Die Begriffe Geschichte, Handlung und
Geschehen werden im Allgemeinen recht willkürlich und dementsprechend
mit einem teils sehr verschiedenen Bedeutungsinhalt bei der Analyse von
erzählenden und
dramatischen Texten
verwendet.
Zieht man noch in Betracht, dass diese Begriffsverwendungen
häufig vom alltags- bzw. normalsprachlichen Gebrauch der Begriffe überlagert
ist, werden die Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Begriffen als
Fachtermini noch erhöht.
Geschichte
In der Alltagssprache spricht man von einer Geschichte, wenn man eine
unangenehme Angelegenheit oder ein unangenehmes Geschehen bezeichnen will
("Mach keine Geschichten!").
Zugleich sagen wir, dass wir eine Geschichte
erzählen, wenn wir den Verlauf von Ereignissen oder Tätigkeiten schildern.
Und von Geschichte sprechen wir natürlich auch, wenn wir den, auf einen
geografischen Raum bezogenen, politischen, gesellschaftlichen oder
kulturellen Entwicklungsprozess einer menschlichen Gesellschaft meinen.
Dramatischen und epischen Texten liegt nach
Pfister (1977, S.265) eine
Geschichte zugrunde. Eine Geschichte entsteht aus der Kombination dreier
Elemente. Vorhandensein muss
-
ein oder mehrere menschliche
Subjekte oder vermenschlichte Subjekte
-
eine gewisse zeitliche Dauer
-
ein räumlicher Bezug bzw. eine
räumliche Ausdehnung
Im Bezug auf epische oder dramatische Texte wird der Begriff Geschichte
daher auf die Ebene des Dargestellten angewendet und stellt keine
Beschreibung einer bestimmten Darstellungsform bzw.
Textsorte dar. Daher lassen
sich epische und dramatische Texte auch nicht mit dem Begriff Geschichte
voneinander unterscheiden; denn beiden liegt eine Geschichte zugrunde.
Im Unterschied zu den Begriffen
Fabel und
Plot, aber auch dem
Mythos-Begriff von
Aristoteles (384-322 v.
Chr.), "beinhaltet die Geschichte das rein chronologisch geordnete
Nacheinander der Ereignisse", während die
Fabel, aber mit gewissen
Einschränkungen auch der Begriff plot, schon "wesentliche Aufbauelemente"
enthält wie kausale Zusammenhänge oder andere Bezüge, die zur Sinnstiftung
und Kohärenz der Geschichte
beitragen, oder auch "Phasenbildung, zeitliche und räumliche
Umgruppierungen usw." (ebd.,
S. 266)
Handlung und Geschehen
Der Begriff Handlung weist in der Alltagssprache nicht so viele
Bedeutungen auf wie der Begriff
Geschichte.
Gemeinhin
versteht man unter Handlung eine bewusst ausgeführte Tat. Das Merkmal der
Intentionalität des Handelns, das einem Subjekt eigen ist, das beim Handeln
oder auch Nichthandeln Wahlfreiheit besitzt, ist auch Grundlage der
literaturwissenschaftlichen Verwendung. Handlung ist nach
A. Hübler (1973, S. 20) dabei
eine "absichtsvoll gewählte, nicht kausal bestimmte Überführung einer
Situation in eine andere", während die anderen Formen oder Bestandteile von
Geschichte als Geschehen bezeichnet werden. Handlungen sind es daher nicht, die den Begriff Geschichte konstituieren,
sie sind allerdings als einzelne Handlung oder als Handlungssequenz Teil der
Geschichte, die folgerichtig auch aus Geschehen bestehen kann.
Gerade im
Bereich dramatischer Texte gibt es eine ganze Reihe von handlungsarmen
Dramen (sogar ▪
Goethes
▪
Drama
▪ »Egmont«
gilt in gewisser Hinsicht als solches), bei denen Dinge geschehen und eine
Reihe von Einzelhandlungen ausgeführt werden, ohne dass menschliches Tun und
Verhalten situationsverändernde Kraft besitzt.
▪
Literaturgeschichtlichen
Niederschlag hat die Dominanz des Geschehens über die Handlung vor allem an
der Schwelle zur Moderne gefunden, nämlich in der
▪
Literaturepoche des
▪
Naturalismus (1890-1910).
Durch dessen "geistes- und sozialgeschichtlich bedingte Figurenkonzeption
des nicht autonom über sich verfügenden, sondern genetisch und sozial
determinierten und damit zu einer intentionalen Wahl nur begrenzt fähigen
Individuums" wird nämlich "die Möglichkeit von Handlung entscheidend
eingeschränkt und das Geschehen, das sich am Menschen und mit den Menschen
vollzieht, zum dominanten Paradigma von Geschehen." (ebd.,
S. 270f.)
Besonders stark ausgeprägt ist die Dominanz des Geschehens im modernen
Einakter wie dem von »»Samuel
Beckett (1906-1989), dessen Figuren wie in »»"Warten
auf Godot" zwar verbalen und gestischen Beschäftigungen
nachgehen, aber ohne dass sich aus diesen eine Situationsveränderung ergäbe.
Ihr "Handeln" verkommt dabei zu einem "zeitvertreibenden Spiel", "das
selbstzweckhaft und ziellos in sich kreist." (ebd.,
S. 271)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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