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Wann wir die Anekdoten lesen, womit wir von Zeit zu Zeit aus Engelland und
Frankreich beschenkt werden; so sollte man glauben, daß es nur allein in
diesen glücklichen Reichen Leute mit Leidenschaften gebe.
Von uns armen Teutschen liest man nie ein Anekdötchen, und aus dem
Stillschweigen unserer Schriftsteller müssen die Ausländer schließen, daß wir uns nur maschinenmäßig bewegen und daß Essen, Trinken,
Dummarbeiten und Schlafen den ganzen Kreis eines Teutschen ausmache, in
welchem er so lange unsinnig herumläuft, bis er schwindlicht niederstürzt
und stirbt. Allein, wann man die Charaktere von seiner Nation abziehen
will, so wird ein wenig mehr Freyheit erfordert, als wir arme Teutsche
haben, wo jeder treffende Zug, der der Feder eines offenen Kopfes
entwischt, uns den Weg unter die Gesellschaft der Züchtlinge eröffnen
kann.
An Beispielen fehlt es uns gewiß nicht, und obgleich wegen der
Regierungsform der Zustand eines Teutschen bloß passiv ist, so sind wir
doch Menschen, die ihre Leidenschaften haben und handeln, so gut als ein
Franzos' oder ein Brite.
Wann
wir einmal teutsche Originalromanen und eine Sammlung teutscher
Anekdoten haben, dann wird es den Philosophen leicht werden, den
Nationalcharakter unserer Nation bis auf die feinsten Nuancen zu
bestimmen. Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns
zugetragen hat; und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder
einen Roman daraus zu machen, wann er nur nicht aus Zaghaftigkeit die
Szene in Spanien und Griechenland, sondern auf teutschen Grund und Boden
eröffnet.
Ein B....... Edelmann, der die Ruhe des Landes dem Lärm des Hofes vorzog,
hatte zween Söhne von sehr ungleichem Charakter.
Wilhelm war fromm, wenigstens betete er, sooft man es haben wollte, war
streng gegen sich selber und gegen andere, wann sie nicht gut handelten,
war der gehorsamste Sohn seines Vaters, der emsigste Schüler seines Hofmeisters1, der ein
Zelot2 war und ein
misanthropischer3 Verehrer der
Ordnung und Ökonomie.
Carl hingegen war völlig das Gegentheil seines Bruders. Er war offen,
ohne Verstellung, voll Feuer, lustig, zuweilen unfleißig, machte seinen
Eltern und seinern Lehrer durch manchen jugendlichen Streich Verdruß und
empfahl sich, durch nichts als durch seinen Kopf und sein Herz. Dieses
machte ihn zwar zum Liebling des Hausgesindes und des ganzen Dorfes;
seine Laster aber schwärzten ihn an in den Augen seines
katonischen4 Bruders und seines zelotischen Lehrmeisters, der oft vor Unmut über
Carls Mutwillen fast in der Galle erstickte.
Beede Brüder kamen auf das Gymnasium nach B............, und ihr Charakter blieb
sich gleich.
Wilhelm erhielt das Lob eines strengen Verehrers des Fleißes und der
Tugend und Carl das Zeugnis eines leichtsinnigen, hüpfenden Jünglings.
Wilhelms strenge Sitten litten auch auf der Universität keine
Abänderung; aber Carls heftiges Temperament ward vom Strom ergriffen und
zu manchem Laster fortgerissen.
Er ward ein Anbeter der
Kythere5 und ein Schüler des
Anakreon6. Wein und
Liebe waren seine liebste Beschäftigung, und von den Wissenschaften nahm
er nur so viel mit, als er flüchtig erhaschen konnte. Kurz, er war eine
von den weichen Seelen, welche der Sinnlichkeit immer offenstehen und
über jeden Anblick des Schönen in
platonisches7 Entzücken geraten. Der
strenge Wilhelm bestrafte ihn, schrieb seine Laster nach Hause und zog
ihm Verweise und Drohungen zu. Aber Carl war noch zu flüchtig, wie eine
Moral zu leben, und seine Verschwendung und übermäßige Gutheit gegen
arme Studierende versenkte ihn in Schulden, die so hoch anschwollen, daß
sie nicht mehr verborgen werden konnten. Darzu kam noch ein
unglückliches Duell, das ihm die Gunst seines Vaters entzog und ihn in
die Verlegenheit setzte, bei Nacht und Nebel die Akademie zu verlassen.
Die ganze Welt lag nun offen vor ihm und kam ihm wie eine Einöde vor, wo
er weder Unterhalt noch Ruhe fand.
Der Lärm der Trummel schreckte ihn von seinen Betrachtungen auf, und er
folgte der Fahne des
Mars8. Er ward ein
Preuße9, und die Schnelligkeit,
womit
Friedrich10 sein Heer von einem Wunder zum andere fortriß, ließ ihm
nicht Zeit, Betrachtungen über sich selber anzustellen. Carl tat immer
brav und wurde in der
Schlacht bei Freiberg11 verwundet. Er kam in ein
Lazarett, ein Extrakt des menschlichen Elends schwebte hier immer vor
seinen Augen. Das Ächzen der Kranken, das Röcheln der Sterbenden und der
brennende Schmerz seiner eigenen Wunde zerrissen sein zärtliches Herz,
und der Geist Carls richtete sich auf, sah mit ernstem Unmut auf seine
Laster, verfluchte sie; und dieser Carl
entschloß sich, tugendhaft und
weise zu werden. Er hatte sich kaum etwas erholt, so schrieb er
den
zärtlichsten Brief an seinen Vater und bemühte sich, durch das offene
Geständnis seiner Laster, durch das traurige Gemälde seines Unglücks, durch Reue und ernste Gelübde die väterliche Vergebung zu erweinen.
Umsonst! Der strenge Wilhelm unterschob seinen Brief, und Carl erhielt
keine Antwort. Es ward Friede, und das Regiment, worunter Carl stund,
wurde abgedankt. Ein neuer Donner in Carls Herz! Doch ohne sich lange
der unbarmherzigen Welt zu überlassen, entschloß er sich zu arbeiten. Er
vertauschte seine Montur mit einem Kittel und trat bei einem Bauern,
anderthalb Stunden von dem Rittersitze seines Vaters, als Knecht in
Dienste. Hier widmete er sich mit so vielem Fleiße dem Feldbau und der
Ökonomie, daß er das Muster eines fleißigen Arbeiters war. In müßigen
Stunden unterrichtete er die Kinder seines Bauern mit dem besten
Erfolge. Sein gutes Herz und seine Geschicklichkeit machten ihn zum
Lieblinge des ganzen Dorfes. ja, er wurde unter dem Namen des guten
Hansen auch seinem Vater bekannt, mit welchem er oft unerkannt sprach
und mit Beifall belohnt wurde. Einstmals war der gute Hans mit
Holzfällen im Walde beschäftigst; plötzlich hörte er von ferne ein
dumpfes Geräusch. Er schlich mit dem Holzbeile in der Hand hinzu und -
welch ein Anblick! - sah seinen Vater von verlarvten Mördern aus der
Kutsche gerissen, den
Postillion12 im Blute liegen und bereits den
Mordstahl auf der Brust seines Vaters blinken. Kindlicher Enthusiasmus
entflammte jetzt unserm Carl. Er stürzte wütend unter die Mörder hinein,
und sein Beil arbeitete mit so gutem Erfolge, daß er drei Mörder erlegte
und den vierten gefangennahm. Er setzte hierauf den ohnmächtigen Vater
in die Kutsche und fuhr mit ihm seinem Rittersitze zu.
«Wer ist mein Engel?» sagte der Vater, als er die Augen wieder
aufschlug. «Kein Engel», erwiderte Hans, «sondern ein Mensch hat getan,
was er als Mensch seinen Brüdern schuldig ist. » - «Welcher Edelmut
unter einem Zwilchkittel! Aber sage mir, Hans, hast du die Mörder alle
getötet?» - «Nein, gnädiger Herr, einer ist noch am Leben.» - «Laß ihn
herkommen !» Der entlarvte Mörder kommt, stürzt zu den Füßen des
Edelmanns nieder, fleht um Gnade und spricht schluchzend: «Ach, gnädiger
Herr, nicht ich! ein anderer! Ach - dürft' ich hier ewig verstummen!» -
«Ein anderer! So donnere den verfluchten andern heraus», sprach der
Edelmann. «Wer ist dann der Mitschuldige dieses Mordes?» - «Ach, ich muß
es sagen: der Junker Wilhelm. Sie lebten ihm zu lang, und er wollte sich
auf diese verfluchte Weise in den Besitz Ihres Vermögens setzen. Ja,
gnädiger Herr, Ihr Mörder ist Wilhelm.» - «Wilhelm?» sagte der Vater mit
dumpfen Tone, schlug die Augen zu und blieb unempfindlich liegen. Hans
blieb wie die Bildsäule des Entsetzens vor dem Bette seines Vaters
stehen. Nach einigen Augenblicken dieser schrecklichen Unempfindlichkeit
erhub der Vater die brechenden Augen und schrie im Tone der
Verzweiflung: «Keinen Sohn mehr? Keinen Sohn mehr? - Ha, jene
scheußliche Furie, mit Schlangen umwunden, ist mein Sohn - die Hölle
nenne seinen Namen! Und jener Jüngling mit Rosenwangen und fühlendem
Herzen ist mein Sohn Carl, ein Opfer seiner Leidenschaften - dem Elende
preisgegeben! Lebt vielleicht nicht mehr!» - «Ja, er lebt noch», schrie
Hans, dessen Empfindungen alle Dämme durchbrachen, «er lebt noch und
krümmt sich hier vor den Füßen des besten Vaters. Ach, kennen Sie mich
nicht? Meine Laster haben mich der Ehre beraubt, Ihr Sohn zu sein! Aber
kann Reue, können Tränen ... » - hier sprang der Vater aus dem Bette,
hob seinen Sohn von der Erde auf, schloß ihn in seine zitternden Arme,
und beede verstummten. - Dies ist die Pause der heftigsten Leidenschaft,
die den Lippen Schweigen gebietet, um die Redner des Herzens auftreten
zu lassen. - «Mein Sohn, Mein Carl ist also mein Schutzengel», sagte der
Vater, als er zu reden vermochte, und Tränen träufelten auf die braune
Stirne des Sohnes herab. «Schlag deine Augen auf, Carl! Sieh deinen Vater
Freudentränen weinen.» - Aber Carl stammelte nichts als: «Bester Vater»,
und blieb an seinem Busen liegen. Nachdem der Sturm der Leidenschaften
vorüber war, so erzählte Carl dem Vater seine Geschichte, und beede
überließen sich alsdann der Freude, einander wiedergefunden zu haben.
«Du bist mein Erbe», sagte der Vater, «und Wilhelm, diese Brut der
Hölle, will ich heute noch dem Arme der Justiz überliefern.» - «Ach
Vater», sagte hierauf Carl, indem er sich auf das neue zu den Füßen des
Vaters warf, «vergeben Sie Ihrem Sohne!
Vergeben Sie meinem Bruder!» -
«O welche Güte des Herzens», rufte der entzückte Vater aus, «deinem
Verleumder, der, wie ich erst kürzlich in seinem Schreibpulte fand,
deine Briefe vor mir verbarg, diesem Ungeheuer, der in sein eigenes Blut
wühlte, kannst du vergeben? Nein, das ist zuviel! Doch will ich den
Bösewicht den Bissen seines Gewissens preisgeben! Er soll mir aus den
Augen und seinen Unterhalt deiner Güte zu danken haben.» Carl kündigte
seinem Bruder dieses Urteil mit den sanftmutigsten Ausdrücken an und
machte ihm zugleich einen hinlänglichen Unterhalt aus. Wilhelm entfernte
sich, ohne viel Reue zu äußern, und wohnte seit der Zeit in einer
angesehenen Stadt, wo er und sein Hofmeister das
Haupt einer Sekte sind,
die man die Sekte der Zeloten heißt. Carl aber wohnet noch bei seinem
Vater und ist die Freude seines Alters und die Wollust seiner künftigen
Untertanen.
Diese Geschichte, die aus den glaubwürdigsten Zeugnissen
zusammengeflossen ist, beweist, daß es auch teutsche
Blefil13 und teutsche
Jones14 gebe. Nur schade, daß die Anzahl der ersteren so groß unter uns
ist, daß man die andern kaum bemerkt. Wann wird einmal der Philosoph
auftreten, der sich in die Tiefen des menschlichen Herzens hinabläßt,
jeder Handlung bis zur Empfängnis nachspürt, jeden Winkelzug bemerkt und
alsdann eine Geschichte des menschlichen Herzens schreibt, worin er das
trügerische
Inkarnat15 vom Antlitze des Heuchlers hinwegwischt und gegen
ihn die Rechte des offenen Herzens behauptet!
(aus:
Projekt Gutenberg - Spiegel online, korrigiert) * Die
Geschichte
wurde 1775 in der Januarausgabe
des von
Balthasar Haug (1731-1792) herausgegebenen
▲"Schwäbischen Magazins“ veröffentlicht.
WORT- UND SACHERKLÄRUNGEN
1↑ Hofmeister: (lat. Magister, Praefectus curiae) h:
Hauslehrer im 18. Jahrhundert, dessen Aufgaben in der Regel auch über
die rein schulische Erziehung hinausgehen.
2↑ Zelot: hier: Eiferer oder Fanatiker; (vom
Griechischen zelos Eifer, hebräisch kanai קנאי);
abgeleitet von der biblischen Gestalt »Pinhas
dem Zeloten, dem Enkel »Aarons,
ab, der mit dem Speer in der Hand "für seinen Gott eiferte“, indem er
einem anderen Israeliten, der sich mit einer "fremdblütigen“ Frau
eingelassen hatte, in dessen Zelt folgte und ihn und die Frau mit dem
Speer durchbohrte (»4.
Buch Mose, 25).
3↑
misanthropisch: menschenfeindlich, menschenscheu, voller Abneigung
gegen andere Menschen
4↑ katonisch: nach dem für seine
Sittenstrenge bekannten römischen Zensor Cato, der jüngere; »Marcus
Porcius Cato Uticensis (* 95 v. Chr. in Rom; † 46 v. Chr. in Utica
bei »Karthago
im heutigen »Tunesien);
»Senator und Feldherr am Ende der Republik; einer der bekanntesten
und profiliertesten Gegner von »Gaius
Iulius Caesar; stirbt nach Caesars Sieg im Bürgerkrieg durch
Selbstmord; h: katonische Strenge = hart strafende Unnachgiebigkeit
5↑ Kythere: in der »griechischen
Mythologie ist Kythera neben Zypern die Insel der »Aphrodite.
Die Liebesgöttin soll hier aus dem Meeresschaum geboren und an Land
gestiegen sein. In Erinnerung an diesen Mythos hat
6↑
»Anakreon: (* um 550 v. Chr., andere Angaben 580 v. Chr., in »Teos
(»Ionien),
heute »Sigacik
(Türkei); † 495 v. Chr. in »Athen)
war ein griechischer Lyriker, der zum »Kanon
der neun Lyriker gezählt wird; Von seinen Gedichten sind nur drei
vollständig und einige fragmentarisch erhalten.
(»Anakreontik)
7↑ platonisch: nicht-sinnlich, rein
geistig
8↑ Mars: römischer Kriegsgott; später mit dem
griechischen »Ares
gleichgesetzt, aber im Unterschied zu diesem größere Bedeutung und
lebhaftere kultische Verehrung; neben »Jupiter
der wichtigste römische Gott.
9↑ Preuße: gemeint sind Söldnerdienste
auf preußischer Seite im »Siebenjährigen
Krieg (1765-1763)
10↑ »Friedrich
II. (1712-1786), preußischer König, genannt der Große
11↑ »Schlacht
bei Freiberg, 29.10.1762, letzte Schlacht des »Siebenjährigen
Krieges (1765-1763)
12↑ Postillion: Postkutscher
13↑ Blefil: Captain Brifil; Figur in »Henry
Fieldings (1707-1754) Roman "Tom Jones. Die Geschichte eines
Findlings" (engl. »The
History of Tom Jones, a Foundling (6 Bände, 1749, deutsch 1771)
14↑ Jones: Titelfigur des Romans von
Fielding (s. Anm.13)
15↑ Inkarnat: Fleischton (auf Gemälden)
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