docx-Download -
pdf-Download
▪ Text
(Längere Auszüge)
"Darstellung des Leidens - als bloßen Leidens - ist niemals Zweck der
Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig.
Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des
Übersinnlichen1,
und die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, dass
sie uns die moralische Independenz2
von Naturgesetzen im Zustand des Affekts3
versinnlicht.
Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle
äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich; der Widerstand aber kann
nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden. Soll sich also die
Intelligenz4
im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft offenbaren, so muss
die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das
Sinnenwesen5
muss tief und heftig leiden; Pathos6
muss da sein, damit das
Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und
sich handelnd darstellen könne. [...]
Man gelangt also zur
Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die
lebendigste Darstellung der leidenden Natur, und der
tragische Held muss
sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm
als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben.
Pathos ist also die erste und unnachlässliche Forderung an den
tragischen Künstler, und es ist ihm
erlaubt, die Darstellung des Leidens
so weit zu treiben, als es, ohne Nachteil für seinen letzten Zweck, ohne
Unterdrückung der moralischen Freiheit, geschehen kann. Er muss gleichsam
seinem Helden oder seinem Leser
die ganze volle Ladung des Leidens geben,
weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen
dasselbe eine Gemütshandlung, etwas Positives, und nicht vielmehr bloß
etwas Negatives und ein Mangel ist. [...]
Das
erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur.
Das zweite ist
Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden.
Der Affekt, als
Affekt, ist etwas
Gleichgültiges, und die Darstellung desselben würde,
für
sich allein betrachtet, ohne allen ästhetischen Wert sein; denn, um
es noch einmal zu wiederholen, nichts, was bloß die sinnliche Natur
angeht, ist der Darstellung würdig. Daher sind nicht nur alle bloß erschlaffenden
(schmelzenden) Affekte, sondern überhaupt auch alle höchsten Grade,
von was für Affekten es auch sei,
unter der Würde tragischer
Kunst.
Die
schmelzenden Affekte, die
bloß zärtlichen Rührungen,
gehören zum Gebiet des Angenehmen,
mit dem die schöne Kunst nichts zu tun hat. Sie
ergötzen bloß den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung und
beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des
Menschen. Viele unsrer Romane und Trauerspiele, besonders der
sogenannten Dramen (Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und
der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse. Sie
bewirken bloß Ausleerungen des Tränensacks und eine wollüstige
Erleichterung der Gefäße; aber der
Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen wird ganz und
gar nicht dadurch gestärkt.
[...]
Ein bis ins Tierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann
gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der
offene Mund ist ganz Begierde,
ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist
schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich
ein; zum deutlichen Beweise, dass die
Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit im
Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird. Alle diese
Rührungen, sage ich, sind durch einen edeln und männlichen Geschmack von
der Kunst abgeschlossen, weil sie
bloß allein dem Sinne gefallen, mit dem die Kunst nichts zu
verkehren hat.
Auf der andern Seite
sind aber auch alle diejenigen Grade des Affekts ausgeschlossen, die
den Sinn bloß quälen, ohne zugleich den Geist dafür zu
entschädigen. Sie unterdrücken die Gemütsfreiheit durch Schmerz
nicht weniger, als jene durch Wollust, und können deswegen bloß
Verabscheuung und keine Rührung bewirken, die der Kunst würdig wäre.
Die Kunst muss den Geist ergötzen und der Freiheit gefallen.
Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß ein gequältes Tier,
kein leidender Mensch mehr; denn von dem Menschen wird
schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert,
durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz,
kenntlich machen kann. [...]
Eine
Darstellung der bloßen Passion
(sowohl der wollüstigen als der peinlichen) ohne Darstellung der
übersinnlichen Widerstehungskraft heißt gemein,
das Gegenteil heißt edel.
[...]
Nichts ist edel, als was aus der Vernunft quillt; alles, was die
Sinnlichkeit für sich hervorbringt, ist gemein.
[...].
Ein
guter Geschmack also, sage ich, gestattet keine, wenn gleich noch so
kraftvolle, Darstellung des Affekts, die bloß physisches Leiden und
physischen Widerstand ausdrückt,
ohne zugleich die höhere Menschheit, die Gegenwart eines übersinnlichen
Vermögens sichtbar zu machen – und zwar aus dem schon entwickelten
Grunde,
weil nie das Leiden an sich, nur der Widerstand gegen das Leiden
pathetisch und der Darstellung würdig ist. [...]
Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß
ein gequältes
Tier, kein leidender Mensch mehr; denn
von dem Menschen wird
schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert,
durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz
deutlich machen kann. [...]
Wie gelangt nun die Kunst dazu, etwas vorzustellen, was über die Natur
ist, ohne sich übernatürlicher Mittel zu bedienen? [...]
Dadurch nämlich, dass alle bloß der Natur gehorchende Teile, über welche
der Wille entweder gar niemals oder wenigstens unter gewissen Umständen
nicht disponieren kann, die Gegenwart des Leidens verraten - diejenigen
Teile aber, welche der blinden Gewalt des Instinkts entzogen sind und dem
Naturgesetz nicht notwendig gehorchen, keine oder nur eine geringe Spur
dieses Leidens zeigen, also in einem gewissen Grad frei erscheinen. An
dieser Disharmonie nun zwischen denjenigen Zügen, die der animalischen
Natur nach dem Gesetz der Notwendigkeit eingeprägt werden, und zwischen
denen, die der selbsttätige Geist bestimmt, erkennt man die
Gegenwart
eines übersinnlichen Prinzips im Menschen, welches den Wirkungen der Natur
eine Grenze setzen kann und sich also eben dadurch als von derselben
unterschieden kenntlich macht. [...]
Die
gemeine
Seele bleibt bloß bei diesem Leiden stehen und
fühlt im Erhabenen des Pathos nie mehr als das Furchtbare;
ein selbständiges Gemüt hingegen nimmt gerade von diesem Leiden den
Übergang zum Gefühl seiner herrlichsten Kraftwirkung und weiß aus jedem
Furchtbaren ein Erhabenes zu erzeugen.[...]
Bei allem Pathos muss also der Sinn durch Leiden, der Geist durch
Freiheit interessiert sein. Fehlt es einer pathetischen Darstellung
an einem Ausdruck der leidenden
Natur, so ist sie ohne ästhetische Kraft, und unser Herz bleibt
kalt. Fehlt es ihr an einem
Ausdruck der ethischen Anlage, so kann sie bei aller sinnlichen
Kraft nie pathetisch sein und wird unausbleiblich unsre Empfindung
empören. Ans aller Freiheit des Gemüts muss immer der leidende Mensch,
aus allen Leiden der Menschheit muss immer der selbständige oder
der
Selbständigkeit fähige Geist durchscheinen."
(Quelle, z. B.: Friedrich Schiller, Vom Pathetischen und Erhabenen.
Ausgewählte Schriften zur Dramentheorie. Hrsg. v. Klaus Berghahn,
Stuttgart: Reclam 1970)
Worterklärungen:
1 Übersinnliches: hier: (metaphysische) Idee, Begriff
2 Independenz : Unabhängigkeit
3 Affekte: Leidenschaften, Gefühle wie z.B. Wut, Trauer,
Freude usw.
4 Intelligenz: Verstand, Einsicht
5 Sinnenwesen: hier: Mensch, der sinnliche Erfahrungen machen
kann
6 pathetisch: leidenschaftlich, von Emotionen beherrscht,
leidend
docx-Download -
pdf-Download
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023