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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
VIERTER AUFZUG
SECHSTER AUFTRITT
Szene: die offne Flur in Nathans Hause, gegen die Palmen zu; wie
im ersten Auftritte des ersten
Aufzuges.1
Ein Teil der Waren und Kostbarkeiten liegt ausgekramt, deren eben
daselbst gedacht wird. Nathan und Daja.
DAJA. O, alles herrlich!
alles auserlesen! O, alles – wie nur Ihr es geben könnt. Wo wird der Silberstoff mit goldnen Ranken
2860 Gemacht? Was kostet er? – Das nenn' ich noch
Ein Brautkleid! Keine Königin
verlangt Es besser. NATHAN. Brautkleid? Warum Brautkleid eben? DAJA. Je nun! Ihr dachtet daran freilich nicht, Als Ihr ihn kauftet. – Aber wahrlich, Nathan, Der und kein andrer muß es sein! Er ist Zum Brautkleid wie bestellt. Der weiße Grund; Ein Bild der Unschuld: und die goldnen Ströme, Die aller Orten diesen Grund durchschlängeln; Ein Bild des Reichtums. Seht Ihr? Allerliebst!
2870 NATHAN. Was witzelst du mir da? Von
wessen Brautkleid Sinnbilderst2 du mir so gelehrt? – Bist du Denn Braut? DAJA.
Ich? NATHAN.
Nun wer denn? DAJA.
Ich? – lieber Gott! NATHAN. Wer denn? Von wessen Brautkleid sprichst du denn? –
Das alles ist ja dein, und keiner andern.3 DAJA. Ist mein? Soll mein sein? – Ist für Recha nicht? NATHAN. Was ich für Recha mitgebracht, das liegt In einem andern Ballen. Mach! nimm weg! Trag deine
Siebensachen4 fort! DAJA.
Versucher! Nein, wären es die Kostbarkeiten auch
2880 Der ganzen Welt! Nicht rühr an! wenn Ihr mir Vorher nicht schwört, von dieser einzigen Gelegenheit, dergleichen Euch der Himmel Nicht zweimal schicken wird, Gebrauch zu machen. NATHAN. Gebrauch? von was? – Gelegenheit? wozu? DAJA. O stellt Euch nicht so fremd! – Mit kurzen Worten!
Der Tempelherr liebt Recha:
gebt sie ihm,
So hat doch einmal Eure Sünde, die Ich länger nicht verschweigen kann, ein Ende. So kömmt das Mädchen wieder unter Christen;
2890 Wird wieder was sie ist; ist wieder, was Sie ward: und Ihr, Ihr habt mit all' dem Guten, Das wir Euch nicht genug verdanken können, Nicht
Feuerkohlen bloß auf Euer Haupt Gesammelt.5
NATHAN.
Doch die alte Leier wieder?6 -
Mit einer neuen Saite nur bezogen, Die, fürcht' ich, weder stimmt noch
hält8. DAJA.
Wie so? NATHAN.
Mir wär' der
Tempelherr schon recht. Ihm gönnt' Ich Recha mehr als einem in der Welt. Allein ... Nun, habe nur Geduld. DAJA.
Geduld?
2900 Geduld, ist Eure alte Leier nun Wohl nicht? NATHAN.
Nur wenig Tage noch Geduld!
... Sieh doch! – Wer kömmt
denn dort?7
Ein Klosterbruder? Geh, frag' ihn was er will. DAJA.
Was wird er wollen? (Sie geht auf ihn zu und fragt.)
NATHAN. So gib! – und eh' er bittet. –
(Wüßt' ich nur9 Dem Tempelherrn erst beizukommen, ohne Die Ursach meiner Neugier ihm zu sagen! Denn wenn ich sie ihm sag', und der Verdacht Ist ohne Grund:
so hab' ich ganz umsonst Den Vater auf das Spiel gesetzt.)10
– Was ists?
2910 DAJA. Er will Euch sprechen. NATHAN.
Nun, so laß ihn kommen; Und geh indes.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1 offene
Flur = Bezeichnung für den offenen Vorplatz vor dem Hauseingang
2
stellst Überlegungen zur Symbolkraft des Stoffes an; Sinnbild h: Symbol
3
vgl. Nathans Äußerung
I,1 V 42, mit der er Daja für ihr Schweigen über die Herkunft Rechas
belohnen will 4
Habseligkeiten, Sachen, (die für Daja bestimmt sind)
5 Anspielung
auf eine Stelle aus dem Alten Testament, die aber in umgekehrter Weise
als im Originalzitat Nathan als großmütigen Menschen ausweist;
Originalzitat aus dem AT, Buch der Sprüche, 25: "Hat dein Feind Hunger,
gib ihm zu essen,/Hat er Durst, gib ihm zu trinken, so sammelst du
glühende Kohlen auf sein Haupt."
6 vgl. dazu Dialog
Nathans mit Daja I,1 V 40 bei Nathans Rückkehr von seiner Reise
7
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
8 den Ton hält
9
ad
spectatores:
monologisches Beiseite (a
parte)
10 bezieht sich sowohl auf Nathans
Vaterrolle gegenüber Recha, als auch auf die Äußerung des Tempelherrn,
der ihn bei seiner Bitte um die Hand seiner Tochter als mit Vater
anspricht (vgl. III,9 V 2178x
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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