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Strukturen
erzählender Texte
Der Kontext: Die poetische Eröffnung des Fragmentenstreits durch
Lessing
▪ "Eine Parabel" ist der
Text, mit dem ▪
Lessing (1729-1781)
seine Polemik gegen Hamburger Hauptpastor »Johann
Melchior Goeze (1717-1787), den so genannten ▪
Fragmentenstreit, eröffnete, in dem es ihm u. a. in der
Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie darum ging,
die Religion von und
ihrer von Menschen geschriebenen Überlieferung zu entkoppeln, um die
Überlieferung bzw. bestimmte Elemente davon (z. B. den Glauben
an Wunder) der Kritik mit den Mitteln der Vernunft zugänglich zu
machen. Die "Parabel" kann dabei als "die poetischste von
Lessings Äußerungen im Fragmentenstreit" angesehen werden. (Fick
2010, S. 412)
Die "Parabel" lehrt dabei, "dass praktische Sittlichkeit
wichtiger sei als theologische Dispute." (Nisbet
2008 , S.725) Dabei "(wird) das geschichtlich gewachsene
Christentum (...) mit einem Palast verglichen, an dem
Jahrhunderte lang gebaut wurde. Die Analogie zwischen
»Gedankengebäude, Lehrgebäude« und realer Architektur wird im
18. Jahrhundert oft gezogen". (Fick
2010, S. 412)
"Eine Parabel" und die "Ringparabel" Lessings im Vergleich
Die beiden Texte Gotthold Ephraim ▪
Lessings (1729-1781)
"Die Parabel" und die "▪
Ringparabel"
in seinem Drama ▪
Nathan der Weise
(1779), bei der ▪
Nathan
als Erzähler und Aufklärer des "unwissenden" Sultans
▪
Saladin
agiert, stellt die Grundlage für den nachfolgenden Vergleich
dar:
-
Die
Ringparabel
setzt mit der Existenz dreier Ringe voraus, dass es
grundlegende Unterschiede zwischen den Religionen gibt.
Zugleich verwehrt sie dabei eine Betrachtung, die sich zur
Erklärung der Unterschiede auf historisch-kulturelle Wurzeln
beruft.
-
In der
"Parabel" verbindet sich die Vorstellung der Einheit,
im Text repräsentiert durch die Problemstellung ihres
Beginns "Ein weiser, tätiger König eines
großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt
einen Palast von ganz unermesslichem Umfange" mit dem
Eindruck von Vielfalt, der in vielfältigen
Grundrisse, der zahlreichen Baumeistern und ihren
unterschiedlichen Konzepten und auf den ersten Blick
disparaten und dysfunktionalen architektonischen Elementen,
den "wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen,
runden und viereckten Fenstern" und "mehr Türen und
Tore von mancherlei Form und Größe" zu Ausdruck kommt.
Dies kann einen heutigen Leser an die "»Hundertwasserhäuser"
genannten Bauten des Künstlers und Architekten
»Friedensreich Hundertwasser (1928-2000) erinnern, der
sich zeitlebens als Gegner der 'geraden Linie' und jeglicher
Standardisierung verstanden hat, oder auch an Bauwerke von »Antoni
Gaudí (1852-1926), der mit seinen geschwungene Linien,
unregelmäßigen Grundrisse, schräg gemauerten Stützen,
naturnahen weichen Formen
(
z. B. »Sagrada
Família, »Casa
Vicens, »Casa
Calvet oder den »Güell
Pavillons) besonders
Barcelona geprägt hat.
-
Die
Gegenüberstellung von Einheit und Vielfalt hält "als Problem
fest, "dass es zwischen einem Gott und vielen Religionen
keine Vernunft/Geschichte-Trennung gibt." (1)
Sie alle bewohnen einen gemeinsamen Palast, ein gemeinsames
Haus, statt streng voneinander separiert zu sein.
-
In der
"Parabel" "(liegt) die Pointe nicht darin, dass ein Richter
zwischen (nach Voraussetzung) ununterscheidbaren Ringen zu
wählen hat, sondern in der Spannung zwischen Dogmatismus,
polymorphem Pragmatismus und Ernstfall." (1)
-
Den
aufklärerischen Gedanken, den "die wenigen" äußern, ist eine
Meinung unter vielen: "Was gehen uns eure Grundrisse an?
Dieser oder ein andrer, sie sind uns alle gleich. Genug, das
wir jeden Augenblick erfahren, dass die gütigste Weisheit
den ganzen Palast erfüllet, und dass sich aus ihm nichts als
Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land
verbreitet." Die "Wenigen" sind auf diese Weise auch
nicht die Gruppe, die (richterlich) entscheidet, sondern sie
sind eine Gruppe wie jede andere auch, die mit den anderen
im Streit liegt. Ihr Verhältnis zueinander ist nicht
hierarchisch.
-
Das Urteil
über die richtige Antwort wird in der "Parabel" nicht auf
unbestimmte Zeit hinausgeschoben und an einen
"höheren" Richterstuhl verwiesen wie bei der Ringparabel,
die damit demonstriert, "dass unter der Voraussetzung der
Vernünftigkeit zwischen den Heilsansprüchen nicht zu wählen
ist". (1)
-
Stattdessen
erzählt die Parabel, wie das Urteil mit dem Feuer als
Ernstfall gefällt wird. Allerdings hebt sie diesen Ernstfall
dann wieder auf, indem sie das angebliche Feuer als
Fehlalarm ausgibt. Statt sich um die Lösung des Brandes zu
bemühen, bringen die selbsternannten Experten lieber ihre
Grundrisse in Sicherheit und streiten auf deren Grundlage
darüber, an welcher Stelle des gemeinsamen Hauses der Brand
ausgebrochen ist.
-
Im
Unterschied zur Ringparabel werden in der Parabel auch die
"wenigen", mit ihren »deistischen
Positionen (»Was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder
ein andrer, sie sind uns alle gleich. Genug, dass wir jeden
Augenblick erfahren, dass die gütigste Weisheit den ganzen
Palast erfüllet, und dass sich aus ihm nichts als Schönheit
und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet.«)
dem Urteil unterzogen, das das Feuer in Gang setzt. Eine
Antwort auf das Urteil bleibt von dieser Position aus
betrachtet aber aus.
(1)
https://wiki.philo.at/index.php?title=Text_zur_Pr%C3%BCfung,_WS_2005/06:_%22Die_Parabel%22
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.09.2020
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