Betrachtungen und Erörterungen nach Lämmert (1955)
Die
Erzählweise der
Betrachtungen
und Erörterungen besitzt nach
Lämmert
(1955) die folgenden Merkmale:
Für größere Ansicht bitte anklicken! Betrachtungen, Reflexionen und Erörterungen des Erzählers zählt
Lämmert
(1995, S.87ff.) zu den zeitlosen (sekundären) Erzählweisen, zu denen
außerdem die besonders stark raffende
Sentenz
und die
Beschreibung,
zählen. Ihr gemeinsames Merkmal, rein für sich betrachtet": "Erzählzeit
ohne erzählte
Zeit". "Im Zusammenhang mit den anderen, zeitlichen Raffungsarten," fährt
Lämmert
(ebd.) fort, "zwischen denen sie in der Erzählung ja stets
auftreten, nehmen sich die zeitlosen Erzählweisen jedoch als plötzliche
Digression der Erzählzeit innerhalb der erzählten Zeit aus. So im
Zusammenhang gesehen, steht die erzählte Zeit zwar still, aber sie ist
doch vorhanden als der Augenblick, an dem wir sie verließen, und als der
Zeitpunkt ihres Wiedereintretens." Die Unterbrechung (Digression) der erzählten Zeit durch Betrachtungen,
Reflexionen, Erörterungen, Beschreibungen usw. kann dabei ganz
unvermittelt erfolgen, oder als Einleitungen vor, als Abschluss nach
oder vor und nach einem Erzähleinschnitt stehen. Eine besondere Rolle spielen Erzählerreflexionen, wie sie im Rahmen der so
genannten Essayfizierung des modernen Romans als Teil der Dekonstruktion
konventioneller Erzählformen vorkommen.
Dieses
essayistische Erzählen wird von
Bleckwenn
(1974/1978, S.124) als "erweiterte Erzähler-Reflexion" bezeichnet.
Sie kann ihrer Auffassung nach im Extremfall, z. B. in
»Brochs
(1886-1952) »Schlafwandler" (1931-32),
zu einer abgeschlossenen Erzähler-Einlage werden, die "funktional
einem Montage-Element vergleichbar" ist (Bleckwenn
1974/1978, S.124). Broch setzt die essayistischen Textpassagen so "schroff
von der epischen Fiktion" ab (Goltschnigg
(1997/2006, S.108), dass
Bleckwenn (1974/1978,
S.124) darin nicht nur eine "Tendenz zur epischen Desintegration" sieht, sondern
auch "eine andersartige Erzählform", welche "die Auffassung des Autors
unmittelbar und eben nicht mehr als Reflexion eines Erzählers wiedergeben."
In Max Frischs (1911-1991) Roman "Homo faber", der in
Buchform erstmals 1957, vier Tage vor dem Start des ersten russischen
Sputnik in das Weltall, erschienen ist, unterbricht der Ich-Erzähler
Walter Faber immer wieder den Erzählfluss seines
Berichts
über zeitliche Vorgänge mit Reflexionen über sich, andere
Personen und die Welt. Der Roman, den Max Frisch im Untertitel "Bericht"
nennt, um die Authentizitätsillusion des Erzählten zu steigern und
zugleich zu unterstreichen, dass die Berichtsform der
naturwissenschaftlich-rationalen Sichtweise des Ich-Erzählers entspricht,
"berichtet" der Erzähler auf mehren Zeitebenen über die letzten vier
Monate seines Lebens. Dabei werden die im Text verschachtelten Handlungs-
und Reflexionselemente so aneinander gereiht, wie sie dem Ich-Erzähler
assoziierend ins Bewusstsein kommen. Auch wenn die Verwendung der Tempora Präsens und Präteritum innerhalb des
Romans, mitunter sogar innerhalb eines einzigen Satzes wechselt, taucht es
in den Reflexionspassagen im Homo faber stets auf. Das hängt mit seiner
Funktion zusammen, sollen doch diese Passagen Allgemeingültigkeit ihrer
enthaltenen Aussagen ausdrücken, eine Wahrheit gewissermaßen zeitlos
darbieten. Während eines krankheitsbedingten Hotelaufenthalts in Caracas
(20.6.-8.7.57), während der "ersten Station", macht sich Walter Faber nach
seinem Bericht über die "zufällige" Wiederbegegnung mit Sabeth, seiner
eigenen Tochter, von deren Existenz er zu diesem Zeitpunkt jedoch nichts
weiß, und vor seinem "Bericht" über die Autoreise nach Italien, Gedanken
über den Schwangerschaftsabbruch. Seine Reflexionen darüber sind für ihn
ein Mittel zur Selbstrechtfertigung und Abweisung jeglicher Schuld für den
Inzest und den Tod der eigenen Tochter Sabeth, von deren Existenz er in
den davor liegenden zwei Jahrzehnten keine Kenntnis besessen hatte; denn
als seine Beziehung mit Hanna, die in 1936 ein Kind erwartetet hatte,
auseinander gegangen war, war der Schwangerschaftsabbruch zunächst
beschlossene Sache gewesen. Im nachfolgenden Textauszug zeigt sich die
"Rollensprache" Walter Fabers, der sich vollständig mit dem Bild des
Technikers identifiziert ("Wir
leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als
Ingenieur"). Charakteristisch dafür sind außerdem die
zahlreichen Fragen, die der Ich-Erzähler aufwirft. Sofern sie nicht nur
rhetorische Funktion
haben
("Wo
kämen wir hin ohne Schwangerschaftsunterbrechungen?", will
er mit ihrer Hilfe Einwände vorweg entkräften. Weitere Merkmale dieser
Rollensprache sind
elliptische Satzkonstruktionen
("Schluss
mit Romantik.") ,
asyndetische Reihung ("Verdreifachung
der Menschheit in einem Jahrhundert. Früher keine Hygiene.")
und
Emphasen ("Weil
Schicksal! Dann auch keine Glühbirne, keinen Motor, keine Atom Energie,
keine Rechenmaschine, keine Narkose dann los in den Dschungel!")
Seit
ich weiß, wie alles gekommen ist, vor allem angesichts der Tatsache,
dass das junge Mädchen, das mich in die Pariser Opéra begleitete,
dasselbe Kind gewesen ist, das wir beide (Hanna auch) mit Rücksicht auf
unsere persönlichen Umstände, ganz abgesehen von der politischen
Weltlage damals, nicht hatten haben wollen, habe ich mit mehreren und
verschiedenartigen Leuten darüber gesprochen, wie sie sich zur
Schwangerschaftsunterbrechung stellen, und dabei festgestellt, dass sie
(wenn man es grundsätzlich betrachtet) meine Ansicht teilen.
Schwangerschaftsunterbrechung ist heutzutage eine
Selbstverständlichkeit. Grundsätzlich betrachtet:
Wo kämen
wir hin ohne Schwangerschaftsunterbrechungen?
Fortschritt in Medizin und
Technik nötigen gerade den verantwortungsbewussten Menschen zu neuen
Maßnahmen.
Verdreifachung der Menschheit in einem Jahrhundert. Früher keine
Hygiene. Zeugen und gebären und im ersten Jahr sterben lassen, wie
es der Natur gefällt, das ist primitiver, aber nicht ethischer.
Kampf gegen
das Kindbettfieber. Kaiserschnitt. Brutkasten für Frühgeburten. Wir
nehmen das Leben ernster als früher. Johann Sebastian Bach hatte
dreizehn Kinder (oder so etwas) in die Welt gestellt, und davon lebten
nicht 50% Menschen sind keine Kaninchen, Konsequenz des Fortschritts:
wir haben die Sache selbst zu regeln. Die drohende Überbevölkerung
unserer Erde. Mein Oberarzt war in Nordafrika, er sagt wörtlich: Wenn
die Araber eines Tages dazu kommen, ihre Notdurft nicht rings um ihr
Haus zu verrichten, so ist mit einer Verdoppelung der arabischen
Bevölkerung innerhalb von zwanzig Jahren zu rechnen. Wie die Natur es
überall macht: Überproduktion, um die Erhaltung der Art sicherzustellen.
Heiligkeit des Lebens! Die natürliche Überproduktion (wenn wir
drauflosgebären wie die Tiere) wird zur Katastrophe; nicht Erhaltung der
Art, sondern Vernichtung der Art. Wie viel Menschen ernährt die Erde?
Steigerung ist möglich, Aufgabe der Unesco: Industrialisierung der
unterentwickelten Gebiete, aber die Steigerung ist nicht unbegrenzt.
Politik vor ganz neuen Problemen. Ein Blick auf die Statistik: Rückgang der Tuberkulose
beispielsweise, Erfolg der Prophylaxe, Rückgang von 30% auf 8%.
Der liebe Gott! Er machte es mit Seuchen;
wir haben ihm die Seuchen aus der Hand genommen.
Folge davon: wir müssen ihm auch die Fortpflanzung aus der Hand
nehmen. Kein Anlass zu Gewissensbissen, im Gegenteil: Würde des
Menschen, vernünftig zu handeln und zu entscheiden. Wenn nicht, so
ersetzen wir die Seuchen durch Krieg. Schluss mit Romantik.
Wer die Schwangerschaftsunterbrechung grundsätzlich ablehnt, ist
romantisch und unverantwortlich. Es sollte nicht aus Leichtsinn
geschehen, das ist klar, aber grundsätzlich: wir müssen den
Tatsachen ins Auge sehen, beispielsweise der
Tatsache, dass die Existenz der Menschheit nicht zuletzt eine Rohstoff
Frage ist. Unfug der staatlichen Geburtenförderung in faschistischen
Ländern, aber auch in Frankreich.
Frage des Lebensraumes. Nicht zu vergessen die Automation: wir
brauchen gar nicht mehr so viele Leute. Es wäre gescheiter,
Lebensstandard zu heben. Alles andere führt zum Krieg und zur totalen
Vernichtung.
Unwissenheit, Unsachlichkeit noch immer sehr verbreitet.
Es sind
immer die Moralisten, die das meiste Unheil anrichten.
Schwangerschaftsunterbrechung: eine Konsequenz der Kultur, nur der
Dschungel gebärt und verwest, wie die Natur will. Der Mensch plant. Viel
Unglück aus Romantik, die Unmenge katastrophaler Ehen, die aus bloßer
Angst vor
Schwangerschaftsunterbrechung
geschlossen werden heute noch.
Unterschied
zwischen Verhütung und Eingriff? In jedem Fall ist es ein
menschlicher Wille,
kein Kind zu haben. Wie viele Kinder sind wirklich gewollt? Etwas
anderes ist es, dass die Frau eher will, wenn es einmal da ist,
Automatismus der Instinkte, sie vergisst, dass sie es hat vermeiden
wollen, dazu das Gefühl der Macht gegenüber dem Mann, Mutterschaft als
wirtschaftliches Kampfmittel der Frau.
Was heißt Schicksal? Es ist lächerlich, Schicksal ableiten zu
wollen, aus mechanisch physiologischen Zufällen, es ist eines modernen
Menschen nicht würdig. Kinder sind etwas, was wir wollen,
beziehungsweise nicht wollen. Schädigung
der Frau? Physiologisch jedenfalls nicht, wenn nicht Eingriff durch
Pfuscher; psychisch nur insofern, als die betroffene Person von
moralischen oder religiösen Vorstellungen beherrscht wird. Was wir
ablehnen: Natur als Götze! Dann müsste man konsequent sein: dann auch
kein Penicillin, keine Blitzableiter, keine Brille, kein DDT, kein Radar
und so weiter.
Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch
als Ingenieur, und wer dagegen redet, der soll auch keine Brücke
benutzen, die nicht die Natur gebaut hat. Dann müsste man schon
konsequent sein und jeden Eingriff ablehnen, das heißt:
sterben an jeder
Blinddarmentzündung. Weil Schicksal! Dann auch keine Glühbirne,
keinen Motor, keine Atom Energie, keine Rechenmaschine, keine Narkose
dann los in den Dschungel! (aus: Max Frisch, Homo faber, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 105 107)
Weitere Formen des Erzählerberichts nach Lämmert
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
|