-1768) (s. Abb. rechts), in denen dieser den englischen »Deisten
(z.B. »John
Locke (1632-1704) und sein Schüler »John
Toland (1670-1722) folgend "die Wunderberichte der Bibel, vor allem
die Auferstehungsgeschichte, angegriffen hatte." (Lichtherz
o. J., S.120) (→Über die
Auferstehungsgeschichte. Fünftes Fragment eines Ungenannten 1777) Reimarus selbst dachte offenbar nie an eine
Veröffentlichung, weil er die Zeit dafür noch nicht für reif genug
gehalten hat. (vgl.
Barner u .a. 5. Aufl. 1987, S.290). Wer heute liest, was Reimarus
damals vertreten hat, kann leicht ermessen, dass ihm die ganze Sache
mehr als "heiß" vorkommen musste, wenn darin davon die Rede ist, dass
die Jünger von Jesus Christus die Auferstehung durch einen Raub des
Leichnams des Gekreuzigten nur vorgespielt und erfunden hätten. Ihr
Motiv, so Reimarus:
Mit der Auferstehungsgeschichte Anhänger werben, um
auf deren Kosten als Apostel ihr angenehmes Leben weiterführen zu
können. (vgl.
Kröger 1991, S.16) Dabei zog er diese Schlüsse keineswegs einfach
aus dem Bauch, sondern versuchte seine Auffassungen mit einer
synoptischen Betrachtung aller Überlieferungen der Ostergeschichte zu
belegen. Dabei stellte er eine Fülle von Widersprüchen fest, was die
überliefernden Evangelisten in seinen Augen schlicht zu Betrügern
machte. Lessing teilte in den dazu verfassten Gegensätzen des
Herausgebers die "These vom Jüngerbetrug" ebenso wenig wie "die
Konsequenz dieser These: Wäre sie unbedingt richtig, so müsste gefolgert
werden, dass
alle Verheißungsaussagen des christlichen Glaubens auf
einer gigantischen Geschichtslüge basierten." (ebd.,
S.17) Lessing ist, was die Betrugstheorie angeht, anderer Meinung, teilt aber den Ansatz einer historisch-kritischen Bibelauslegung, für die
Reimarus ein Bahnbrecher war. Im "Nathan" distanziert er sich eindeutig
von dieser Verschwörungstheorie, "indem er die genaueren
Entstehungsgründe der Religionen als irrelevant abtut", weil das
eigentliche Wertkriterium für eine Religion für ihn das moralische
Verhalten ihrer Anhänger ist. (Nisbet
2008, S.708) Lessing, der das Manuskript des sehr
angesehenen Hamburger Gymnasialprofessors nach dessen Tod von dessen
Kindern ausgehändigt bekommen hatte, hegte wahrscheinlich eine
gewisse Sympathie für Reimarus Außenseiterposition und wahrscheinlich
gefielen ihm auch der Scharfsinn, mit dem Reimarus gläubige
Zirkelschlüsse bloßstellte und unglaubwürdige Erzählungen in der Bibel
wie z. B. den Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer, ironisch
glossierte. Allerdings hatte er wohl wenig übrig für dessen langatmigen
Stil, seine antisemitischen Ausfälle und Verbissenheit bei der
wörtlichen Interpretation von Bibelstellen. (vgl.
Nisbet
2008,S.708
Benedict 2011)
Was Lessing aber an Reimarus wohl am meisten reizte, war die Möglichkeit,
damit "die verborgenen Spannungen und ungelösten Fragen der
zeitgenössischen Theologie ans Licht zu bringen" (Nisbet
2008,S.709).
Was Reimarus in seiner 1736 bis 1768 verfassten Schrift "Apologie
oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ vertrat,
leugnete den Charakter des Christentums als Offenbarungsreligion und war
"ein systematischer Angriff auf die Bibel, der sie als ein Gespinst
aus Täuschung und Betrug hinstellt, mit dem die Priesterschaft über die
Jahrhunderte hinweg die Gläubigen ausgebeutet und in Schach gehalten
habe." (ebd.)
Reimarus ging nämlich davon aus, "dass der christliche Glauben auf
»natürlichen« Moralprinzipien beruhe und das Christentum insofern eine
vernünftige Lehre darstellt, die jeder Mensch - aufgrund der in der
Aufklärungszeit angenommenen Universalität der Vernunft - intuitiv
erfassen und praktisch anwenden könne." (Lessing
als Theologe 2008, S.3) Unschwer zu erkennen, dass solche
ketzerischen Thesen Vertretern der orthodoxen christlichen Lehre als
reinste Gotteslästerung erscheinen mussten. Folgte aus einer solchen
Vernunftreligion doch auch, dass das Christentum und seine
geschichtlichen Überlieferungen nicht zwangsläufig zusammengedacht, ja
letzten Endes in keiner Weise über Kirche und Theologie aneinander
gekoppelt waren. Wenn ein Kranker, wie Lessing in den "Axiomata“, seiner
wichtigsten Schrift im Streit mit Goeze, bildhaft sagt, mit der Medizin
ja nicht zugleich ihre Verpackung schlucken müsse (vgl.
Nisbet
2008, S.726), können in einer Vernunftreligion weder die Bibel noch
die neutestamentlichen Evangelien einen exklusiven Anspruch auf Wahrheit
erheben. Durch die von ihm vorgenommene
Entkoppelung von Religion und
ihrer Überlieferung richtet sich Lessing aber auch gegen die Einwände,
die von Reimarus gegen ihre geschichtliche Überlieferung überhaupt
vorgebracht werden. (vgl.
ebd.)
Stattdessen hebt er die Bedeutung der mündlichen Überlieferung hervor,
der regula fidei, wie sie die frühen Kirchenväter nannten, "die
weder auf der Bibel beruhte noch von der Bibel übermittelt wurde." (ebd,
S.728)
Für Reimarus erklären sich die Unterschiede der Religionen durch
Tradition und die religiöse Sozialisation. Dazu schreibt er: "Einem
jeden ist seine Religion und Sekte, in der Kindheit, bloß als ein
Vorurteil, durch unverstandene Gedächtnis-Formeln und eingejagte Furcht
für Verdammnis, eingeprägt worden: und man hat in Glauben gemacht, er
sei durch eine besondere göttliche Gnade durch seine Eltern in einer
seligmachenden Religion geboren und erzogen. Das macht einen jeden
geneigt zu seiner Sekte; und wenn es denn bei reiferen Jahren zur
Untersuchung der Wahrheit kommt, so wird die Gelehrsamkeit und Vernunft
selbst zu Werkzeugen gebraucht, dasjenige zu erweisen und zu
rechtfertigen, was sie schon im voraus wünschten wahr zu finden."
(Lessing, Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung
betreffend, in: Lessing, Werke. Siebenter Band. Theologiekritische
Schriften I und II, hrsgg. von H. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl
Eibl u. a. 1976, S.332)
Den historisch-kritischen Ansatz von Reimarus teilt Lessing, über
dessen eigene Religiosität sich offenbar wenig Konkretes sagen lässt (Lessing
als Theologe 2008,
S.1). Für ihn steht jedenfalls fest, dass es "keine universelle,
für alle verbindliche Wahrheit (gibt.)"(ebd.,
S.7) Was in Lessings theologischen Schriften und auch im "Nathan"
durchscheint, ist kein Bekenntnis zu einer der drei
Offenbarungsreligionen, aber "sein religiöses Bewusstsein", das "dem
Glauben wie auch der Vernunft Spielraum bot und dass er den religiösen
Glauben anderer achtete". (Nisbet 2008,
S.799)
Wahrheit jedenfalls, das ist für Lessing unverzichtbar, ist kein Dogma,
sondern ein Anspruch auf Wahrheit entsteht für ihn erst in der
Selbstreflexion. (vgl. (Lessing
als Theologe 2008, S.7) Lessing selbst hat dazu eine vielzitierte Überlegung angestellt, in
der er die "enge Verbindung zwischen dem Glauben an das unablässige
Streben nach Wahrheit und dem Optimismus der Aufklärung" (Nisbet 2008,
S.721) nach einer weiteren sittlichen Vervollkommnung des Menschen in
der Zukunft betont.
"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder
zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt
hat, hinter die Wahrheit zu kommen macht den Werth des Menschen.
Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der
Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer
wieder wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig,
träge, stolz -
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den
einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze,
mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu
mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte:
Vater gieb! Die reine Wahrheit ist doch nur für dich allein!" (LM
XIII, 23-24, zit. n.
Nisbet 2008, S.720)
Und auf diese Weise wird eben auch "die Suche nach Wahrheit
wertvoller, als ihr Besitz, denn die absolute Wahrheit hat [für Lessing,
d. Verf.] immer nur Gott allein." Solche Auffassungen, die
folgerichtig auch "den 'Geist' der Religion vom 'Buchstaben' der
heiligen Schrift" unterschieden, zielten auf das zentrale Konzept der
lutherischen Theologie, wonach nur die heilige Schrift gilt und als
Ganzes unfehlbar ist (=Sola scriptura), "um eine sichere Grundlage für
den wahren christlichen Glauben zu bieten." (Lessing
als Theologe 2008,,
S.6) Die Bedeutung der Bibel als einzig verlässliches Fundament
christlichen Glaubens hatte schon »Martin
Luther (1483-1546) in seiner Auseinandersetzung mit der
römisch-katholischen Kirche zur Speerspitze seiner Argumentation
gemacht. Dabei setzte diese Absolutsetzung der Heiligen Schrift
natürlich auch voraus, dass ihr Inhalt im Verlauf ihrer
Überlieferungsgeschichte weder von den Aposteln noch von späteren
Interpreten der Evangelien verändert worden war. Die Inhalte der Bibel
musste demnach denen, die sie niederschrieben, von Gott direkt eingegeben
worden sein. Diese Auffassung von der so genannten Verbalinspiration war
zugleich das unverrückbare Grunddogma, an dem die Vertreter der
lutherischen Orthodoxie festhielten. Was sie fürchteten, war eine
fortschreitende Erosion des christlichen Glaubens, wenn ein dogmatischer
Dominostein nach dem anderen der Vernunft zum Opfer fallen würde, selbst
wenn von den unterschiedlichen Vertretern der Aufklärungstheologie der
Glaube an Gott an nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden ist.
Auch Lessing bestreitet keineswegs die Bedeutung der Religion
schlechthin und ist auch nie Atheist gewesen, wozu ihn einige abstempeln
wollten (vgl.
Daunicht
1977, S. 709). Stattdessen betont er sogar, "dass das Christentum da war, bevor
Evangelisten und Apostel es aufzuschreiben begannen." (Benedict 2011)
Indem Lessings
Begriff von Wahrheit der Bibel damit vorgeordnet ist,
steht er auch im Gegensatz zum Wahrheitsbegriff, den die Lutheraner
damals vertraten. Für diese sind die Aussagen der Bibel und insbesondere
die des Neuen Testaments als Lehren von Jesus Christus wahr. Daneben
gibt es aber auch "Wahrheitskriterien, die unabhängig von einzelnen
Inhalten sind. Für die lutherischen Christen gilt, dass die Wahrheit der
Religion sich erst im subjektiven Vollzug, d. h. im Glauben, realisiert.
[...] Die Lektüre der Bibel löst kraft übernatürlichen Beistands im
Menschen eine seelische Bewegtheit aus, die als »Seligkeit« umschrieben
wird. In ihr wird die Religion als >wahr< erfahren." (Fick
2010, S.415)
Dementsprechend kann sich die Wahrheit einer Religion auch nicht dadurch
beweisen lassen, dass man die Art und Weise ihrer Überlieferung für wahr
und damit unhinterfragbar erklärt. So steht denn auch für Lessing fest: "Die Religion ist nicht wahr, weil
die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil
sie wahr ist. Aus ihrer inneren Wahrheit müssen die schriftlichen
Überlieferungen erklärt werden, und alle schriftlichen Überlieferungen
können ihr keine Wahrheit geben, wenn sie keine hat." (Lessing, Werke in
drei Bänden, München 2003, Bd. III, S.328, zit. n.
Benedict 2011.) Was Lessing damit formuliert, ist seine Vorstellung von der,
wie er es nennt, inneren Wahrheit der Religion, die "nach Lessing in
allen positiven Religionen vorhanden und zugleich in der
gesellschaftlich notwendigen natürlichen Religion (ist), ohne die kein
Gemeinwesen bestehen kann." (Benedict 2011)
Auch wenn Lessing diese innere Wahrheit nicht genauer bestimmt (vgl.
Fick 2010,
S.420), ergänzt
er das Konstrukt doch durch das Konzept der praktischen Liebe, das
religiöse Menschen, insbesondere Christen, auszeichnen sollte. Ohne
praktische Humanität, so seine Botschaft, kann Religion ihre ethische
Kraft nicht beweisen. Eine apokryphe, also äußerst kurz gehaltene
Anekdote "Das Testament Johannis", in der erzählt wird, "dass die
Predigten des Evangelisten Johannes im Alter immer kürzer geworden
seien" (Nisbet
2008, S.717), bringt für Lessing wohl am deutlichsten zum Ausdruck, was der
christliche Glaube als gefühlte "innere Wahrheit" jenseits aller
dogmatischen Argumentationen der Theologen bedeutet: "Kinderchen, liebt
euch" ("Filioli, diligite alterutrum"), soll nämlich Johannes am Ende nur
noch gepredigt haben. Auf die Frage seiner darüber wohl verblüfften
Zuhörergemeinde, warum er das andauernd wiederhole, habe er der
Überlieferung nach geantwortet: "Darum, weil der Herr es befohlen. Weil
das allein, das allein, wenn es geschieht, hinlänglich genug ist." (zit.
n. Nisbet 2008, S.717) Dieser geradezu "ideologiefreie, dafür praktisch moralische
Kernsatz im Testament Johannis" (Lessing
als Theologe 2008, S.7) dürfte auch den Kern von Lessings eigener
Religionsauffassung darstellen, die den tieferen Grund des Glaubens im
Inneren des Einzelnen sucht und damit von einer "Korrespondenz von
Christentum und innerer Glaubensgewissheit" (Jung
2010, S.93) ausgeht, die sich auf die Formel bringen lässt: "Der
Christ glaubt, weil er glauben muss. weil er innerlich - als fühlender
Mensch - von der Wahrheit des Christentums überzeugt ist." (ebd.) Und nirgendwo hat er dann besser
dargestellt, was Glaube als innere Wahrheit und praktische Liebe
bedeutet, als an der Figur des Juden Nathan in seinem Drama "Nathan der
Weise": an dessen Verarbeitung der in der Vorgeschichte des Dramas
liegenden Ereignisse während des Judenpogroms in Gath, von denen er in
seinem Gespräch mit dem Klosterbruder
(IV,7) berichtet. (vgl.
Benedict 2011)
Die Veröffentlichung der Fragmente durch Lessing ab 1777 war eine
gezielte Provokation. Dabei wollte er mit dieser "Brandschrift" (Jung
2010, S.91) wohl weniger die lutherische Orthodoxie
als die "Kompromisstheologie der Neologen" (Nisbet
2008, S.732), jener Verteidiger des Christentums, die im Geiste der
Aufklärung die christliche Lehre mit rationalen Argumenten beweisen
wollten, herausfordern, hinsichtlich der Offenbarung klar Farbe
zu bekennen. (vgl.
Nisbet
2008, S.714, vgl.
Fick 2010,
S.420) Dabei unterschied sich der Religionsbegriff der Neologen
inhaltlich von dem der Deisten kaum, mit denen sie gemeinsam das Konzept der
"natürlichen" Religion vertraten. Allerdings hielten sie am
Offenbarungscharakter des Christentums fest, sahen in der Bibel aber ein
historisches Dokument, in dem Vorstellungen und Geschichten enthalten
sind, die für einen aufgeklärten Menschen nicht mehr nachvollziehbar
sind. (vgl. Fick 2010, S.418f.) Ein Beispiel dafür, wie sich deistische von
neologischen Auffassungen unterscheiden, ist von Monika
Fick (2010,
S.418ff.) an »Friedrich
Wilhelm Jerusalems (1709-1789) Schrift "Beginn der Betrachtungen
über die vornehmsten Antworten der Religion" sehr anschaulich
ausgeführt. Jerusalem verlange darin von den Deisten die Anerkennung der
in der Bibel enthaltenen "Offenbarung", weil ohne sie die Vernunft ins
Schwanken geriete und schnell wieder jene Wahrheiten der natürlichen
Religion preisgeben könne, die sie u. U. gerade erkannt habe. So bringt
erst die Offenbarung, bzw. das, was die Vernunft als Offenbarung erkannt
hat, den Menschen glaubensmäßig immer wieder in die Spur. Überlasse man
nämlich die Vernunft sich selbst, würde sie am Ende nur das gelten
lassen, was die Sinnlichkeit befriedige. So führt der Deismus, nach
Ansicht der Neologen, "ohne den Glauben an eine Offenbarung zu
Skeptizismus, Atheismus und Materialismus." (ebd.,
S.420) Was Lessing von den Neologen unterschied, hat
Nisbet
(2008, S.732) wie folgt herausgearbeitet: "Während Lessing glaubt,
dass die Wahrheit - einschließlich der religiösen Wahrheit - immer
unvollständig und ständig im Werden sei", glaubte z. B. »Johann
Salomo Semler (1725-1791), "sie sei in örtlich und geschichtlich
variablen Erscheinungsformen des Christentums unveränderlich."
Die zahlreichen Gegner, die Lessing gegen die Fragmente auf den Plan
rief, kamen indessen nicht aus dem Lager der Neologen, von denen sich
nur »Johann
Salomo Semler (1725-1791) gegen Ende des Streits zu Wort meldete,
sondern mehr und mehr aus dem Lager des orthodoxen Luthertums, hinter
denen sich »Semler
und andere namhafte Aufklärungstheologen aus dem Neologenlager wie z. B.
»Salomo
Michaelis (1769-1844), »August
Friedrich Wilhelm Sack (1703-1786) oder »Friedrich
Wilhelm Jerusalem (1709-1789) verschanzten. Wer sich dabei auf Kanzeln und an den
Universitäten oder mit Gegenschriften hervortat - es sollen etwa 50
gewesen sein (ebd., S.714) - meldete sich oft mit sehr polemischen Gegenargumenten zu Wort.
Die meisten Wortführer der Gegenseite im Fragmentenstreit waren
Geistliche im aktiven Dienst, deren ökonomische Sicherheit durch die
Teilhabe an einer solchen Debatte nicht gefährdet war. (vgl.
ebd.)
Als »Johann
Melchior Goeze (1717-1786) (s. Abb. rechts), der lutherische Hauptpastor an der Katharinenkirche in Hamburg,
in die zunächst vergleichsweise harmlos verlaufende Kontroverse
eingriff, gewann die Kontroverse an Schärfe und zugleich die
Publizität, die letzten Endes dazu führte, dass Lessing von seinem
Landesherrn »Karl
I (1713-1780) die Zensurfreiheit abgesprochen wurde, was einem Schreibverbot in theologischen Fragen
gleichkam. Dass Lessing dies dann doch durch den Druck weiterer
Schriften im deutschen "Ausland" umging und umgehen konnte, lag nicht
zuletzt daran, dass das Schreibverbot offensichtlich gar nicht vom
Herzog selbst, sondern von Mitgliedern des Geheimen Rats betrieben
worden war. Zudem war der Herzog in dieser Zeit schon etwas kränklich
und wohl mehr mit sich beschäftigt. Was aber wahrscheinlich den
Ausschlag dafür gab, dass Lessing sich über das Verbot ohne große
persönliche Risiken hinwegzusetzen wagte, war, dass der Erbprinz »Karl
Wilhelm Ferdinand (1735-1806), der von Lessing einige Auszüge der
Fragmente geliehen bekommen und wohl auch gelesen hatte, dieses
Schreibverbot nicht für gutgeheißen hätte.
Goeze war
ein typischer Vertreter des Konservatismus seiner Zeit, war aber wohl
"weniger fanatisch, als oft behauptet worden ist." (Nisbet
(2008, S.740), auch wenn er als
bekannter Kirchenpublizist "in trockener Buchstabentreue an den
überlieferten Glaubenssätzen festhielt." (Lichtherz
o. J., S.119). Wie andere seiner Art auch agierte er vordergründig auf dem Gebiet
der "Religionssachen", verteidigte aber in Wahrheit die landesherrliche
Bevormundung auf allen Gebieten gegen die in Deutschland allerdings
recht bescheidenen Erfolge der Aufklärung. Goeze, der in Hamburg,
einer der Hochburgen lutherischer Orthodoxie und damit einem der Zentren
der Aufklärungskritiker, ein angesehener, rundum gegen die
Aufklärung eingestellter Kirchenpublizist war, zog in der Hansestadt als einer der Wortführer
der lutherischen Stadtgeistlichkeit gegen alles zu Felde, was
sich der "reinen Lehre" in den Weg zu stellen wagte. Dass Goeze, der in Lessings Infragestellung
religiöser Dogmen mit Recht vermutete, dass die ihr
zugrundeliegende
Forderung nach individueller Autonomie von der Kritik
an religiösen Autoritäten auf die Kritik an den politischen Autoritäten
führen würde (vgl.
Nisbet
2008, S.734), versuchte daher auch im Falle der Auseinandersetzung
mit Lessing die staatlichen Autoritäten gegen die Verbreitung solch
ketzerischer Ansichten in Stellung zu bringen.
Was Goeze, der Lessing als Herausgeber der Fragmente mit einem
politischen Revolutionär verglich (vgl.
ebd.,
S.727) im Streit mit Lessing vertrat - Lessing hat dazu seine elf Erwiderungen
geschrieben (Anti-Goezes) - liest sich wie ein Kurzprogramm des
Konservatismus: "Unermüdlich beklagt er die ständig zunehmende
Publizität; er fürchtet um den Seelenfrieden der gläubigen Christen,
obwohl es ihm in Wirklichkeit nur um das politische Wohlverhalten der
Untertanen zu tun ist". (Barner
u .a. 5. Aufl. 1987, S.287f.) Zudem machte sich Goeze mit seinen
Diffamierungen führender Vertreter der deutschen Aufklärung wie »Johann
Bernhard Basedow (1724-1790), »Karl
Friedrich Abt (1740-1783), »Johann
Salomo Semler (1725-1791) und »Karl
Friedrich Bahrdt (1741-1792) einen Namen, die er öffentlich als
Lügner und Scharlatane bezeichnete, weil sie die christliche Lehre mit
den rationalistischen Prinzipien der Aufklärung verbunden hatten. (vgl.
Barner
u .a. 5. Aufl. 1987, S.287f.) Goezes durch und durch dogmatische Argumentation untermauerte
die eigene Argumentation stets mit dem
Autoritätsbeweis (sola scriptura), sprich autoritativen Zitaten, unterwirft aber alle
anderen Argumentationen einer strengen Logik. Dass Goeze, historisch
betrachtet, mit der Verteidigung des Schriftprinzips ein
"Rückzugsgefecht" für diese zunehmend unhaltbar werdende Lehre führte
(vgl. Nisbet
2008, S.733), sei hier nur am Rande erwähnt. Lessings Begriff von Wahrheit
hat dagegen stets nur hypothetischen und damit
vorläufigen Charakter und sie gilt eben nur so lange bis sie ggf. widerlegt wird. Lessings
am naturwissenschaftlichen Denken orientierte Methode von
Hypothesenbildung und kritischer Überprüfung, die auch bis dahin kaum
hinterfragte Glaubensgrundsätze auf den Prüfstand von Denken und
Vernunft stellte, forderte die Vertreter der orthodoxen Lehre heraus,
die dabei die Mächtigen der Zeit auf ihrer Seite wussten. Wenn es für
Lessing in Religionsfragen auf der Suche nach der Wahrheit nichts, aber
auch gar nichts gab, dem man nicht widersprechen konnte oder durfte
(vgl.
ebd., S.307), dann enthielt dies, das wussten die Herrschenden,
Sprengstoff, der auch die angeblich gottgewollte Ordnung in den
absolutistischen Kleinstaaten in Deutschland über kurz oder lang in
Frage stellen würde. Allerdings waren es weniger die
religionsphilosophischen Positionen Lessings, von denen nach Ansicht der
Herrschenden und der ihnen dienenden Gelehrtenwelt ernsthafte Gefahren
ausgingen. Was Lessing oder auch Reimarus inhaltlich vorbrachten, "war
in der theologischen Fachwelt keineswegs neu." (ebd.,
S.290) Dass er indessen seine Vorstellungen von einem "gelebten
Christentum", "das der einzelne Gläubige unbeschwert von den historisch
gewordenen, starren Normen eines theologischen Systems realisieren
konnte, einem Christentum, das sich ohne gelehrte philosophische und
theologische Konstruktionen auf den Satz »Kinderchen, liebt euch« (Das
Testament Johannis; G VIII, S.17) reduzieren ließ" (ebd.,
S.302), einem vergleichsweise breiten Publikum zugänglich machte, brachte
die orthodoxe Gelehrtenwelt und die Mächtigen gegen ihn auf. Wer wie
Lessing die akademische Spielregel, solche Fragen nicht im
Gelehrtenlatein, sondern in deutscher Sprache aufzuwerfen, missachtete, brüskierte
damit nicht nur die Gelehrten, sondern signalisierte damit seinen Willen,
herrschende Denkschablonen über Bord zu werfen. Und genau das spürte
auch der Hamburger Hauptpastor Goeze, den Stil und äußere Form von
Lessings Pamphleten, die "in schamloser, fast unsittlicher Weise die
Normen des akademischen Disputationswesen (verletzten)", bis ins Mark
erschütterten. Er und andere Kritiker Lessings verstanden es dabei, die
Obrigkeit gegen Lessing zu mobilisieren, weil Lessings Weg zur Schaffung
einer Öffentlichkeit eben auch die Grundfesten des absolutistischen
Staates antastete, "der allenfalls eine beschränkte und kontrollierte
Öffentlichkeit zuzulassen bereit war" (ebd.,
S.307). So stehen sich im sogenannten "Fragmentenstreit" eben
"nicht nur zwei Denkweisen, sondern auch zwei politisch entgegengesetzte
Positionen gegenüber" (ebd.,
S.308). Das alles in einer Zeit, in der der Unabhängigkeitskampf der
amerikanischen Kolonien und die Gründung der amerikanischen Republik vor
aller Augen vorführte, wohin es in Zukunft gehen konnte, wenn die
Legitimität "gottgewollter" absolutistischer Herrschaftsverhältnisse auf
den Prüfstein des Verstandes gestellt wurden. Lessing selbst hat sich zu
diesen grundlegenden Fragen jedoch nicht direkt geäußert, so dass die
Annahme nahe liegt, dass er, "ganz analog zu seiner Erkenntnistheorie,
die die Erkenntnis im infiniten Prozess der Wahrheitssuche der Wahrheit
zwar näher bringt, sie jedoch nicht erreicht" (ebd.,
S.308f.), wohl eher an eine evolutionäre, als eine revolutionäre
Änderung der Verhältnisse geglaubt hat. Dennoch: Lessings Streit mit
Goeze und damit auch mit der geistlichen und weltlichen Obrigkeit endete
mit schon erwähnten Veröffentlichungsverbot weiterer Schriften gegen Goeze, das
der braunschweigische Herzog am 13.7.1778 über Lessing verhängte, an das
er sich allerdings nicht gehalten hat. Trotz Verbots ließ er weitere "Anti-Goeze"
im Hamburgischen "Ausland" drucken. Dabei hatte er schon Pläne, einfach
den Schauplatz zu wechseln: Statt Pamphleten gegen Goeze begann er sich
mit einem Schauspiel zu befassen, dem "Nathan",
von dem er glaubte, dass er »nach einigen kleinen Veränderungen des
Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen
könne« (Brief vom 7.11.1778 an Karl Lessing) (zit. n.
ebd., S.308f.) Auf diese Weise kommt das Nathan-Drama auch in den
Ruf der 12. Anti-Goeze zu sein.
Dabei sind es vor allem drei Analogien, die zu diesem Schluss führen
können. Da ist die erstens die Analogie, die sich aus der konkreten Lage
Lessings und Nathans ergibt: Beide stehen nämlich vor einer bedrohlichen
Macht, die von ihnen Rechenschaft fordert. Zweitens verfolgen Lessing
und Nathan die gleiche Strategie, "eine sprengende Wahrheit zu sagen" (Demetz 1984,
S.195): "Nathan erzählt sein Märchen, Lessing präsentiert sein
dramatisches Gedicht." Drittens schließlich beantworten beide die an sie
gestellte Frage nicht auf die von den jeweiligen Fragestellern erwartete
Art und Weise: "Goeze und Saladin denken an eine der positiven
Religionen, wenn sie die Frage nach der wahren stellen, aber Nathan und
Lessing heben sich über jede Offenbarungsreligion zu einer Religiosität,
die nur ihnen gehört." (ebd.,
S195f.)
Doch statt damit auf die "innere Wahrheit der Religion"
abzuheben, könnte der "Nathan" wie
Mecklenburg (2008, S.233) zeigt, auch
als Antwort auf die Judenfeindschaft von
»Papst Pius VI. (1717-1799, Papst: 1775-1799) gelesen werden, der
sich mit einem antisemitischen Judenedikt für den »Kirchenstaat
(»Editto
sopra gli Ebrei, 1775), einen Namen machte. Lessing, der mit
etlichen Juden seiner Zeit freundschaftlich verbunden war, hatte dessen
Politik während seiner Italienreise 1775 kennen gelernt. Unter diesem
Blickwinkel wird der "Nathan" zu einer "dezidiert
antikatholischen Dichtung" (ebd.,
S.253, zit. n.
Fick 2010,
S.489)
Aber auch wenn Lessing damit einem
gewissen "agitatorischen Impuls" folgend den Schauplatz der
Auseinandersetzung wechselt, ist aus dem Nathan ganz im Gegensatz zu den Anti-Goezes kein satirisches Stück geworden, sondern ein rührendes Drama
(vgl. Daunicht
1977, S. 708) Insofern ist es wichtig, den Nathan auch nicht als
reines "Debattenstück zu lesen, in dem die verschiedenen Positionen beim
Austausch der Argumente abgewogen werden, um auf dem Theater sozusagen
der eigenen Sache einen Sieg zu gewähren, der in der Realität verwehrt
gewesen ist." (Koebner
1987, S.139) Immerhin: Im Typus des dogmatischen Fanatikers hat
Lessing Goeze im "Nathan" in der ins Groteske verzerrten Figur des
christlichen Patriarchen von Jerusalem ein dramatisches Denkmal gesetzt.
(vgl.
ebd.,
S.199) Ihm wie allen anderen Dogmatikern sendet Lessing eine Botschaft,
die Werner Jung (2010, S.95) in pointierter Form wie folgt zusammenfasst:
"Lasst uns die ganze Geschichte des Christentums betrachten und darin
auf die vorwärtsweisenden Elemente schauen, statt dogmatisch bloß
historisch relative Aspekte zu setzen und als ewige Wahrheiten zu
behaupten; dann wird man auch, so Lessings Überzeugung, die zugleich
subjektive wie objektive äußere Wahrheit - also die fortschreitende
Realisation der Vernunft in der Geschichte! - darin erkennen."
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.11.2020