Die Gedanken einer Figur in erlebter Rede
Wenn
der Erzähler bzw. die Erzählinstanz die • Gedanken
einer Figur wiedergeben will, kann der dies auf •
verschiedene Art und Weise tun. Eine der
Möglichkeiten, mit denen er dies tun kann, ist die so genannte •
erlebte Rede.
Der etwas seltsam
klingende Begriff soll dabei nicht die Erlebnisqualität des Redens
veranschaulichen, sondern signalisieren, dass es sich um einen
besonderen
Modus
des Erzählens handelt, der auf seine Art und Weise besonders ist, anders
jedenfalls in Form und Wirkung als die anderen •
Formen der Rede- und Gedankenwiedergabe, die einem Erzähler zur
Verfügung stehen.
Grundsätzlich eignet sich erlebte Rede generell besonders gut zur
Vermittlung subjektiver, flüchtiger,
in sich widersprüchlicher, affektiv geprägter Zustände, Phasen und
Reflexe der Psyche (vgl.
Vogt
1990, S.166-173). Diese "besondere Eignung der erlebten Rede zur
Darstellung des Affektischen und Intimen macht ihren psychologischen
Tiefgang aus. Sie will das zaghaft Gesprochene, das blitzartig durchs
Bewusstsein Zuckende, das nicht zu Ende Gedachte erfassen. Alles scharf
Umrissene, logisch Formulierbare, mit Bedacht Gesprochene ist ihr von
Natur aus fremd und könnte besser in der Form der direkten oder indirekten
Rede ausgedrückt werden. Dem Autor, der die erlebte Rede verwendet, ist es
darum zu tun, ein direktes Schlaglicht auf die geistig‑seelische Situation
seiner Figur zu werfen." (Hoffmeister
1965, S.22)
Ältere Erzähltheorie
In der
älteren
Erzähltheorie gehört die erlebte Rede zur Gruppe der ▪
Darbietungsformen der Figuren- bzw. Personenrede und kann sowohl
Gesprochenes als auch Gedachtes umfassen.
Grundsätzlich zeichnet sich die erlebte Rede, in den Kategorien der
älteren
Erzähltheorie gesprochen, durch ihre eigentümliche Stellung zwischen
▪
Erzählerbericht
und
▪
innerem Monolog aus,
die immer wieder • miteinander verglichen
werden. Sie ist "eine von Einführungen unabhängige mittelbare Rede, eine »freie
indirekte Rede«" (Steinberg
1971, S.357)
Neuere Erzähltheorie
In
der
neueren
Erzähltheorie wird die Sache im strukturalistisch motivierten
Bestreben nach möglichst großer kategorialer Differenzierung
differenzierter betrachtet. Dazu unterscheidet sie bei der • Darstellung von Rede und mentalen Vorgängen
zwischen der ▪
Darstellung/Erzählung von gesprochenen Worten und
der ▪
Darstellung/Erzählung von Gedanken.
Die
erlebte Rede als
Modus
des Erzählens zur Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten bzw. Gedanken
einer Figur durch den Erzähler wird als eine Form der ▪
transponierten Rede aufgefasst, zu der noch die
▪ indirekte Figurenrede
(als indirekte Gedankenrede)
gezählt wird.
Transponiert bedeutet in diesem Zusammenhang, dass
die Figuren- bzw. Gedankenrede nicht
eigentlich erzählt oder
zitiert wird, sondern in einen anderen Modus "verschoben" oder
"übertragen" wird, der besondere Eigenschaften besitzt und sich vom
narrativen
und
dramatischen Modus
des Erzählens abgrenzen lässt.
Um die erlebte Rede
bei der • Darstellung von Rede und mentalen
Vorgängen in einem
▪ erzählenden Text
identifizieren zu können, kann man sich auf verschiedene •
(Grund-)Merkmale und eine
ganze Reihe • weiterer
Indikatoren stützen.
Als Form der ▪
transponierten Rede wird
die erlebte Rede bei der • Darstellung von Rede und
mentalen Vorgängen, unabhängig davon, ob es sich um die ▪
Wiedergabe von Gesprochenem oder ▪
Gedachtem handelt, in der 3.
Person (selten auch in der 1. Person) Indikativ Präteritum ohne redeeinleitendes Verb (verbum dicendi)
gestaltet.
Der besondere Reiz dieser Darstellung besteht darin, dass auf der
Grundlage einer Art Zwischenstellung zwischen direkter und indirekter
Rede im Gegensatz zur indirekten Figurenrede der individuelle Stil
der eigentlichen Figurenrede deutlicher hervortritt. Zugleich kommt es
im Unterschied zum
• Inneren Monolog und dem •
Bewusstseinsbericht zu einer
Vermischung der "unterschiedlichen Sprech- und Wahrnehmungsorte von
erzählendem Subjekt und erlebenden Figur". (Martínez/Scheffel
112019, S.220)
Allerdings ist bei der •
Verwendung
der erlebten Rede in nichtfiktionalen Texten eine gewisse Vorsicht
geboten, da es dabei leicht zu Missverständnissen kommen kann, wenn
entsprechende Passagen von den Rezipienten/Zuhörern "dem Redner selbst
zugeschrieben und als Rechtfertigung der beschriebenen Einstellung
gedeutet" werden, weil sie "die erlebte Rede nicht als
Personenrede
erkannt (...) haben". (Vogt
1990, S.177)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.04.2025
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