Der Begriff
Der Begriff der Katharsis, der immer wieder in das Zentrum der
Dramen- bzw. Tragödientheorie von »Aristoteles
(384-322 v. Chr.) gerückt wird, taucht
in seiner »Poetik, von der wichtige Teile, vor allem die über
die Komödie, verlorengegangen sind, nur ein einziges Mal auf (vgl.
Fuhrmann
1994, S.146). In seiner berühmten Definition der Tragödie zu Beginn
des 6. Kapitels heißt es nämlich:
"Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich
geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter
Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitte je
verschieden angewandt werden - die Nachahmung von Handelnden und nicht
durch Bericht, die Jammern [altgr.Ἔλεος
éleos) und Schaudern
[altgr.
Φόβος phóbos) hervorruft und hierdurch eine
Reinigung [altgr. κάθαρσις
kátharsis] von derartigen Erregungszuständen bewirkt."
(Aristoteles,
Poetik, 6. Kap., S.19)
Die Katharsis-Lehre von Aristoteles ist
als eine Wirkungslehre konzipiert und seine Ausführungen in der
»Poetik
sind dementsprechend als Antworten auf die Frage zu verstehen,
wie die Tragödie diese Wirkung erzielt.
Die Wirkung der Tragödie: Reinigung der Affekt phóbos und éleos
In der bis heute in der Literaturwissenschaft geführten
Auseinandersetzung, wie die sogenannte Katharsis-Lehre von
Aristoteles zu verstehen ist, spielt die Übersetzung der von
Arístoteles in in seiner berühmten Tragödiendefinition
verwendeten Begriffe phóbos(altgr.
Φόβος )
und éleos
(altgr.
Ἔλεος) eine
zentrale Rolle.
Dabei dreht es sich meistens um den
Vergleich der aristotelischen Katharsis-Lehre mit ▪
Gotthold Ephraim
Lessings (1729-1781)
▪
Wirkungslehre, die der aristotelischen Katharsis mit ihrer
Mitleidslehre "einen moralischen Sinn" verleiht, "ohne die
affektive Komponente aufzugeben." (Fick
2010, S.349)
So sind für ▪
Wolfgang Schadewaldt (1900-1975) der Mitte des vorigen
Jahrhunderts mit seinem Aufsatz
"Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen
Tragödienansatzes" (1955) die sogenannte altphilologische
Lessing-Debatte ausgelöst hat, phóbos
und éleos natürliche und kognitiv
nicht verarbeitete Elementareffekte (vgl.
1955,
S.537), die von den Griechen, dem Triebhaften zugehörend, als
etwas die menschliche Existenz und den gesellschaftlichen
Zusammenhalt Bedrohliches angesehen worden seien.
Die Reinigung (Katharsis), von der bei
Aristoteles die Rede sei, erfolge in einem Prozess, wie Monika
Fick
(2010, S.559) formuliert, "der primär unreflektierte Gefühle
involviere und daher affektgebunden sei." Diese
Affektgebundenheit der Katharsis stehe in der Konsequenz damit
der Vorstellung prinzipiell entgegen, die annehme, Aristoteles
habe in der kathartischen Wirkung ein Konzept gesehen, zur
sittlichen Vervollkommnung oder moralischen Charakterbildung
beizutragen. Stattdessen sei, so gibt Fick den Gedankengang
Schadewaldts wieder, "der Katharsis-Begriff bei Aristoteles
(...) doppelt konnotiert. Zum einen sei er nicht loszulösen von
seiner wörtlichen medizinischen Bedeutung und meine eine
»Entlastung« von den störenden Gemütsbewegungen. Zum anderen
wolle Aristoteles mit der »Katharsis« auf das spezifische
Vergnügen verweisen, das die Tragödie durch die Erregung und
Befreiung von Leidenschaften bewirke." (Hervorh. d. Verf.)
Die traditionelle, altphilologische
Betrachtung der Katharsis
Auch wenn dem Katharsis-Verständnis Schadewaldts und auch
Fuhrmanns
(1973/1994) unter anderem vorgehalten wurde, damit werde
durch die behauptete Affektgebundenheit und den Verzicht auf
eine kognitive Komponente bei der Katharsis die Wirkung der
Tragödie "auf die Sensation, den Angriff auf die Nerven,
reduziert" (so
Friedrich (1963) in der Darstellung von
Fick
2010, S.339), ist die in der altphilologischen Tradition
stehende Betrachtung der Katharsis-Lehre in ihrem Kern immer
noch ein geeigneter Ansatz zum Verständnis ihrer Prinzipien.
Dies gilt sogar dann, wenn vehement eingefordert wird, die
beiden zentralen Termini éleos und phóbos statt mit
"Jammer und Schauder" (Schadewaldt) bzw. "Jammer und Schrecken"
(Fuhrmann) mit "Mitleid und Furcht", wie Lessing es tat, zu
übersetzen, um die Tragödie nicht zu einem Jahrmarktspektakel zu
machen. (vgl.
Dreßler 1996 in der Darstellung von
Fick
2010, S.339).
Die Wirkung der Tragödie besteht nach Aristoteles in der
Erregung
und Reinigung der Affektzustände Schrecken (gr. phóbos, Schauder)
und Jammer (gr. éleos, Rührung), denen in der
Gesamtheit von Affekten eine Schlüsselstellung zugewiesen wird. (vgl.
Fuhrmann
1973/1994, S.162)
-
Schrecken (phóbos,
Schauder) steht dabei wohl für "den Affekt des Erschreckens"
(ebd.,
S.163), einen "heftige(n) Erregungszustand" (ebd.)
und weniger für "eine lang anhaltende Gestimmtheit" (ebd.)
wie dies der Begriff der Furcht ausrückt.
konnotiert
wurde.
-
Jammer
(éleos, Erbarmen, Rührung) steht dabei "für einen heftigen,
physisch sich äußernden Affekt" (ebd.,
S.162), der auch häufig mit Bedeutungen wie "Klagen, Zetern
und Wehgeschrei" (ebd.)
konnotiert
wurde. Dabei hat der Jammer bei Aristoteles auch eine
ethische Dimension: Da er eine Reaktion auf ein großes Übel
ist, das jemanden unverdient treffe, nehme der Rezipient der
Tragödie in diesem Affektzustand an, "dass das Übel auch ihn
selbst oder eine im nahestehende Person treffen könne." (ebd.)
Für
größere Darstellung bitte an*klicken*tippen! Reinigung bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie Mäßigung von
Gefühlszuständen (Affekten, "Trieben").
In der Praxis der Tragödienrezeption bedeutet dies, dass durch den
kathartischen Prozess der Zuschauer, der durch die Darbietungen in ein
nur schwer kontrollierbare Gefühlslage gerate, in der er
bestimmten Affekten freien Lauf lassen konnte (vgl.
Fuhrmann
1994, S.165), wieder in seine affektive Normallage gebracht wird, in
der es ihm möglich ist, seine Affekte zu kontrollieren und auf das auf
das rechte Maß (»Mesotes-Lehre)
zurückzuführen. Im Setting der Tragödienrezeption beurteilte Aristoteles
die dabei auftretenden Affekte Schrecken und Jammer als mehr oder
weniger harmlose Vergnügen, zumal der Zuschauer das Theater nicht (aber
auch nach abgeschlossener Lektüre nicht) in diesen "künstlich"
evozierten Affektzuständen verließ, sondern gerade deren Reinigung
(Katharsis) als "lustvoll" erlebte.
Im Übrigen tat ja das nach den im ▪
Dramenwettstreit der Tragödien jeweils nach einer ▪
Tetralogie stets
aufgeführte burleske und befreiende ▪
Satyrspiel das Übrige, um
die Zuschauerinnen und Zuschauer im weiten Rund der großen
Freilichttheater wieder heiter gestimmt zu entlassen.
Ob und inwieweit Aristoteles der kathartische Wirkung auch über den
Prozess der Tragödienwirkung hinaus Wirksamkeit für die sittliche
Vervollkommnung des Menschen im Rahmen seiner ▪
eudaimonistischen Vorstellungen zugesprochen hat, ist nicht
eindeutig belegbar.
Da er aber die Wirkungen der Tragödie an bestimmte Inhalte, insbesondere
sein Modell des Helden bindet, kann man wohl bis zu einem gewissen Grade
davon ausgehen, "dass die an sittlich-religiöse Voraussetzungen
gebundene Katharsis eben diese Voraussetzungen bekräftigen sollte; es
oblag ihr also, jene conditio human einzuschärfen, dies sich gerade im
Sturz des tüchtigen, aber eingeschränkten und fehlbaren Mannes
bekundet." (ebd.,
S.166)
Wie sich Aristoteles daher "das Verhältnis von »Entladung« und »sittlicher
Läuterung«" (ebd.)
vorgestellt hat, bleibt also letztlich ungeklärt.
-
Ob die kathartische Reinigung des Affektes
Schrecken in der
Tragödie den Menschen, in Umkehrung der Befürchtungen seines Lehrers
»Platon
(428/427-348/347 v. Chr.) gerade von einem Übermaß an sozial
eingeübter sozialer Ansprechbarkeit befreien (Affektabfuhr), und den
Menschen vor der von Platon befürchteten "Gefühlsduselei"
bewahren sollte, wirkt daher zwar plausibel, ist aber längst
nicht sicher.
-
Und ebenso
die Vorstellung der Jammer durch die "Reinigung"
wieder in die konkrete "Normallage" zurückgeführt werden,
die sich bei diesem Affekt stets in der Mitte zwischen
nötiger Überlebenstechnik und übertriebener Ängstlichkeit
einpendeln müsse.
Und ob sich Schrecken in
dem Sinne, wie ihn Aristoteles versteht, beim Zuschauer durch das Betrachten eines
Theaterstückes tatsächlich einstellt, scheint allerdings mehr als
fraglich. Denn dass der Zuschauer wirklich, und
zwar so persönlich-konkret von dem Tragödiengeschehen betroffen ist,
dass er beim Zusehen beginnt, sich zu fürchten, ist eher
unwahrscheinlich.
Es sei denn: Furcht wird, wie es später ▪
Lessing (1729-1781)
mit seiner ▪
Umdeutung der aristotelischen Tragödientheorie
tut, als Mitfurcht interpretiert, was dann automatisch ein Mitleiden mit
dem anderen einschließt.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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