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Friedrich Wilhelm von Hoven, Schillers bester Freund während
seiner Zeit auf der
Karlsschule Herzog
Carl Eugens von Württemberg, macht Schiller wohl im Herbst
1777 auf die Erzählung
"Zur
Geschichte des menschlichen Herzens" von
Christian Friedrich Daniel Schubart
(1739-1791) aufmerksam, die dieser 1775 in der
Januarausgabe des von
Balthasar Haug (1731-1792) herausgegebenen
▲"Schwäbischen Magazins“ veröffentlicht
hatte. Die anekdotische Erzählung des schwäbischen Dichters gehört damit
zu den wesentlichen Elementen der
Stoffgeschichte
von
Friedrich Schillers
Drama "Die
Räuber".
Schubarts
Anekdote ist in einen Beitrag im Schwäbischen Magazin
eingebettet, der die Geschichte der darin erzählten ungleichen Brüder am
Anfang und Ende einrahmt. Die Äußerungen und Kommentare, die am Anfang
und Ende stehen, können dabei wohl als unmittelbare Meinungsäußerungen
des Autors verstanden werden, mit denen er zu zeitgenössischen Problemen
der Literatur in Deutschland Stellung bezieht und auf die
Meinungsbildung seiner Leser unmittelbar einwirken will. Zugleich lenkt
er damit die Rezeption der Anekdote, die den Mittelpunkt des gesamten
Textes darstellt. So räsoniert Schubart im diskursiv und argumentativ
angelegten ersten Teil des Textes über den im französischen und
britischen Ausland verbreiteten Eindruck, dass ein Deutscher ohne
Anzeichen jeder Leidenschaft, geradezu mechanisch, sein Leben führe.
Dabei lehnt er doch entschieden ab, daraus ein Element des
Nationalcharakters der Deutschen zu konstruieren. Stattdessen erkläre
sich die gering ausgeprägte Leidenschaftlichkeit der Deutschen aus den
repressiven politischen Verhältnissen, dem Fehlen persönlicher Freiheit
und von Meinungsfreiheit.
Die Anekdote, deren Inhalt, wie er am Ende, versichern will,
"aus den glaubwürdigsten Zeugnissen zusammengeflossen“ sei, beweise
indessen, dass es auch in deutschen Landen Stoffe gebe, die "in die
Tiefen des menschlichen Herzens" hinabblicken ließen. Mit Hilfe solcher
Erzählungen und Stoffe entstehe, wenn sie denn einmal gesammelt seien,
schließlich eine Vorstellung von einem authentischen deutschen
Nationalcharakter. Dies vor allem, wie Schubart im Hinblick auf die
Erzählung betont, weil sich diese "mitten unter uns" zugetragen hätten.
Solche Stoffe, so fordert er weiter, müssten sich die deutschen
Schriftsteller und Philosophen zu eigen machen, ein "Genie“ könne aus
der Geschichte der ungleichen Brüder ein dramatisches oder episches Werk
schaffen, dessen raum-gesellschaftliches Bezugssystem Deutschland und
die deutschen Verhältnisse bleiben müsse. Dabei verwehrt er sich
ausdrücklich gegen eine triviale, nur an der Oberfläche der Fabel (plot)
orientierte Bearbeitung der Anekdote. Stattdessen fordert neben der
Bereitschaft, sich darauf einzulassen, einen klaren,
philosophisch-analytischen Blick für die Motive menschlichen Handelns
und seine Facetten, um "die Rechte des offenen Herzens“
durchzusetzen und zu behaupten.
In der Anekdote wird die Geschichte eines Landedelmanns mit zwei sehr
unterschiedlichen Söhnen erzählt. Wilhelm, der ältere der beiden, ist
fromm und streng gegen sich selbst, gehorsam gegenüber dem Vater und
steht unter dem Einfluss eines menschenfeindlich eingestellten
Ordnungsfanatikers, der ihn als Hofmeister unterrichtet und erzieht.
Carl, der zweitgeborene Sohn, in nahezu allem das Gegenteil seines
Bruders, ein offener unverstellter Charakter mit allerlei Flausen im
Kopf, spontan und lebenslustig, aber ohne größeren Ehrgeiz, zeigt auch
im Gymnasium und an der Universität, dass er dem Lebensgenuss mit
ausgiebig Alkohohl und diversen Liebschaften größere Bedeutung als
ernsthaften Studien gibt. Als sein Bruder dem Vater, der seinen Sohn
deshalb mehrfach
ermahnt, mitteilt, dass Carl hohe Schulden angehäuft,
sich duelliert hat und deshalb Hals über Kopf aus der Universität
geflüchtet ist, wird er von diesem verstoßen. Carl lässt sich daraufhin
von preußischen Truppen anwerben, entscheidet sich aber nach einer
Verwundung, sein Leben zu ändern und den Vater um Vergebung zu bitten.
Sein Brief wird allerdings von seinem Bruder Wilhelm abgefangen, der dem
Vater stattdessen einen gefälschten Brief unterschiebt. Da Carl keine
Antwort von seinem Vater erhält, beginnt er nach Auflösung seines
Regiment unweit des Vaterhauses als Bauernknecht zu arbeiten, wo er als
der "gute Hans" auf dem Hof wie dem Dorf große Anerkennung erfährt.
Sogar von seinem Vater, mit dem er öfter spricht, ohne von diesem
erkannt zu werden, erhält er Lob. Eines Tages wird Carl beim Holzfällen
im Wald Zeuge eines Mordversuchs an seinem Vater. Er kann ihn vor dem
Tode bewahren und erfährt von einem der gedungenen Mörder, dass Wilhelm
der Auftraggeber der Mordtat gewesen ist. Als er das seinem Vater
mitteilt, stimmt dieser die Klage an, dass er nunmehr wahrscheinlich
keinen Sohn mehr habe, da Carl, dem er nun nachtrauert, möglicherweise
auch schon to sei. In dieser Situation gibt sich Carl seinem Vater zu
erkennen und beteuert dabei noch einmal seine Reue. Erleichtert und froh
schließt der Vater Carl in die Arme und erklärt ihn zu seinem Erben. Auf
Carls Bitte hin, seinem Bruder zu verzeihen, verzichtet der Vater,
Wilhelm der Justiz zu übergeben, und ordnet lediglich an, dass dieser,
aus seiner seiner Nähe verbannt, künftig von dem zu leben habe, was ihm
Carl zuzuteilen beliebe. Carl teilt diese Entscheidung seinem Bruder
ohne weitere Vorwürfe mit. Finanziell von Carl versorgt, verlässt Franz
ziemlich reuelos mit seinem Hofmeister das väterliche Schloss und lässt
sich irgendwo in einer Stadt nieder. Carl und sein alternder Vater leben
aber fortan ihr Leben in einer harmonischen und glücklichen Beziehung
zueinander.
Schiller verändert viel an der Vorlage, übernimmt aber auch wesentliche
Elemente der Schubartschen Erzählung. Wie Schubart nimmt er eine
gleichartige Gewichtung und Profilierung der beiden ungleichen Brüder
vor, von denen der eine der verbitterte, von Pflichterfüllung
zerfressene Bösewicht, der andere ein der "Sinnlichkeit" zugewandter,
von seinen Leidenschaften und Spontaneität geprägter "Gutmensch" ist. Er
ändert er aber auch einzelne Elemente der Handlung (des Plots) so ab,
dass sie Motive der handelnden Personen klarer hervortreten lassen.
Hierzu zählt vor allem die Tatsache, dass Schiller die Figur des Wilhelm
verändert. So macht er den bei Schubart Erstgeborenen zum Zweigeborenen,
der neben seiner erbrechtlichen Zurücksetzung auch noch die von Kind an
ihn tief verletzende Vernachlässigung durch den eigenen Vater zu
erdulden hat und dazu noch unter Minderwertigkeitsgefühlen leidet wegen
seiner Hässlichkeit. Während Schillers Carl nach seiner vermeintlichen
Zurückweisung durch seinen Vater, die ganze Menschheit seinen
"Universalhaß" spüren lassen will, schließt sich Schubarts Carl in
dieser Situation als Söldner preußischen Truppen an und überwindet in
Anbetracht des Kriegselends, das er auch durch seine eigene Verwundung
am eigenen Leib spüren muss, seine Enttäuschung und findet zur Reue
zurück. Und selbst seine Geschichte als "guter Hans", mit der er seine
Schuld gegenüber dem Vater klaglos verarbeitet, zeigt dass er sich
selbst verändern und damit vielleicht eines guten Tages die Versöhnung
mit dem Vater erreichen will. Und auch seine Fürbitte für den Mord am
Vater in Auftrag gebenden Bruder beim eigenen Vater, sowie die
"einvernehmlichen" Regelungen mit Vater und Bruder am Ende, hat für
Schiller keine dramatische bzw. tragische Qualität. Das
"Gutmensch-Schema" des Schubartschen Carl lässt Schiller weit hinter
sich.
Insgesamt gesehen machen die Veränderungen, die Schiller an der
Schubartschen Vorlage vorgenommen hat, diese "eher noch handfester und
nähern sie stark der Moritat an. Er hat indessen nicht nur gesteigert
und verdüstert – bei Schubart geht alles gut und glücklich aus -,
sondern er hat die Familiengeschichte verwickelt, zugleich noch fester
in sich zusammengeschlossen: zur Rivalität des heuchlerischen Bösewichts
um das Vatererbe fügt er noch die weitere um die Verlobte des
betrügerisch verstoßenen Bruders. Die Frage nach den Motiven des
Betrügers übergeht Schubart so ziemlich: ihm genügt die entlarvende
Bloßstellung der Scheinheiligkeit.“ (Storz
31963, S.24)
Gert Egle,
29.09.2013 |
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