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(Die Briefe »Über die ästhetische Erziehung
des Menschen« können in ihrem ersten Teil als eine Fortsetzung
tatsächlicher Dankesbriefe an den dänischen Prinzen Friedrich Christian
von Augustenburg angesehen werden, der ihm nach Bekanntwerden von
Schillers schwerer Lungenkrankheit 1791 eine Ehrengabe von 1.000 Talern
jährlich gewährte. Die Briefe sind im Januar 1795 in der von
Schiller von 1795 bis 1797 herausgegebenen Zeitschrift die "Horen"
erschienen.)
"Aber bei einiger Aufmerksamkeit auf den
Zeitcharakter muss uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen
der heutigen Form der Menschheit und zwischen der ehemaligen, besonders
der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und
Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere bloße Natur geltend
machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zustatten kommen, die
sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit
vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu sein. Die
Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplizität, die unserem
Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsere Nebenbuhler, ja oft unsere
Muster in den nämlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die
Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und
voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und
energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der
Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.
Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und
der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein
Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindselig abzuteilen und ihre Markung
zu bestimmen. Die Poesie hatte noch nicht mit dem Witze gebuhlt und die
Spekulation1 sich noch nicht durch ihre Spitzfindigkeit geschändet. Beide
konnten im Notfall ihre Verrichtungen tauschen, weil jedes, nur auf seine
eigene Weise, die Wahrheit ehrte. So hoch die Vernunft auch stieg, so zog
sie doch immer die Materie liebend nach, und so fein und scharf sie auch
trennte, so verstümmelte sie doch nie. Sie zerlegte zwar die menschliche
Natur und warf sie in ihrem Götterkreis vergrößert auseinander, aber nicht
dadurch, dass sie in Stücken riss, sondern dadurch, dass sie sie
verschiedentlich mischte, denn die ganze Menschheit fehlte in keinem
einzelnen Gott. Wie ganz anders bei den Neuern! Auch bei uns ist das Bild
der Gattung in den Individuen vergrößert auseinandergeworfen - aber in
Bruchstücken nicht in veränderten Mischungen, dass man von Individuum zu
Individuum herumfragen muss, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen.
Bei uns möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die
Gemütskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in
der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte,
sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten,
während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter
Spur angedeutet sind.
Ich verkenne nicht die Vorzüge, welche das gegenwärtige Geschlecht, als
Einheit betrachtet und auf der Waage des Verstandes, vor dem Besten in der
Vorwelt behaupten mag; aber in geschlossenen Gliedern muss es den
Wettkampf beginnen und das Ganze mit dem Ganzen sich messen. Welcher
einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann mit dem einzelnen
Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?
Woher wohl dieses nachteilige Verhältnis der Individuen bei allem Vorteil
der Gattung? Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum
Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere nicht
wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende
Verstand seine Formen erteilten.
Die Kultur selbst war es, welche der neueren Menschheit diese Wunde
schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das
bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der
andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung
der Stände und Geschäfte notwendig machten, so zerriss auch der innere
Bund der menschlichen Natur; und ein verderblicher Streit entzweite ihre
harmonischen Kräfte. Der intuitive2 und spekulative3 Verstand verteilten
sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern, deren
Grenzen sie jetzt anfingen mit Misstrauen und Eifersucht zu bewachen, und
mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat sich auch
in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit Unterdrückung der
übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende
Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet,
verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte
wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen. [...]
Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke sich
selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine
Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen
vorschreibt? Es muss also falsch sein, dass die Ausbildung der einzelnen
Kräfte das Opfer der Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz
der Natur noch so sehr dahin strebte, so muss es bei uns stehen, diese
Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine
höhere Kunst wiederherzustellen.
(aus: Friedrich Schiller, Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsgg. v. H. G.
Göpfert, München: Hanser-Verlag 1966, S.452-459)
Worterklärungen:
1 Spekulation = in diesem Zusammenhang philosophischer
Gedankengang, der über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht
(hypothetisch) spekulativ = hier: in der Art der (philosoph.) Spekulation denkend
2 intuitiv = Erkennen und Erfassen von Sachverhalten und
Problemen in Form der Intuition, d.h. unmittelbares, nicht auf Reflexion
beruhendes Erfassen
3 spekulativ: siehe 1)