Hanna Schmitz
ist eine von fünf angeklagten Frauen (»S.101),
die als Aufseherinnen in einem kleinen Lager bei Krakau, einem
Außenlager des »Vernichtungslagers
»Auschwitz-Birkenau
1966, 21 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, verschiedener
Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden.
Einer der beiden
Hauptanklagepunkte ist der Tod der verbliebenen mehreren Hundert
weiblicher Häftlinge auf dem "Todesmarsch" (»S.116)
nach der Auflösung des Lagers vor den heranrückenden sowjetischen
Truppen 1945 beim Brand der Kirche in einem verlassenen Dorf. Dieses
war nach der Bombardierung in Brand geraten und dann eingestürzt.
Darin hatten die Aufseherinnen die Häftlinge eingesperrt und auch
das abgesperrte Tor dann nicht geöffnet, als klar war, dass sie
darin verbrennen würden.
Zugleich geht es,
das ist der andere Hauptanklagepunkt, um die ganz persönliche
Verantwortung, die jede der SS-Aufseherinnen bei den Selektionen (»S.106)
getragen hatte. Bei denen ging es darum, jeden Monat immer wieder
sechzig von den etwa 1200 Frauen, die in der Munitionsfabrik des
Außenlagers bis zu ihrer völligen Erschöpfung arbeiteten,
auszusortieren und nach Auschwitz in den sicheren Tod zu schicken.(»S.115f.)
Hanna, die seit
1943 nach ihrem Eintritt in die »Schutzstaffel
(SS) zunächst Aufseherin in Auschwitz, im nächsten Frühjahr
(1944) im Außenlager gewesen war (»S.91f.)
ist dabei, wie ihrer Darstellung nach alle anderen angeklagten
Frauen an dieser Selektion direkt beteiligt und trägt damit,
strafrechtlich gesehen, persönlich Schuld an der Ermordung dieser
Frauen, und dazu eine besonders schwere.
Sie gilt nach den
Beschuldigungen der anderen Mitangeklagten, Lügen, mit denen diese
sich, wie der Ich-Erzähler meint, von ihrer eigenen persönlichen
Verantwortung freisprechen wollen, als Anführerin und mutmaßliche
Verfasserin des Berichts über den Kirchenbrand, der sich in den
Akten der SS gefunden hat. Zugleich sieht man ihr eine Frau, die
ihre ganz "persönliche Selektion" (»S.111)
vorgenommen habe, weil sie "ihre Schützlinge", "junge Mädchen" aus
dem Lager (»S.111)
eine Weile lang vor der Selektion bewahrt, wenn sie ihr allerdings
"überdrüssig" geworden seien, in den sicheren Tod geschickt habe.
Am Ende des
mehrwöchigen Prozesses steht das Urteil "lebenslänglich" (»S.156)
für Hanna, alle anderen Mitangeklagten erhalten dagegen nur zeitlich
befristete Freiheitsstrafen. Das unterschiedliche Strafmaß kommt
wohl auch deshalb zustande, weil sie sie nicht bereit ist, aus Angst
vor einer Bloßstellung, die sie nicht ertragen will, das Geheimnis
um ihren • Analphabetismus zu
lüften. Hätte sie es getan, davon ist der Ich-Erzähler im Nachhinein
überzeugt, wäre sie wahrscheinlich mit einer geringeren Haftstrafe
davongekommen, weil sie eben "nicht so schuldig war, wie es den
Anschein hatte." (»S.132)
Hannas Verhalten im Prozess
Das
Verhalten von • Hanna Schmitz im Prozess
in dem Roman • »Der
Vorleser« von • Bernhard
Schlink lässt sich unter zwei Gesichtspunkten betrachten:
ihr Verhalten gegenüber Personen und ihr Verhalten in bestimmten Phasen
des Prozesses.

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Hanna, die im Vorfeld des Prozesses wegen möglicher Fluchtgefahr
(• II,3 -
»S.93) in Haft genommen wurde, weil sie sämtliche Schreiben und
Vorladungen der Polizei und des Untersuchungsrichters ignoriert
hatte, bestätigt bei der Vernehmung zu ihrer Person, die amtlich
festgestellten Daten zu ihrem Geburtstag (•
21.10.1922) und Geburtsort
im »siebenbürgischen
Hermannstadt,
• heute Sibiu, in Rumänien. Sie
bestätigt auch im Jahr bei Siemens in Berlin gearbeitet zu haben,
und im Herbst 1943 freiwillig der »Schutzstaffel
(SS) beigetreten zu sein.
Auf die Frage,
weshalb sie diese Entscheidung gefällt habe, obwohl ihr eine Stelle
als Vorarbeiterin bei Siemens angeboten worden sei, schweigt sie
sich zunächst aus, erklärt aber auf weitere Nachfragen dann, dass
die SS eben weibliches Wachpersonal bei Siemens gesucht habe. Über
die vermutlich tatsächlichen Gründe, nämlich ihre Angst, bei dieser
Aufgabe ihren Analphabetismus nicht mehr verbergen zu können (in
analoger Weise verhält sie sich später, als man ihr als
Straßenbahnschaffnerin zur Fahrerin ausbilden will, •
I,17-
»S.80), schweigt sie sich aus, so dass die "Freiwilligkeit"
ihres Beitritts zur SS in den Augen des Gerichts der Beginn einer
persönlich verantworteten Schuld Hannas darstellt. Weitere Angaben
zu ihrer Zeit als Aufseherin in Auschwitz und danach in einem
kleinen Lager bei Krakau in den Jahren 1944/45 bestätigt sie, ohne
weitere Angaben dazu zu machen. Ebenso verhält es sich mit ihrer
Bestätigung der Angabe, dass sie bei Kriegsende mit den verbliebenen
Gefangenen Richtung Westen marschiert und dort auch angekommen
sei.(• II,3 - »S.92)
Nach Kriegsende habe sie sich in Kassel und andernorts aufgehalten.
Acht Jahre davon, so ergänzt der Ich-Erzähler, habe sie davon in
seiner "Heimatstadt" • II,3
- »S.92)
gelebt. Die Art, wie Hanna bei der Vernehmung zur Person auftritt,
da ist sich der Ich-Erzähler sicher, hat jedenfalls "auf das Gericht
keinen guten Eindruck gemacht." (•
II,6 - »S.104)
Bei der eineinhalbtägigen Verlesung der Anklage in der zweiten Woche
des Prozesses (•
II,5 - »S.101-103) erfährt
Hanna wegen ihrer Unfähigkeit, die ihr zuvor
zugegangenen Prozessunterlagen zu lesen, zum ersten Mal genau, was
ihr und den anderen angeklagten Frauen im Einzelnen vorgeworfen
wird.
Sie "stört" Hanna mit ihren anhaltenden Einwänden, die sie in den
Augen des Ich-Erzählers keineswegs "rechthaberisch, aber beharrlich"
(•
II,6 - »S.105)
dagegen erhebt, nach Ansicht des Vorsitzenden Richters die weitere
Beweisaufnahme. Er nimmt wohl an, dass Hanna damit lediglich den
weiteren Fortgang der Verhandlung verzögern wolle. So reagiert er
"verärgert" und "mit Schärfe" (•
II,6 - »S.105),
wenn Hanna mal beharrlich seiner Darstellung widersprach, mal ohne
Weiteres anderes zugab. Der Ich-Erzähler nimmt an, dass der Richter
gerade diese (Zu-)Geständnisse aber nur als eine Taktik Hannas
interpretierte, mit der sie sich ihren mit ihren andauernden
Einwänden erhobenen "Recht zum Widerspruch" (•
II,6 - »S.105)
ertrotzen wolle. Der Ich-Erzähler vermutet indessen, dass Hanna
einfach "ein Gefühl für den Kontext", für die Regeln und Formeln,
die in einer Gerichtsverhandlung gälten, besitze.
Auch wenn sie
gewöhnlich mit ihren Einwänden nicht durchgekommen sei, habe sie
damit doch manchmal "eine Art von Erfolg" gehabt. So gibt sie bei
der weiteren Beweisaufnahme im Verhör im Gegensatz zu den anderen
angeklagten Aufseherinnen unumwunden zu, bei den berüchtigten
Selektionen, einem der beiden Hauptanklagepunkte, zusammen mit den
anderen beteiligt gewesen zu sein, bei denen Monat für Monat 60
Frauen aus dem Arbeitslager in die Gaskammern von Auschwitz
geschickt wurden. In einer sachlich-nüchternen Sprache, die keine
emotionale Beteiligung oder Reue erkennen lässt, beschreibt sie die
näheren Umstände des Vorganges als sei es die selbstverständlichste
Sache der Welt, über Leben und Tod so vieler unschuldiger Frauen
zumindest mitzuentscheiden: "die alten mußten Platz machen für
die neuen." (•
II,6 - »S.106)
Dass der Vorsitzende Richter entrüstet nachbohrt, kann Hanna, die
gerade alles "erklärt" hat, nicht verstehen und bringt den Richter
mit ihrer direkt an ihn gerichteten Frage, ein Unding in einem
deutschen Strafverfahren, "Was hätten Sie denn gemacht?" (•
II,6 - »S.107)
ihrerseits in Zugzwang. Er zeigt sich darüber irritiert, zögert
seine Antwort eine Weile heraus, ehe er ohne jeden Bezuge auf die
eigene Person (indefinites man) in den Augen des
Ich-Erzählers "hilflos und kläglich" (•
II,6 - »S.107)
antwortet: "Es gibt Sachen, auf die man sich nicht einlassen darf
und von denen man sich, wenn es einen nicht Leib und Leben kostet,
absetzen muss." (•
II,6 - »S.107)
Hanna im Verhör über die Selektionen
Hanna im Verhör der Angeklagten durch den Vorsitzenden Richter über
den Kirchenbrand

Hanna bei der Urteilsverkündung
Hanna erscheint zur
Urteilsverkündung nach dem mehrwöchigen Prozess im Juli 1966 zur
Empörung zahlreicher Zuschauerinnen und Zuschauern in einem
schwarzen Kostüm mit weißer Bluse Kleidung, die nicht nur dem
erlebenden Ich, sondern auch den anderen Zuschauerinnen und
Zuschauern des Prozesses in Farbe und Schnitt wie eine schwarze
SS-Uniform Zeichen erscheint. (•
II, 17 - »S.156).
Aufrecht stehend und regungslos nimmt sie das Urteil entgegen und
hört sich dann im Sitzen die mehrstündige Verlesung der
Urteilsbegründung an, ehe sich, äußerlich ungerührt, mit, wie der
Ich-Erzähler meint, einem hochmütigen, verletzten, verlorenen und
unendlich müden Blick, ohne nur einmal den Blickkontakt mit ihm zu
suchen, in ihre Zelle abgeführt wird. (•
II, 17 - »S.156)
Da dem Ich-Erzähler die Innensicht in das Denken und Fühlen Hannas
strukturbedingt versagt bleibt und ihr Auftreten trotz der Empörung
und Irritationen, die es hervorruft, auch vom Vorsitzenden Richter
nicht angesprochen wird, erfährt der Leser daher auch nicht, was die
tatsächlichen Beweggründe Hannas für ihre Kleidung sind. So kann
also nur vermutet werden, dass sie sich, in dem sie sich in gewisser
Weise uniformiert, das Urteil über sich nicht als verantwortliches
menschliches Individuum, sondern als Funktionsträgerin mit geringer
Eigenverantwortlichkeit für das grausame Geschehen entgegennehmen
will.
Dieser Blick
Hannas, "der niemanden und nicht sehen will" (ebd.) sowie Habitus
und Gestus ihrer Körperhaltung und Kleidung werfen für den Leser
Fragen auf, die der ansonsten so leidenschaftlich kommentierende
Ich-Erzähler an dieser Stelle nicht thematisiert. (vgl. •
Arbeitsanregung)

Allgemeine Arbeitsanweisung
Interpretieren Sie das Verhalten von Hanna während des Prozesses.
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Zeigen Sie am Text
auf, wie sie sich gegenüber den verschiedenen
Personen / Figuren verhält.
-
Arbeiten Sie heraus, wie sich Hanna in den verschiedenen Phasen des
Prozesses verhält. Welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf ihren
Charakter ziehen?
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.06.2024
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