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Die große Wirkung, die
Friedrich Schillers
Drama "Die
Räuber" auf das zeitgenössische
Bühnenpublikum bei der
Uraufführung und das Lesepublikum entfaltet, wird von der
Literaturwissenschaft auf unterschiedliche Art und Weise erklärt.
Albert
Ludwig (1912)
(77) "Was war es nun, das selbst in der teilweise recht
bedenklichen Bühnenbearbeitung die Hörer zu Mannheim und bald allerorten
ergriff? Es war schlechthin Neues, etwas, das wie ein Wirbelwind
dramatischer Leidenschaft ergriff und fortriss [...] Die Deutschen
hatten schon Tragödien, auf die sie stolz waren: 'Götz von Berlichingen"
war freilich kein Bühnendrama, aber Lessings 'Emilia Galotti' hatte sich
auch auf den Theatern erfolgreich gezeigt, dies und jenes Werk von
Gerstenberg, Leisewitz, Klinger genoss großen literarischen Ruf. Aber
hier war es etwas anderes: wie fern lagen die italienischen Staaten und
Städte, in die jene mit Vorliebe ihre Handlungen legten, im Vergleich
mit den böhmischen Wäldern, der Donau, Franken! [...]
(78) Hier aber ertönte aus Karl Moors Munde die Klage über das
tintenklecksende Säkulum [...] hier flüchtete sich einer, der stark und
schön war, in den Naturzustand der böhmischen Wälder, und ihm gegenüber
steht der Bösewicht, der aus der Raffiniertheit hoher Bildung sich
Mittel und lästernde Rechtfertigung für die naturwidrigsten Verbrechen
holt, ihm gegenüber steht die ganze verrottete Gesellschaft - und in
Süddeutschland konnte jedermann sagen, wer der Minister, der Finanzrat,
der Pfaffe war, die Karl Moor niederwarf, wusste jeder, dass Kosinskys
Geschichte nicht Ausgeburt einer wilden Phantasie war.
Aber nicht bloß dieser zeitliche Gehalt packte die Hörer und Leser:
ewige Gegensätze des menschlichen Lebens, tiefste Fragen unseres Daseins
wurden hier aufgewühlt. Die Herzen flogen Karl Moor zu, war er nicht bei
allem Leichtsinn, allem Frevel ein Jünglingsideal? Kühn, voller
Begeisterung, hohen Strebens voll! [...] Und trotzdem, hatte er recht?
Der Dichter ließ keinen Zweifel: der große Räuber, er bricht zusammen;
mochten die Missstände und Missbräuche zum Himmel schreien, er hat sich
gegen die sittliche Weltordnung vergangen, und auf solchem Untergrunde
lässt sich kein neues Leben aufbauen.[...]
(79) Jedermann musste aber empfinden, dass hier auch seine Sache
verhandelt wurde, denn jeder bekommt diesen Gegensatz des einzelnen
gegen die Allgemeinheit zu spüren, hat ihn auszufechten [...]. Und wie
hier ein allgemein menschliches Problem aufgedeckt wurde, so rührte noch
ein anderes an tiefste Fragen: im Schoß der Familie war dieser
fruchtbare Streit entsprungen. [...] was aber bleibt noch, wenn diese
Grundfesten unseres Zusammenlebens wanken?"-(Ludwig
1914, S. 77-79)
Franz
Schnatz (1914)
"Solch tiefgehende Wirkungen und solch ungestümer Beifall werden nur dem
Dramatiker zuteil, dessen Feder den Lebensnerv seiner Zeit trifft. Auch
mit Abzug dessen, was bei diesem ungeheuren, umfassenden Erfolge aufs
Konto der Gefühlsseligkeit jener Zeit gesetzt werden muss, so ist doch
klar, dass eine Dichtung, die den Zeitgenossen wie eine machtvolle,
wundertätig befreiende Offenbarung unmittelbar ans Herz griff und als
lösendes Wort der Rätsel, die in aller Brust schlummerten, empfunden
ward, nur das literarische Erzeugnis und Ergebnis einer ganzen Epoche
sein kann.“ (Schnatz
1914, S. 113)
Hans Richard Brittnacher
(1998)
(328)" Die Räuber führten dem Publikum den febrilen
Ausnahmezustand einer Zeit vor Augen, die ihre wesentlichen Bindungen
verloren glaubte. Im Furor einer aller Legitimation entbundenen
Rationalität und eines entfesselten Idealismus erkannte das Publikum das
drohende Schreckgespenst der sozialen Anomie nach dem Zusammenbruch des
metaphysischen Weltbildes.
Um die Haltlosigkeit der in die Anomie entlassenen Individuen angemessen
darstellen zu können, greift Schiller zu archaischen Metaphern. Der
Machtwunsch von Karl steigert sich in die Allmachtsphantasie eines
Demiurgen, der sich aus der grausamen Herrschaft über andere die eigene
Identität bestätigen will […]. Karls »Universalhaß« (NA 22,120) zielt
auf nichts Geringeres als die Ausrottung der gesamten Menschheit […]
Diese anarchischen Gewaltphantasien, vermittelt und gesteigert durch die
eigentümliche, brisante Mischung aus aufklärerischer Fürstenkritik, dem
derben Selbsthelferpathos des Sturm und Drang, der spektakulären
Operngestik und dem kultischen Charakter der attischen Tragödie mit
Chor, Nemesis, Blut und Opfer, gelten für alle Fassungen des Dramas. […]
(330) Am Ende des Dramas wird en suite getötet und auf den Knien um Tod
und Leben gefleht. Selig und weinend küssen sich Held und Opfer,
Gesetzlose fordern ein Sühneopfer, und der Empörer liefert sich
bußfertig der Gerechtigkeit aus. LESSINGS Forderung nach
Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit der Dramenhandlung, aber auch die
vom Sturm und Drang eingeklagte Maxime der Natürlichkeit der Charaktere
werden von Schiller souverän missachtet. Im ausgehenden achtzehnten
Jahrhundert , auf dem Höhepunkt von Aufklärung und Empfindsamkeit,
sprechen die dramatis personae eine Sprache, die sich gegen die Diskurse
der Vernunft und des Herzens zu einem von archaischen Begriffen geradezu
gesättigten Dramenpathos bekennt: Schwur, Abfall, Empörung, Vergeltung,
Erlösung, Opfer.
Die ekstatische Reaktion des Publikums galt nicht dem obrigkeitswidrigen
Republikanismus des Stückes – der sich ohnehin eher an Rom als ROUSSEAU
orientierte -, sondern war eine affektische Enthemmung grundsätzlicher
Art. In einer doppelten Opferhandlung war der narzisstische Wahn der
feindlichen Brüder implodiert; Franz, vom eigenen Gewissen vor Gericht
gezerrt, richtet sich selbst; Karl, der Aufrührer, bekennt sich zur
weltlichen Gerechtigkeit, um die göttliche zu versöhnen. Selbst
Gesetzlose, intrigante Despoten und infernalische Selbsthelfer beweisen
ihre Teilhabe an der Ordnung der Gotteskindschaft: Opfer und
Selbstopfer, elementare Formen der Zustimmung zur Schöpfung,
triumphieren über die Selbstbezüglichkeit der Vernunft. Der Durchbruch
eines offenbar (331)unverwüstlichen kultischen Prinzips führte zu jenem
Erlösungsgefühl, von dem die Zuschauer augenscheinlich so ergriffen
waren. Sie erlebten eine ästhetische Krisenintervention, die ihnen
versicherte, dass selbst zwei so exzentrische Vertreter des neuen
Denkens sich den Bedingungen einer unantastbaren Ordnung fügen. Beide
kriechen vor dem Kreuz zu Kreuze, und das Publikum fällt sich in die
Arme." (Brittnacher
1998, S. 328-331, gekürzt)
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