Bericht als Erzählerbericht i. e. S. nach Lämmert (1955)
Die
▪
Erzählweise des
Berichts
(= Erzählerbericht i. e. S.) zeichnet sich nach
Lämmert (1955) durch drei Merkmale aus:
Beispiele
"Vor dem in dem großen und reichen
Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 1820 eröffneten Gasthaus und
Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck (so stand auf einem über der
Tür angebrachten Schilde) wurden Säcke vom Hausflur her auf einen mit
zwei mageren Schimmeln bespannten Bauernwagen geladen. Einige von den
Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen,
und so sah man denn an dem, was herausfiel, dass es Rapssäcke waren. Auf
der Straße neben dem Wagen aber stand Abel Hradscheck selbst und sagte
zu dem eben vom Rad her auf die Deichsel steigenden Knecht: "Und nun
vorwärts, Jakob, und grüße mir Ölmüller Quaas. Und sag ihm, bis Ende der
Woche müsste ich das Öl haben, Leist in Wrietzen warte schon. Und wenn
Quaas nicht da ist, so bestelle der Frau meinen Gruß und sei hübsch
manierlich. Du weißt ja Bescheid und weißt auch, Kätzchen hält auf
Komplimente." Der als Jakob Angeredete nickte nur statt aller Antwort, setzte sich auf
den vordersten Rapssack und trieb beide Schimmel mit einem schläfrigen
"Hüh!" an, wenn überhaupt vom Antreiben die Rede sein konnte. Und nun
klapperte der Wagen nach rechts hin den Fahrweg hinunter, erst auf das
Orthsche Gehöft samt seiner Windmühle (womit das Dorf nach der
Frankfurter Seite hin abschloss) und dann auf die weiter draußen am
Oderbruchdamm gelegene Ölmühle zu. Hradscheck sah dem Wagen nach, bis er
verschwunden war, und trat nun erst in den Hausflur zurück.
(aus: Theodor Fontane, Unterm Birnbaum, Husum: Hamburger Lesehefte
Verlag Nr.154, S.3ff.)
"Hastig stopfte Charlotte ihr Schnupftüchlein
in den Beutel. Sie blinzelte geschwinde und schnob in raschem und
leichtem Schuchzen einwärts mit ihrem geröteten Näschen. Sie liquidierte
auf diese Weise den durch des Kellners Erscheinen aufgehobenen Zustand.
Die Mienen, die sie dazu machte, gehörte dem neuen an: es war eine
ungehaltene Miene." ( aus: 32. Aufl., Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch
1999, S.112)
"Eine Menge
Menschen umlagerte die Eingänge. Überall an den Ecken der in der Nähe
gelegenen Straßen prangten riesige Plakate, die in auffälligen Lettern
ausschrien:
LUCIA VON LAMMERMOOR … OPER … DONIZETTI … GASTSPIEL … LAGARDY …
Es war ein schöner, aber heißer Tag. Der Schweiß rann den Leuten über
die Stirn, und sie fächelten ihren erhitzten Gesichtern mit den
Taschentüchern Kühlung zu. Hin und wieder wehte lauer Wind vom Strome
her und blähte ein wenig die Leinwandmarkisen der Restaurants. Weiter
unten, an den Kais, wurde man durch einen eisigen Luftzug abgekühlt, in
den sich Gerüche von Talg, Leder und Öl aus den zahlreichen dunklen, vom
Rollen der großen Fässer lärmigen Gewölben der Karren-Gasse mischten.
Aus Furcht, sich lächerlich zu machen, schlug Frau Bovary vor, noch
nicht in das Theater hineinzugehen und erst einen Spaziergang durch die
Hafenpromenaden zu machen. Dabei hielt Karl die Eintrittskarten, die er
in der Hosentasche trug, vorsichtig mit seinen Fingern fest und drückte
sie gegen die Bauchwand, so daß er sie in einem fort fühlte. In der Vorhalle bekam Emma Herzklopfen. Als sie wahrnahm, daß sich der
Menschenschwall die Nebentreppen nach den Galerien hinaufschob, während
sie selbst die breite Treppe zum ersten Range emporschreiten durfte,
lächelte sie unwillkürlich vor Eitelkeit. Es gewährte ihr ein kindliches
Vergnügen, die breiten vergoldeten Türen mit der Hand aufzustoßen. In
vollen Zügen atmete sie den Staubgeruch der Gänge ein, und als sie in
ihrer Loge saß, machte sie sichs mit einer Ungezwungenheit einer
Principessa bequem. Das Haus füllte sich allmählich. Die Operngläser kamen aus ihren
Futteralen. Die Stammsitzinhaber nickten sich aus der Entfernung zu. Sie
wollten sich hier im Reiche der Kunst von der Unrast ihres Krämerlebens
erholen, doch sie vergaßen die Geschäfte nicht, sondern redeten noch
immer von Baumwolle, Fusel und Indigo. Das waren Grauköpfe mit
friedfertigen Alltagsgesichtern; weiß in der Farbe von Haar und Haut,
glichen sie einander wie abgegriffene Silbermünzen. Im Parkett
paradierten die jungen Modenarren mit knallroten und grasgrünen
Krawatten. Frau Bovary bewunderte sie von oben, wie sie sich mit
gelbbehandschuhten Händen auf die goldenen Knäufe ihrer Stöcke stützten.
Jetzt wurden die Orchesterlampen angezündet, und der Kronleuchter ward
von der Decke herabgelassen. Sein in den Glasprismen widerglitzerndes
Lichtmeer brachte frohe Stimmung in die Menschen. Dann erschienen die
Musiker, einer nach dem andern, und nun hub ein wirres Getöse an von
brummenden Kontrabässen, kratzenden Violinen, fauchenden Klarinetten und
winselnden Flöten. Endlich drei kurze Schläge mit dem Taktstocke des
Kapellmeisters. Paukenwirbel, Hörnerklang. Der Vorhang hob sich."
(15. Kapitel,
Quelle: Projekt Gutenberg, Übersetzer: Arthur Schurig, Insel-Verlag
Leipzig)
In modernen Erzähltexten kommt es immer wieder zum Fluktuieren zwischen
personalem oder neutral gehaltenem (Erzähler-)Bericht und
erlebter Rede.
Franz Kafka (1883-1924)
macht in seinem Roman "Der
Prozess" ausgiebig davon Gebrauch. Dabei etabliert die erlebte Rede die personale Monoperspektive der
Figur über den ganzen Text hinweg (vgl.
Vogt
1990, S.166-174).
[→HL
5] Jemand musste Josef K.
verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines
Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin,
die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal
nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von
seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn
mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,
gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein
Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war
schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das,
ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen,
Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich
darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien.
»Wer sind Sie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann
aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen,
und sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« »Anna soll mir das
Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch
Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war.
Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte
sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der
offenbar knapp
hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, dass Anna ihm das Frühstück
bringt.« Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang
nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Obwohl der
fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher
gewusst hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: »Es ist
unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch
seine Hosen an. »Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzimmer sind und
wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.« Es fiel ihm
zwar gleich ein, dass er das nicht hätte laut sagen müssen und dass er
dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber
es schien ihm jetzt nicht wichtig.
[...]"
Darbietungsformen in Kafkas Roman "Der Prozess" erkennen→
Lösungsvorschlag
Weitere Formen des Erzählerberichts nach Lämmert
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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