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Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts (1795) - 6. Brief

Sechster Brief

Auszüge


FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Friedrich SchillerBiographie Werke Dramatische Werke Lyrische Werke Sonstige Werke Überblick Ankündigung der "Rheinischen Thalia" (11. 11.1784) Über Egmont (1788)
Brief an den Herzog von Augustenburg (1793) Über das Pathetische (1793) Über das Erhabene (um 1794) Ankündigung der Horen (1795) Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts (1795) Überblick ▪ Gesamttext [ 6. Brief (1795)Überblick Textauszug 6. Brief Aspekte der Textanalyse Bausteine ] Bausteine Links ins Internet ...   Schreibformen  ● Operatoren im Fach Deutsch
 

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(Die Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« können in ihrem ersten Teil als eine Fortsetzung tatsächlicher Dankesbriefe an den dänischen Prinzen Friedrich Christian von Augustenburg angesehen werden, der ihm nach Bekanntwerden von Schillers schwerer Lungenkrankheit 1791 eine Ehrengabe von 1.000 Talern jährlich gewährte. Die Briefe sind im Januar 1795 in der von Schiller von 1795 bis 1797 herausgegebenen Zeitschrift die "Horen" erschienen.)

"Aber bei einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muss uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit und zwischen der ehemaligen, besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere bloße Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zustatten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu sein. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplizität, die unserem Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsere Nebenbuhler, ja oft unsere Muster in den nämlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.
Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindselig abzuteilen und ihre Markung zu bestimmen. Die Poesie hatte noch nicht mit dem Witze gebuhlt und die Spekulation1 sich noch nicht durch ihre Spitzfindigkeit geschändet. Beide konnten im Notfall ihre Verrichtungen tauschen, weil jedes, nur auf seine eigene Weise, die Wahrheit ehrte. So hoch die Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer die Materie liebend nach, und so fein und scharf sie auch trennte, so verstümmelte sie doch nie. Sie zerlegte zwar die menschliche Natur und warf sie in ihrem Götterkreis vergrößert auseinander, aber nicht dadurch, dass sie in Stücken riss, sondern dadurch, dass sie sie verschiedentlich mischte, denn die ganze Menschheit fehlte in keinem einzelnen Gott. Wie ganz anders bei den Neuern! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinandergeworfen - aber in Bruchstücken nicht in veränderten Mischungen, dass man von Individuum zu Individuum herumfragen muss, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen. Bei uns möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemütskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.

Ich verkenne nicht die Vorzüge, welche das gegenwärtige Geschlecht, als Einheit betrachtet und auf der Waage des Verstandes, vor dem Besten in der Vorwelt behaupten mag; aber in geschlossenen Gliedern muss es den Wettkampf beginnen und das Ganze mit dem Ganzen sich messen. Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?

Woher wohl dieses nachteilige Verhältnis der Individuen bei allem Vorteil der Gattung? Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere nicht wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilten.

Die Kultur selbst war es, welche der neueren Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machten, so zerriss auch der innere Bund der menschlichen Natur; und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte. Der intuitive2 und spekulative3 Verstand verteilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern, deren Grenzen sie jetzt anfingen mit Misstrauen und Eifersucht zu bewachen, und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen. [...]

Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muss also falsch sein, dass die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer der Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muss es bei uns stehen, diese Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wiederherzustellen.

(aus: Friedrich Schiller, Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsgg. v. H. G. Göpfert, München: Hanser-Verlag 1966, S.452-459)

Worterklärungen:
1 Spekulation = in diesem Zusammenhang philosophischer Gedankengang, der über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht (hypothetisch) spekulativ = hier: in der Art der (philosoph.) Spekulation denkend
2
 intuitiv = Erkennen und Erfassen von Sachverhalten und Problemen in Form der Intuition, d.h. unmittelbares, nicht auf Reflexion beruhendes Erfassen
3 spekulativ: siehe 1)

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.12.2023

 
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie heraus, worin sich nach Auffassung Schillers die antike Lebensform von der Lebensform seiner Zeit unterscheidet.

  2. Wie erklärt sich Schiller, dass der einzelne Mensch der Antike Repräsentant seines Zeitalters war? Aus welchem Grunde ist dies für den Menschen seiner eigenen Zeit nicht möglich?

  3. Wie kann nach Schiller die ursprüngliche Einheit von Sinn und Verstand (Totalität menschlicher Natur) wieder hergestellt werden?

 
 
 

 
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