teachSam- Arbeitsbereiche:
Arbeitstechniken - Deutsch - Geschichte - Politik - Pädagogik - PsychologieMedien - Methodik und Didaktik - Projekte - So navigiert man auf teachSam - So sucht man auf teachSam - teachSam braucht Werbung


deu.jpg (1524 Byte)

 

G. E. Lessing: Parabeln

Eine Parabel (1778)

 
FAChbereich Deutsch
Center-Map Glossar Literatur Autorinnen und Autoren  Gotthold Ephraim Lessing Fabeln [ ParabelnÜberblick Textauswahl ] Nathan der Weise Schreibformen
Rhetorik Operatoren im Fach Deutsch
 

Strukturen erzählender Texte

Gotthold Ephraim Lessing, Eine Parabel

Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermesslichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.

Unermesslich war der Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als Gehilfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.

Sonderbar war die Architektur; denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln; aber sie gefiel doch und entsprach doch.

Sie gefiel vornehmlich durch die Bewunderung, welche Einfalt und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten als zu entbehren scheinen.

Sie entsprach durch Dauer und Bequemlichkeit. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Baumeister die letzte Hand angelegt hatten; von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang.

Was Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.

Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn dass die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen, wollte den wenigsten zu Sinne.

Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn dass durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne.

Und so entstand unter den vermeinten Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.

Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Anblicke geglaubt hätte, dass es den Streit notwendig sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade am meisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palastes herschreiben sollten, und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.

Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen neuen zusammen, für welchen neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreißen ließ, daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu schwören bald beredte, bald zwang.

Nur wenige sagten: »Was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer, sie sind uns alle gleich. Genug, dass wir jeden Augenblick erfahren, dass die gütigste Weisheit den ganzen Palast erfüllet, und dass sich aus ihm nichts als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet. «

Sie kamen oft schlecht an, diese wenigen! Denn wenn sie lachenden Muts manchmal einen von den besondern Grundrissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von denen, welche auf diesen Grundriss geschworen hatten, für Mordbrenner des Palastes selbst ausgeschrien.

Aber sie kehrten sich daran nicht und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denjenigen zugesellet zu werden, die innerhalb des Palastes arbeiteten und weder Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie keine waren.

Einsmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war, - einstmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: »Feuer! Feuer in dem Palaste.

Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf, und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte nach seinem Grundrisse. »Lasst uns den nur retten!« dachte jeder; »der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!«

Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hilfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist dem Feuer am besten beizukommen.« - »Oder hier vielmehr, Nachbar, hier! « - »Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier!« - »Was hätt' es für Not, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiss hier!« - »Lösch' ihn hier, wer da will. Ich lösch' ihn hier nicht.« - »Und ich hier nicht!« - »Und ich hier nicht!«

Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.

Public Domain Mark
Dieses Werk (Die Parabel, von Gotthold Ephraim Lessing), das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.

(aus: Deutsche Parabel, hg. v. Josef Billen 1982 /2007; S.10-12, )

Strukturen erzählender Texte

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 10.09.2020

 
    
   Arbeitsanregungen:
  1. Überlegen Sie: Welche Lehre enthält diese Parabel?

  2. Stellen sie dar, auf welchen Sachteil der Bildteil verweisen könnte.

  3. Vergleichen Sie den Text mit ▪ Lessings (1729-1781) ▪ Ringparabel in seinem Drama ▪ Nathan der Weise (1779), bei der Nathan als Erzähler und Aufklärer des "unwissenden" Sultans Saladin agiert.

 
  
 

 
ERZÄHLENDE TEXTE  Formen erzählender Texte Strukturen erzählender texte Strukturbegriffe der Erzähltechnik ARBEITSTECHNIKEN Arbeit mit Texten Zitieren INTERPRETATION EINES EPISCHEN TEXTES Aspekte der Analyse
 

 
  Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International License (CC-BY-SA)
Dies gilt für alle Inhalte, sofern sie nicht von
externen Quellen eingebunden werden oder anderweitig gekennzeichnet sind. Autor: Gert Egle/www.teachsam.de
-
CC-Lizenz