Die nachfolgende Zusammenstellung gibt eine
umfassende
Inhaltsübersicht über den 1. Akt von
Lessings
Drama »Nathan der Weise«.
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I,1
Nathan, ein reicher jüdischer Kaufmann, kommt von einer längeren,
erfolgreichen Geschäftsreise nach Babylon ins Jerusalem des 12. Jahrhunderts zurück.
Zu Hause angelangt, wird er von
Daja, der christlichen Gesellschafterin seiner
Tochter
Recha, begrüßt. Von ihr erfährt er, dass seine Tochter Recha während
seiner Abwesenheit beim Brand seines Hauses beinahe ums Leben gekommen wäre,
wenn sie nicht noch in letzter Minute von einem
Tempelherrn vor den Flammen
gerettet worden wäre. Dieser christliche Tempelherr sei nach seiner vordem
erfolgten Gefangennahme vom moslemischen Sultan
Saladin überraschend begnadigt
worden. Über dessen Beweggründe mutmaße man, Saladin habe im Tempelherrn das
Ebenbild seines verschollenen Bruders Assad gesehen. Allen unternommenen
Versuchen Rechas und Dajas zum Trotz habe der Tempelherr nach seiner Rettungstat
allerdings ziemlich schroff jeden Dank und jede weitere Kontaktaufnahme
abgelehnt und sei seit einiger Zeit nicht mehr zu sehen. Allerdings sei Recha
seitdem in Schwärmerei verfallen und nehme an, dass sie von einem Engel
gerettet worden sei. Nathan ist, wie aus Bemerkungen während des Gesprächs
hervorgeht, nicht Rechas leiblicher Vater. Nach dem Bericht Dajas ist er nun entschlossen, Recha von ihrem naiven Engelsglauben, der von Daja als
Christin durchaus unterstützt wird, durch eine vernunftgemäße, rationale
Herangehensweise an das Geschehen zu befreien.
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I,2
Als
Recha erscheint, um ihren Vater
Nathan zu begrüßen, schildert sie unter
großer emotionaler Erregung ihre Version einer von einem Engel bewirkten Rettung.
Nathan, der um die starken Gefühle weiß, die Rechas Interpretation der
Ereignisse ermöglichen, versucht Recha Schritt um Schritt einer rationalen
Betrachtung der Dinge zugänglich zu machen. Er will ihr verständlich und
emotional nachvollziehbar machen, dass sie von einem Menschen, einem
leibhaftigen
Tempelherrn gerettet worden ist. Aus diesem Grund greift er Rechas
und Dajas Vorstellungen zunächst nicht frontal an, sondern versucht sie für
den rationalen Diskurs über den Begriff des Wunders zu interessieren. So
zeigten sich die "wahren, echten Wunder" ganz anders als der naive und
kindliche Wunderglaube annähme, im alltäglichen Wunder des Lebens und der
Welt. Ein derartiges Wunder, das zur Erklärung keine übersinnlichen,
metaphysischen Begründungen verlange, sei eben die Tatsache gewesen, dass
Saladin den Tempelherrn wegen seiner vermeintlichen Ähnlichkeit mit seinem
Bruder Assad begnadigt habe. Während sich Recha augenscheinlich der rationalen
Perspektive des Vaters, die Glaube und Vernunft verbindet, nicht mehr entziehen
kann, hält Daja geradezu starrköpfig
an der Engelsversion fest. So sieht sich Nathan gezwungen, seinen
Argumentationsstil zu verschärfen. In dem von ihr vertretenen Standpunkt sieht
er nichts anderes als Unsinn, Überheblichkeit, falschen Stolz, zuletzt gar eine
Gotteslästerung. Um die begonnene Einsicht Rechas zu vertiefen, lässt Nathan
im weiteren Gespräch vor den Augen seiner beiden mehr und mehr betroffen
emotional reagierenden Zuhörerrinnen das Bild eines menschlichen Retters
entstehen, der, weil unter Umständen schwer krank, nicht mehr auffindbar sei,
aber eigentlich dringend Hilfe benötige. Dem von Nathan damit erzeugten Affekt
des Mitleids können sich beide Frauen, besonders aber Recha, nicht mehr
entziehen. An ihrer emotionalen Anteilnahme am Schicksal des
Tempelherrn aber erkennt Nathan, dass Recha sich in ihren Retter verliebt hat.
Auf der anderen Seite hat er sich, was den Engelsglauben anbelangt, als weiser
Erzieher seiner Tochter erwiesen, der ihr Wege zur autonomen Erkenntnis
aufgezeigt hat.
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I,3
Nathan erfährt von seinem alten
Freund
Al-Hafi, einem Bettelmönch,
der ganz unvermutet in prachtvoller Kleidung erscheint, dass er
Schatzmeister (Defterdar) des
Saladins
geworden ist. Als Bettelmönch habe er der Bitte des Sultans
entsprechen müssen, rechtfertigt er sich, muss sich aber dann von
Nathan die prinzipiell vorhandene menschliche Entscheidungsfreiheit
vorhalten lassen: "Kein Mensch muss müssen". Al-Hafi will
Nathan dazu bewegen, Saladins leere Kassen mit einem Kredit zu
füllen. Doch auch sein Hinweis auf Saladins Freigiebigkeit kann
Nathan nicht dazu bringen. Denn dieser weiß klug zwischen der ihm
freundschaftlich verbundenen Privatperson Al-Hafi und seiner Rolle
als Schatzmeister Saladins zu unterscheiden. Was er jenem ohne
weitere Bedenken gewähren würde, gelte aber nicht für diesen.
Al-Hafi, der aus seiner eigenen Motivation für die Übernahme des
Schatzmeisteramts letztlich doch keinen Hehl macht, nämlich einmal
"den reichen Mann mit Bettlern spielen" zu können, räumt
ein, dass er sich durch das Angebot des Sultans geschmeichelt
gefühlt habe. Zugleich sieht er sich jedoch auch in einem Dilemma:
Er weiß nämlich, dass - selbst bei vollen Kassen - jede
Mildtätigkeit und Freigiebigkeit, Grenzen findet, "gut"
zu sein und zu handeln, nur in Einzelfällen gelingen kann. Nathan,
der die Zwangslage, in der sich sein Freund Al-Hafi befindet,
erkennt, rät ihm daher, sein Bettelmönchdasein wieder aufzunehmen,
denn er befürchtet, dass Al-Hafi "grad' unter Menschen [...]
ein Mensch zu sein verlernen" könnte.
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I,4
Daja teilt
Nathan mit, sie habe den
Tempelherrn
erneut gesehen.
Recha lasse ihren
Vater dringend bitten, mit ihm sogleich Kontakt aufzunehmen. Als
Daja den Tempelherrn im Auftrag von Nathan einladen soll, erklärt
sie, dass dies aussichtslos sei, denn der Tempelherr komme zu keinem
Juden. Nathan will daher selbst den Kontakt herstellen.
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I,5
Ein christlicher
Klosterbruder
soll im Auftrag des
Patriarchen,
der von der erstaunlichen Begnadigung des
Tempelherrn
erfahren hat, den Tempelherrn aushorchen und anstiften, die
Verteidigungsanlage Jerusalems für die Armee Philipps
auszuspionieren, den Sultan
Saladin
gefangen zu nehmen oder zu ermorden. Im Verlauf des Gesprächs
erfährt man, dass der Tempelherr kurz vor dem Waffenstillstand bei
Tebnin als einer von zwanzig anderen Tempelherren gefangen genommen
worden und als einziger davon begnadigt worden ist. Die Ursache
dafür ist dem Tempelherrn aber nicht klar. Er glaubt nur kurz vor
seiner angesetzten Hinrichtung eine tiefe Rührung des Sultans
beobachtet zu haben, die diesen offenbar zur Begnadigung veranlasst
habe. Als der Tempelherr das Ansinnen des Patriarchen entschieden
zurückweist und den Klosterbruder fortschickt, geht dieser
unverrichteter Dinge, aber innerlich erleichtert, davon.
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I,6
Daja richtet dem
Tempelherrn
die Einladung
Nathans aus. Um den
erwarteten Stolz des Tempelherrn zu mäßigen, berichtet sie ihm,
dass sie selbst als Christin ihrem später gefallenen Mann nach
Palästina gefolgt und seitdem Erzieherin
Rechas
sei. Der Tempelherr lehnt die Einladung brüsk ab, indem er betont,
dass er sich an die Rettungstat und das gerettete Mädchen kaum mehr
erinnere und er mit einem Juden nichts zu tun haben wolle.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.03.2021