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Für Schillers Zeitgenossen lag in den Räubern nach ihrer ganzen
ethisch-tragischen Fragestellung und Beantwortung etwas wohltuend
Befreiendes, denn man fühlte
sich todelend unter dem Übermut der Begierden. Die Dichtung, welche an
zwei Gestalten zeigt, wie der Mensch sich in seinen verschiedenen
Entwicklungsstufen zur
sittlichen Weltordnung verhält, wirkte wie ein
lauter Aufschrei der allgemeinsten Missstimmung, welche die Gemüter
niederdrückte. Denn wenn die Gewalt triumphiert und die Unterdrückung
des Schwachen Regel ist, wird die Frage nach der sittlichen Ordnung der
Dinge brennend. Sind nur Gewalt und Willkür allmächtig? Oder durchwalten
sittliche Kräfte und Gesetze die Menschenwelt, vor deren geltender Macht
auch die Gewaltigsten sich beugen müssen? Spricht die Tyrannei das
letzte Wort, dann ist jedes Widerstreben zwecklos. Besteht dagegen eine
sittliche Weltordnung in eherner Festigkeit gegenüber der entarteten
Gesellschaft, so ist's der Mühe wert, für sie einzutreten, ja als
Märtyrer für sie zu leiden, in der Hoffnung, dass kommende Zeiten für
die Gegenwart Unmögliches aufs Neue wirklich und wahr machen. Aus diesem
bangen (120) Zwiespalt sehnte man sich heraus. Mag des Dichters Herzblut die
Gestalten seines Dramas durchpulsen, in den Brüdern Moor wüten
unverkennbar die gesellschaftlichen Strömungen und extrem verschiedenen
Geistesrichtungen der damaligen, zerfahrenen Zeit gegeneinander, wie sie
den Menschen jener Tage nur schwer zur inneren Harmonie durchdringen
ließen. Die Dichtung ist genährt und durchtränkt von den
widerstreitenden Lebensstimmungen jener Zeit, da beschränktes
Philistertum und genialisches Drängen, rohe Genusssucht und opferwillige
Begeisterung, einklemmende Tradition und schrankenloser Subjektivismus,
idealistische Gesinnung und materialistisches Denken, überschwängliches
Gefühl und nüchterne Vernünftelei, empfindsamer Mystizismus und
blasphemischer Nihilismus in unversöhnlichem Widerspruch und Widerstreit
aufeinander prallten. [...] Aufwühlende, befreiende Kräfte strömten
in der Tat von diesem Drama aus, das so mannhaft kühn den Schleier
wegriss von den faulen Zuständen, von der Verlogenheit und Tünche der
entnervten Gesellschaft, und so unerbittlich scharf die Geißel schwang
über die skrupellosen Rechtsverdreher und niederträchtigen
Menschenschinder, über das Geschmeiß der Schmeichler und Günstlinge,
über die Schurken mit goldenen Borden und begehrlichen Landjunker, über
scheinheilige Pfaffen und bestechliche Advokaten. Fürwahr, eine
politisch-soziale Tat! [...]
Leider bleiben die Leser vielfach in stofflichen Eindrücken befangen und
waren bei ihrer leidenschaftlichen Sympathie mit dem im Drama
entfesselten Freiheitsgeist weniger zur rein
ästhetischen Kontemplation
geneigt und selten bereit, sich (121) auf die vom Dichter gewollte und
gegebene tragische Lösung zu besinnen. Wer in den Räubern nur ein
revolutionäres Tendenzstück sieht und in ihnen lediglich den wilden,
trotzigen Geist der Zerstörung fühlt, ist weder zum vollen
künstlerischen Verständnis der Dichtung noch zur Erfassung der wahren
Meinung und wirklichen Absicht Schillers hindurchgedrungen. [...]
(aus:
Schnatz 1914, S.119-121, Originalseitenangaben im Text in runden
Klammern) |
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