Arten von Perspektiven in einem
dramatischen Text
In einem ▪ dramatischen Text kann man
grundsätzlich zwei verschiedene Perspektiven unterscheiden, die
auf vielfältige Art und Weise bei der ▪
dramatischen Kommunikation zusammenwirken.
Auf dieses Zusammenwirken und insbesondere die Frage, wie der
dramatische Text dafür sorgt oder sorgen will, dass der
Zuschauer / Leser aus der/den Figurenperspektive(n) erschließen
bzw. erkennen kann, welche Aussage der Text insgesamt gestaltet
oder worauf der Text eigentlich hinauswill, steht im Zentrum der
Analyse der Perspektiven und der Perspektivenstruktur von
dramatischen Texten.
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Figurenperspektiven
Auf der ▪
Ebene des inneren Kommunikationssystem, der Kommunikation
der Figuren miteinander, hat man es im ▪
Haupttext
des Dramas mit der Perspektive einer, mehrerer oder einer
Vielzahl von Figuren zu tun, die ihren ganz eigenen, von ihrem ▪
Wissen, ihren psychischen
Dispositionen und ideologischen Orientierungen abhängigen Blick
auf das dramatische Geschehen, auf Vorgeschichte und
plot, sowie auf
andere Figuren haben.
Die Figuren führen ihre Perspektive, wenn man so will, mit ihrer
Figurenrede sprachlich vor, werden aber auch außersprachlich,
ohne Rückbezug auf ihr perspektivierendes Bewusstsein dem
Zuschauer quasi a-perspektivisch "perspektiviert". Dies
geschieht durch figurenbezogene oder handlungsbezogene
Steuerungstechniken, mit denen dem Zuschauer / Leser die
auktorial-intendierte Rezeption der Figurenperspektive
nahegelegt wird.
Die von den Figuren eingenommene Perspektive ist aber nur in
besonderen, zum Teil dramengeschichtlich gut belegten Fällen mit
der auktorial intendierten Rezeptionsperspektive gleichzusetzen:
Figuren sind, so verallgemeinern wir das an dieser
Stelle, also in den meisten Fällen
kein Sprachrohr des Autors.
-
Figurenbezogene
Steuerungstechniken sind die unterschiedlichen Aspekte
des ▪ plurimedialen dramatischen
Textes, die sich aus dessen unterschiedlichen ▪
Codes und Kanälen ergeben z.
B. Statur, Aussehen, Physiognomie, mimisch-gestisches
Verhalten, Sprach- und Sprechqualitäten, Kostüme, Requisiten
und Bühnenbild usw. beziehen. Aber natürlich spielt auch das
Gesamtverhalten einer Figur dabei eine Rolle. Ebenso tragen
auch
sprechende Namen als "auktoriales Bewertungssignal" (Pfister 1977, S.94)
dazu bei, wie ein Rezipient "die einzelnen
Figurenperspektiven in die intendierte Rezeptionsperspektive
zu integrieren hat." (ebd., S.95)
-
Handlungsbezogene Steuerungstechniken zielen z. B.
durch die Gestaltung eines glücklichen oder unglücklichen
Handlungsausgangs darauf, bestimmte Figurenperspektiven im
Nachhinein als "richtige", andere als fehlorientierte und
falsche auszuweisen. So schafft der dramatische Text am Ende
so etwas wie "poetische Gerechtigkeit". (ebd., S.95)
Dabei kann die Perspektive einer Figur gleichrangig mit
der anderer sein oder unter- bzw. übergeordnet sein.
Übergeordnet ist sie dann, wenn sie Träger einer vermittelnden
Erzählfunktion wird, das, was sie sagt, also nicht im dem
konkreten Gespräch mit dem jeweiligen Dialogpartner aufgeht,
sondern mit den Informationen, die sie gibt, sich mehr oder
weniger konkret an den Zuschauer bzw. Leser wendet, um diesem
seine Sicht der Dinge nahezulegen. Damit erlangt das, was sie
(in dieser oder u. U. auch in anderen Situationen) sagt, auch
eine höhere Verbindlichkeit. (vgl.
Pfister 1977, S.92)
Dabei kann die Überordnung einer Figurenperspektive nur
punktuell realisiert werden oder aber durch ein strukturell
institutionalisiertes Vermittlungssystem etabliert werden.
-
Punktuell konstituiert sie sich
durch eine Figur, die z. B. das insbesondere beim
geschlossenen Drama beliebte
Beiseite-Sprechen praktiziert oder die einen Monolog
ad spectatores
spricht.
-
Als
strukturell institutionalisiertes Vermittlungssystem
können einzelne Figuren z. B. als das Spiel kommentierende
Spielleiter fungieren. Ebenso können dies aber ein Kollektiv
sein wie der ▪ Chor in der
▪ antiken Tragödie, allegorische Figuren im
spätmittelalterlichen Moralitätendrama bis hin zu
Songeinlagen wie im
epischen Theater.
Auktorial intendierte
Rezeptionsperspektive
In einem Drama "konkurrieren" oftmals mehrere Perspektiven
miteinander, an denen der Zuschauer durch die dramatische Rede
der Figuren und außersprachliche, a-perspektivische Mittel der "Perspektivierung"
teilhat.
Damit es nicht gänzlich ins Belieben des Lesers / Zuschauers
gestellt bleibt, welcher der Figurenperspektiven auf das
dramatische Geschehen er folgt, gibt es im dramatischen Text
eine Reihe von Möglichkeiten, wie der Rezeptionsprozess
gesteuert werden kann.
Aus dem Verhältnis zwischen der auktorial intendierten und
der Figurenperspektive(n) ergeben sich drei verschiedene
idealtypische Perspektivenstrukturen für dramatische Texte:
-
A-perspektivische
(Perspektiven-)Struktur
Bei ganz wenigen "Extremformen" des Dramas (z. B. im
spätmittelalterlichen allegorischen Moralitätenspiel)
sprechen die Figuren mehr oder weniger genau das aus, worum
es dem Autor geht. Mit dem, was sie sagen, appellieren sie
eigentlich direkt an den Leser bzw. den Zuschauer.
In diesem Fall kann man von einer a-perspektivischen
Perspektivenstruktur sprechen, bei der "die intendierte
Rezeptionsperspektive im Text von allen Figuren explizit
formuliert wird." (Pfister 1977, S.101)
Eine "perspektivische Abschattung" (Pfister 1977, S.90)
in Form einer
Polyperspektivität findet nicht statt. Was sich die
Figuren auf der Spielebene vermitteln, wird auch dem
Leser/Zuschauer vermittelt (Monoperspektivität)
-
Geschlossene Perspektivenstruktur
Bei der geschlossenen Perspektivenstruktur muss der
Rezipient, oft kaum durch weitere Textsignale unterstützt,
die auktorial-intendierte Rezeptionsperspektive aus einer
Mehrzahl "konkurrierender" Figurenperspektiven (Polyperspektivität)
selbst erschließen.
Dabei kann es sein, dass er eine der gestaltenden
Figurenperspektiven als die erkennt, die mit der auktorial
intendierten übereinstimmt, oder es bleibt ihm nichts anderes
übrig, als diese aus den vielfältigen Kontrast- und
Korrespondenzbeziehungen der Figuren(perspektiven)
herauszufiltern, d. h. die auktorial intendierte
Rezeptionsperspektive monoperspektivisch zu rekonstruieren.
(vgl.
ebd., S.101)
-
Offene
Perspektivenstruktur
Bei einer offenen Perspektivenstruktur wird der Leser /
Zuschauer mit der Aufgabe weitgehend alleine gelassen, wie
er mit den "konkurrierenden" Figurenperspektiven (Polyperspektivität)
umgehen soll. Es werden ihm also keine Hinweise gegeben, wie
er/sie das machen soll, und oft werden ihm/ihr sogar
widersprüchliche Angaben gemacht oder widersprüchliche
Signale gegeben, so dass das Verhältnis der
Figurenperspektiven zueinander im Dunkeln und stets
ambivalent bleibt.
Dadurch entstehen aber auch "Leerstellen", die man bei der
Rezeption selbst füllen kann, und damit ein Auslegespielraum,
den die beiden anderen Typen nicht gewähren. Diese Offenheit
kann daher auch dazu führen, dass die normative Gültigkeit
bestimmter Perspektiven und Schemata vom Rezipienten ganz
grundsätzlich in Frage gestellt wird. (vgl.
ebd., S.102f.)
Einzelne Techniken
zur Steuerung der Rezeptionsperspektive
Neben den oben
erwähnten figuren- und
handlungsbezogenen außersprachlichen Steuerungstechniken
kann die auktorial intendierte Rezeptionsperspektive auch mit
weiteren Techniken im dramatischen Text etabliert werden.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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