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(Kurzauszug)
"Darstellung des Leidens - als bloßen Leidens - ist niemals Zweck der
Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig.
Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des
Übersinnlichen1,
und die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, dass
sie uns die moralische Independenz2
von Naturgesetzen im Zustand des Affekts3
versinnlicht.
Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle
äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich; der Widerstand aber kann
nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden. Soll sich also die
Intelligenz4
im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft offenbaren, so muss
die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das
Sinnenwesen5
muss tief und heftig leiden; Pathos6
muss da sein, damit das
Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und
sich handelnd darstellen könne. [...]
Man gelangt also zur
Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die
lebendigste Darstellung der leidenden Natur, und der
tragische Held muss
sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm
als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben.
Pathos ist also die erste und unnachlässliche Forderung an den
tragischen Künstler, und es ist ihm
erlaubt, die Darstellung des Leidens
so weit zu treiben, als es, ohne Nachteil für seinen letzten Zweck, ohne
Unterdrückung der moralischen Freiheit, geschehen kann. Er muss gleichsam
seinem Helden oder seinem Leser
die ganze volle Ladung des Leidens geben,
weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen
dasselbe eine Gemütshandlung, etwas Positives, und nicht vielmehr bloß
etwas Negatives und ein Mangel ist.
Dies Letztere ist der
Fall bei dem Trauerspiel
der ehemaligen Franzosen7, wo wir
höchst selten oder nie die leidende Natur zu Gesicht bekommen,
sondern meistens nur den kalten,
deklamatorischen 8 Poeten oder
auch den auf Stelzen gehenden Komödianten sehen. Der frostige Ton der
Deklamation erstickt alle wahre Natur, und den französischen Tragikern
macht es ihre angebetete Dezenz9
vollends ganz unmöglich, die Menschheit in ihrer Wahrheit zu zeichnen.
Die Dezenz verfälscht überall, auch wenn sie an ihrer rechten
Stelle ist, den Ausdruck der Natur, und doch fordert diesen die Kunst
unnachlässlich. Kaum können wir es einem französischen Trauerspielhelden
glauben, dass er leidet, denn er lässt sich über seinen
Gemütszustand heraus, wie der ruhigste Mensch, und die unaufhörliche
Rücksicht auf den Eindruck, den er auf Andere macht, erlaubt ihm nie,
der Natur in sich ihre Freiheit zu lassen. Die Könige, Prinzessinnen und
Helden eines Corneille10
und Voltaire11
vergessen ihren Rang auch im heftigsten Leiden nie und ziehen weit eher
ihre Menschheit als ihre Würde aus.
Sie gleichen den Königen und Kaisern in den alten Bilderbüchern, die
sich mit samt der Krone zu Bette legen.
Wie
ganz anders sind die Griechen
und ´diejenigen unter den Neuern, die in ihrem Geiste gedichtet haben.
Nie schämt sich der
Grieche der Natur, er lässt der Sinnlichkeit ihre vollen Rechte und
ist dennoch sicher, dass er nie von ihr unterjocht werden wird. Sein
tiefer und richtiger Verstand lässt ihn das Zufällige, das der schlechte
Geschmack zum Hauptwerke macht, von dem Notwendigen unterscheiden; alles
aber, was nicht Menschheit ist, ist zufällig an dem Menschen. Der
griechische Künstler, der einen Laokoon12,
eine Niobe13,
einen Philoktet14
darzustellen hat, weiß von keiner Prinzessin, keinem König und keinem
Königssohn; er hält sich nur an den Menschen. Deswegen wirft der weise
Bildhauer die Bekleidung weg und zeigt uns bloß nackende Figuren, ob er
gleich sehr gut weiß, dass dies im wirklichen Leben nicht der Fall war.
Kleider sind ihm etwas Zufälliges, dem das Notwendige niemals
nachgesetzt werden darf, und die Gesetze des Anstands oder des
Bedürfnisses sind nicht die Gesetze der Kunst. Der Bildhauer soll und
will uns den Menschen zeigen, und Gewänder verbergen denselben;
also verwirft er sie mit Recht.[...]
Das
erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur.
Das zweite ist
Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden.
Der Affekt, als
Affekt, ist etwas
Gleichgültiges, und die Darstellung desselben würde,
für
sich allein betrachtet, ohne allen ästhetischen Wert sein; denn, um
es noch einmal zu wiederholen, nichts, was bloß die sinnliche Natur
angeht, ist der Darstellung würdig. Daher sind nicht nur alle bloß erschlaffenden
(schmelzenden) Affekte, sondern überhaupt auch alle höchsten Grade,
von was für Affekten es auch sei,
unter der Würde tragischer
Kunst.
Die
schmelzenden Affekte, die
bloß zärtlichen Rührungen,
gehören zum Gebiet des Angenehmen,
mit dem die schöne Kunst nichts zu tun hat. Sie
ergötzen bloß den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung und
beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des
Menschen. Viele unsrer Romane und Trauerspiele, besonders der
sogenannten Dramen (Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und
der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse. Sie
bewirken bloß Ausleerungen des Tränensacks und eine wollüstige
Erleichterung der Gefäße; aber der
Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen wird ganz und
gar nicht dadurch gestärkt.
[...]
Ein bis ins Tierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann
gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der
offene Mund ist ganz Begierde,
ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist
schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich
ein; zum deutlichen Beweise, dass die
Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit im
Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird. Alle diese
Rührungen, sage ich, sind durch einen edeln und männlichen Geschmack von
der Kunst abgeschlossen, weil sie
bloß allein dem Sinne gefallen, mit dem die Kunst nichts zu
verkehren hat.
Auf der andern Seite
sind aber auch alle diejenigen Grade des Affekts ausgeschlossen, die
den Sinn bloß quälen, ohne zugleich den Geist dafür zu
entschädigen. Sie unterdrücken die Gemütsfreiheit durch Schmerz
nicht weniger, als jene durch Wollust, und können deswegen bloß
Verabscheuung und keine Rührung bewirken, die der Kunst würdig wäre.
Die Kunst muss den Geist ergötzen und der Freiheit gefallen.
Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß ein gequältes Tier,
kein leidender Mensch mehr; denn von dem Menschen wird
schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert,
durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz,
kenntlich machen kann.
Ans diesem Grunde
verstehen sich diejenigen Künstler und Dichter sehr schlecht auf ihre
Kunst, welche das
Pathos durch die bloße sinnliche Kraft des Affekts und die höchst
lebendigste Schilderung des Leidens zu erreichen glauben. Sie
vergessen, dass das
Leiden
selbst nie der letzte Zweck der Darstellung und
nie die
unmittelbare Quelle des Vergnügens sein kann, das wir am
Tragischen empfinden.
Das Pathetische ist nur ästhetisch, insofern es erhaben ist.
Wirkungen aber, welche bloß auf eine sinnliche Quelle schließen lassen
und bloß in der Affektion des Gefühlvermögens gegründet sind, sind
niemals erhaben, wie viel Kraft sie auch verraten mögen; denn alles
Erhabene stammt nur aus der Vernunft.
Eine
Darstellung der bloßen Passion
(sowohl der wollüstigen als der peinlichen) ohne Darstellung der
übersinnlichen Widerstehungskraft heißt gemein,
das Gegenteil heißt edel.
[...]
Nichts ist edel, als was aus der Vernunft quillt; alles, was die
Sinnlichkeit für sich hervorbringt, ist gemein.
[...].
Ein
guter Geschmack also, sage ich, gestattet keine, wenn gleich noch so
kraftvolle, Darstellung des Affekts, die bloß physisches Leiden und
physischen Widerstand ausdrückt,
ohne zugleich die höhere Menschheit, die Gegenwart eines übersinnlichen
Vermögens sichtbar zu machen – und zwar aus dem schon entwickelten
Grunde,
weil nie das Leiden an sich, nur der Widerstand gegen das Leiden
pathetisch und der Darstellung würdig ist. Daher sind alle
absolut höchsten Grade des
Affekts dem Künstler sowohl als dem Dichter untersagt; denn
alle
unterdrücken die innerlich widerstehende Kraft, oder setzen vielmehr
die Unterdrückung derselben schon voraus,
weil kein Affekt seinen absolut höchsten Grad erreichen kann, so lange
die Intelligenz im Menschen noch einigen Widerstand leistet.[...]
Der, welcher einem Schmerz zum Raube wird, ist bloß
ein gequältes
Tier, kein leidender Mensch mehr; denn
von dem Menschen wird
schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert,
durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz
deutlich machen kann. [...]
Der Kampf mit dem Affekt hingegen ist ein Kampf mit der Sinnlichkeit
und
setzt also etwas voraus, was von der Sinnlichkeit unterschieden ist. Gegen
das Objekt, das ihn leiden macht, kann sich der Mensch mit Hilfe seines
Verstandes und seiner Muskelkräfte wehren;
gegen das Leiden selbst hat er
keine andere Waffen als Ideen der Vernunft.
Diese müssen also in der Darstellung vorkommen, oder durch sie erweckt
werden, wo Pathos stattfinden soll.
Nun sind aber Ideen im eigentlichen
Sinn und positiv nicht dazustellen, weil ihnen nichts in der Anschauung
entsprechen kann. Aber negativ und indirekt sind sie allerdings
darzustellen, wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die
Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen.
Jede Erscheinung, deren
letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine
indirekte Darstellung des Übersinnlichen.
Wie gelangt nun die Kunst dazu, etwas vorzustellen, was über die Natur
ist, ohne sich übernatürlicher Mittel zu bedienen? [...]
Dadurch nämlich, dass alle bloß der Natur gehorchende Teile, über welche
der Wille entweder gar niemals oder wenigstens unter gewissen Umständen
nicht disponieren kann, die Gegenwart des Leidens verraten - diejenigen
Teile aber, welche der blinden Gewalt des Instinkts entzogen sind und dem
Naturgesetz nicht notwendig gehorchen, keine oder nur eine geringe Spur
dieses Leidens zeigen, also in einem gewissen Grad frei erscheinen. An
dieser Disharmonie nun zwischen denjenigen Zügen, die der animalischen
Natur nach dem Gesetz der Notwendigkeit eingeprägt werden, und zwischen
denen, die der selbsttätige Geist bestimmt, erkennt man die
Gegenwart
eines übersinnlichen Prinzips im Menschen, welches den Wirkungen der Natur
eine Grenze setzen kann und sich also eben dadurch als von derselben
unterschieden kenntlich macht. [...]
Die
gemeine
Seele bleibt bloß bei diesem Leiden stehen und
fühlt im Erhabenen des Pathos nie mehr als das Furchtbare;
ein selbständiges Gemüt hingegen nimmt gerade von diesem Leiden den
Übergang zum Gefühl seiner herrlichsten Kraftwirkung und weiß aus jedem
Furchtbaren ein Erhabenes zu erzeugen.[...]
Bei allem Pathos muss also der Sinn durch Leiden, der Geist durch
Freiheit interessiert sein. Fehlt es einer pathetischen Darstellung
an einem Ausdruck der leidenden
Natur, so ist sie ohne ästhetische Kraft, und unser Herz bleibt
kalt. Fehlt es ihr an einem
Ausdruck der ethischen Anlage, so kann sie bei aller sinnlichen
Kraft nie pathetisch sein und wird unausbleiblich unsre Empfindung
empören. Ans aller Freiheit des Gemüts muss immer der leidende Mensch,
aus allen Leiden der Menschheit muss immer der selbständige oder
der
Selbständigkeit fähige Geist durchscheinen.
Auf zweierlei Weise
aber kann sich die
Selbständigkeit des Geistes im Zustand des Leidens offenbaren.
Entweder negativ: wenn der ethische Mensch von dem
physischen das Gesetz nicht empfängt und
dem
Zustand keine Kausalität für die Gesinnung gestattet wird; oder
positiv: wenn der ethische Mensch dem physischen
das Gesetz gibt und die
Gesinnung für den Zustand Kausalität erhält. Aus dem ersten
entspringt das Erhabene der
Fassung, aus dem zweiten das
Erhabene der Handlung.
Ein Erhabenes der Fassung ist jeder vom Schicksal unabhängige Charakter.
[...]
Das
Erhabene der Fassung
lässt sich anschauen, denn es
beruht auf der Koexistenz; das
Erhabene der Handlung hingegen lässt
sich bloß denken, denn es beruht auf der Sukzession, und der
Verstand ist nötig, um das Leiden von einem freien Entschluss
abzuleiten. [...]
Zum Erhabenen der
Handlung wird erfordert, dass
das Leiden eines Menschen auf seine moralische Beschaffenheit nicht nur
keinen Einfluss habe, sondern vielmehr umgekehrt das
Werk seines moralischen
Charakters sei. Dies kann auf zweierlei Weise sein. Entweder
mittelbar und nach
dem Gesetz der Freiheit, wenn er aus Achtung für irgend eine Pflicht das
Leiden erwählt. Die Vorstellung
der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Motiv, und
sein Leiden ist eine
Willenshandlung.
Oder
unmittelbar und nach dem Gesetz der Notwendigkeit, wenn er
eine übertretene
Pflicht moralisch büßt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in
diesem Falle als Macht, und sein Leiden ist bloß eine Wirkung.[...]
Ein
erhabenes
Objekt, bloß in der ästhetischen Schätzung, ist schon derjenige
Mensch, der uns die
Würde der menschlichen Bestimmung durch seinen Zustand vorstellig
macht, gesetzt auch, dass wir diese Bestimmung in seiner Person
nicht realisiert finden sollten.
Erhaben in der
moralischen Schätzung wird er nur alsdann, wenn er sich zugleich
als Person jener
Bestimmung gemäß verhält, wenn unsre Achtung nicht bloß seinem
Vermögen, sondern dem Gebrauch dieses Vermögens gilt, wenn nicht bloß
seiner Anlage, sondern seinem
wirklichen Betragen Würde zukommt. Es ist ganz etwas anders, ob wir
bei unserm Urteil auf das moralische Vermögen überhaupt und auf die
Möglichkeit einer absoluten Freiheit des Willens, oder ob wir auf den
Gebrauch dieses Vermögens und auf die Wirklichkeit dieser absoluten
Freiheit des Willens unser Augenmerk richten.
Es ist etwas ganz
anders, sage ich, und diese Verschiedenheit liegt nicht etwa nur in den
beurteilten Gegenständen, sondern sie liegt in der verschiedenen
Beurteilungsweise. Der nämliche Gegenstand kann uns in der moralischen
Schätzung missfallen und in der ästhetischen sehr anziehend für uns
sein. Aber wenn er uns auch in beiden Instanzen der Beurteilung Genüge
leistete, so tut er diese Wirkung bei beiden auf eine ganz verschiedene
Weise. Er wird dadurch, dass er ästhetisch brauchbar ist, nicht
moralisch befriedigend, und dadurch, dass er moralisch befriedigt, nicht
ästhetisch brauchbar.[...]
Nun
liegt bei aller moralischen Beurteilung eine Forderung der Vernunft zum
Grunde, dass moralisch gehandelt werde, und es ist eine unbedingte
Necessität
15 vorhanden, dass wir
wollen, was recht ist. Weil aber der Wille frei ist, so ist es
(physisch) zufällig, ob wir es wirklich tun. Tun wir es nun wirklich, so
erhält diese Übereinstimmung des Zufalls im Gebrauche der Freiheit mit
dem Imperativ der Vernunft Billigung oder Beifall, und zwar in desto
höherem Grade, als der
Widerstreit der Neigungen diesen Gebrauch der Freiheit zufälliger
und zweifelhafter machte.
Bei der ästhetischen Schätzung
hingegen wird der Gegenstand auf das Bedürfnis der Einbildungskraft
bezogen, welche nicht gebieten, bloß verlangen kann, dass das
Zufällige mit ihrem Interesse übereinstimmen möge. Das
Interesse der Einbildungskraft aber ist: sich frei von Gesetzen im
Spiele zu erhalten. Diesem Hange
zur Ungebundenheit ist die sittliche Verbindlichkeit des Willens,
durch welche ihm sein Objekt auf das strengste bestimmt wird, nichts
weniger als günstig; und da die
sittliche Verbindlichkeit des Willens der Gegenstand des moralischen
Urteils ist, so sieht man leicht, dass bei dieser Art zu urteilen
die Einbildungskraft ihre Rechnung nicht finden könne. [...]
Beurteilt also der moralische Sinn – die Vernunft – eine tugendhafte
Handlung, so ist Billigung das Höchste, was erfolgen kann, weil die
Vernunft nie mehr und selten nur so viel finden kann, als sie fordert.
Beurteilt hingegen der ästhetische Sinn, die Einbildungskraft, die
nämliche Handlung, so erfolgt eine positive Lust, weil die
Einbildungskraft niemals Einstimmigkeit mit ihrem Bedürfnisse fordern
kann und sich also von der wirklichen Befriedigung desselben, als von
einem glücklichen Zufall, überrascht finden muss. [...]
Der Unterschied
zwischen beiden Arten der Beurteilung fällt noch deutlicher in die
Augen, wenn man eine Handlung zum Grunde legt, über welche das
moralische und das ästhetische Urteil verschieden ausfallen.[...]
Aus diesem allen ergibt
sich denn, dass
die moralische und die ästhetische Beurteilung, weit entfernt, einander
zu unterstützen, einander vielmehr im Wege stehen, weil sie dem Gemüt
zwei ganz entgegengesetzt Richtungen geben; denn die
Gesetzmäßigkeit, welche die Vernunft als moralische Richterin fordert,
besteht nicht mit der Ungebundenheit, welche die Einbildungskraft als
ästhetische Richterin verlangt.
Daher wird ein Objekt zu einem ästhetischen Gebrauch gerade um so viel
weniger taugen, als es sich zu einem moralischen qualifiziert; [...]
Die
ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung
ergreift, beruht also keineswegs auf dem Interesse der Vernunft,
dass recht gehandelt werde, sondern
auf dem Interesse der Einbildungskraft, dass recht handeln möglich
sei, d. h. dass keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die
Freiheit des Gemüts zu unterdrücken vermöge.
Diese Möglichkeit liegt aber in jeder starken Äußerung von Freiheit und
Willenskraft, und wo nur irgend der Dichter diese antrifft, da hat
er einen zweckmäßigen Gegenstand für seine Darstellung gefunden.
Für sein Interesse ist es eins, aus welcher Klasse von
Charakteren, der schlimmen oder guten, er seine Helden nehmen will, da
das nämliche Maß von Kraft, welches zum Guten nötig ist, sehr oft zur
Konsequenz im Bösen erfordert werden kann. [...] Sobald nämlich
Fälle eintreten, wo das moralische Gesetz sich mit Antrieben gattet, die
den Willen durch ihre Macht fortzureißen drohen, so
gewinnt der Charakter ästhetisch, wenn er diesen Antrieben widerstehen
kann. Ein
Lasterhafter fängt an, uns zu interessieren, sobald er Glück und
Leben wagen muss, um seinen schlimmen Willen durchzusetzen;
ein Tugendhafter hingegen
verliert in demselben Verhältnis unsere Aufmerksamkeit, als seine
Glückseligkeit selbst ihn zum Wohlverhalten nötigt. Rache, zum Beispiel,
ist unstreitig ein unedler und selbst niedriger Affekt.
Nichtsdestoweniger wird sie ästhetisch, sobald sie dem, der sie ausübt,
ein schmerzhaftes Opfer kostet. [...]
In ästhetischen Urteilen sind wir also nicht für die Sittlichkeit an
sich selbst, sondern bloß für die Freiheit interessiert, und jene kann
nur insofern unsrer Einbildungskraft gefallen, als sie die letztere
sichtbar macht. Es ist daher
offenbare Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zweckmäßigkeit in
ästhetischen Dingen fordert und, um das Reich der Vernunft zu erweitern,
die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiete verdrängen will.
Entweder wird man sie
ganz unterjochen müssen, und dann ist es um alle ästhetische Wirkung
geschehen; oder sie wird mit der Vernunft ihre Herrschaft teilen,
und dann wird für Moralität wohl nicht viel gewonnen sein. Indem man
zwei verschiedene Zwecke verfolgt, wird man Gefahr laufen, beide zu
verfehlen.
Man wird die Freiheit der Phantasie durch moralische Gesetzmäßigkeit
fesseln und die Notwendigkeit der Vernunft durch die Willkür der
Einbildungskraft zerstören."
(Quelle, z. B.: Friedrich Schiller, Vom Pathetischen und Erhabenen.
Ausgewählte Schriften zur Dramentheorie. Hrsg. v. Klaus Berghahn,
Stuttgart: Reclam 1970)
Worterklärungen:
1 Übersinnliches: hier: (metaphysische) Idee, Begriff
2 Independenz : Unabhängigkeit
3 Affekte: Leidenschaften, Gefühle wie z.B. Wut, Trauer,
Freude usw.
4 Intelligenz: Verstand, Einsicht
5 Sinnenwesen: hier: Mensch, der sinnliche Erfahrungen machen
kann
6 pathetisch: leidenschaftlich, von Emotionen beherrscht,
leidend
7
Trauerspiel der
ehemaligen Franzosen: gemeint sind hier wohl die französischen
Dramatiker und Tragödiendichter »Pierre
Corneille (1606-1684) und »Jean
Racine (1639-1699) des Barock, die das Drama und die Inszenierung
strengen Regeln unterworfen haben
8
deklamatorisch, Deklamation: Vortrag und
Sprechweise in einer rhetorischen besonders kunstvollen, der natürlichen
Sprechweise nicht entsprechenden Form; stark stilisierender
Deklamationsstil der Schauspielerinnen* war, historisch gesehen vor 1750
vor allem auch deshalb üblich, weil die begrenzten Möglichkeiten
bei der Inszenierung auf das Hervorbringen von "Wortkulissen" angewiesen
war und die Bühne damit vornehmlich "eine Stätte rhetorischer
Deklamation" (Asmuth
52004, S.51) darstellte.
9
Dezenz: vornehme Zurückhaltung, Unaufdringlichkeit, Anstand,
Schicklickeit
10
Corneille: »Pierre
Corneille (1606-1684), frz. Dramatiker, gilt neben »Molière
(1622-1673) und »Jean
Racine (1639-1699) als einflussreichster Theaterautor der
sogenannten »französischen
Klassik
11 Voltaire:
»Voltaire (1694-1778),
frz. Philosoph; als Schriftsteller Verfasser zahlreicher lyrischer,
dramatischer und epischer Texte und einer der meistgelesenen und
einflussreichsten Autoren der »Aufklärung
12 Laokoon:
»Laokoon
= gr. Sagengestalt; dargestellt in einer Skulptur des Bildhauers
Hagesander aus Rhodos und seiner Söhne (Laokoon im Kampf mit den
Schlangen; Standort heute: Vatikan;
13 Niobe:
»Niobe
= in der griechischen Mythologie die Tochter des »Tantalos
und der »Dione
oder der »Euryanassa
sowie die Schwester des »Pelops
und »Broteas.
Auch sie unterlag dem »Tantalidenfluch;
der tragische Stoff ist vielfach in der Dramatik und der Bildenden Kunst
verarbeitet worden (erhaltene Tragödienfragmente des
Aischylos (525-456 v. Chr.) und
Sophokles (497-405 v. Chr.); "aus römischer Zeit ist eine Gruppe der
Niobe und ihrer Kinder erhalten (1583 ausgegraben, jetzt in den Uffizien
in Florenz. Dabei handelt es sich um die Nachbildung eines Werks der
hellenistischen Bildhauerei. Von dem griechischen Original, das Plinius
der Ältere noch im Tempel des Apollo Sosianus in Rom sah, wusste man
aber im 1. Jahrhundert n. Chr. schon nicht mehr zu sagen, ob Praxiteles
oder Skopas der Urheber sei. Den Mittelpunkt der Gruppe bildet die
Gestalt der Niobe selbst mit der zu ihren Füßen hingestürzten, ihr Haupt
im Schoß der Mutter bergenden Tochter. Ihre Kinder fliehen von beiden
Seiten her, teils schon getroffen, teils sich entsetzt umschauend nach
den schwirrenden Todesgeschossen, der Mutter zu. Die Einzelkopie einer
Tochter aus der Gruppe, jetzt im Vatikan befindlich, gibt von der
Schönheit des Originals die beste Anschauung. (vgl. Seite „Niobe
(Mythologie)“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand:
4. Juni 2021, 08:19 UTC. URL:
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Niobe_(Mythologie)&oldid=212658515
(Abgerufen: 4. Juni 2021, 14:26 UTC)
14 Philoktet:
»Philoktet
= in der griechischen Mythologie der Sohn König »Poias’
von »Meliboia in Thessalien und
der »Demonassa (oder
der »Methone);
als einer der »Argonauten »Iason auf
der Suche nach dem »Goldenen
Vlies und auf Seiten der Griechen Teilnehmer am »Trojanischen
Krieg teil.
15 Necessität:
Notwendigkeit
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(Kurzauszug)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023